Michaela Karl: Ich würde so etwas nie ohne Lippenstift lesen – Maeve Brennan (2019)

Nur kurz war ich angesichts der nervigen Leserinnenansprache im Prolog skeptisch, ob das mit Michaela Karls Biografie zu Maeve Brennan und mir was werden kann, doch es dauerte nicht lange, da hatte mich Karl am Wickel und ich mindestens drei neue Titel auf meiner Wunschliste.

Maeve Brennan, die 1917 in Dublin geboren wurde, beginnt ihre Karriere als Modejournalistin bei Harper‘s Bazaar, bis sie schließlich zu den wichtigsten literarischen Stimmen bei der legendären Zeitschrift The New Yorker zählt. 

Ihre Eltern kämpften aktiv für die irische Unabhängigkeit und dementsprechend unruhig verlief Brennans Kindheit. Doch 1934 wird ihr Vater als Legationsrat der irischen Gesandtschaft nach Washington D.C. berufen. Die ganze Familie siedelt nach Amerika über, als Maeve 17 Jahre alt ist. Sie wird nie wieder dauerhaft in Irland leben. Trotz Schuldgefühlen ihrer Familie gegenüber wird sie sich von den einengenden katholischen Wertvorstellungen ihrer Familie und der irischen Gesellschaft lossagen. Noch 1937 heißt es in Artikel 41.2 der irischen Verfassung:

Der Staat anerkennt insbesondere, dass die Frau dem Staat durch ihr Leben in der häuslichen Gemeinschaft eine Stütze verleiht, ohne die das allgemeine Wohl nicht erlangt werden kann. […] Der Staat wird sich daher auch bemühen sicherzustellen, dass Mütter nicht aus wirtschaftlicher Notwendigkeit gezwungen werden, zum Schaden ihrer häuslichen Pflichten Arbeit aufzunehmen. (S. 73)

Für eine ihre Unabhängigkeit streng verteidigende Frau wie Brennan, die ihre Arbeit liebt, sicherlich keine verlockende Perspektive, stattdessen nutzt sie ihre Privilegien in Amerika und studiert englische Literatur und Bibliothekswesen. Doch während ihres Masterstudiums verlässt sie wegen Walter Kerr, der sie bereits während ihrer Verlobungszeit mit seiner späteren Frau betrügt, die Universität ohne Abschluss. Und so flüchtet Brennan Anfang der vierziger Jahre nach New York, Manhattan. Dort arbeitet sie zunächst als Bibliothekarin.

Maeve besinnt sich ihres großen Schreibtalents, das sich schon in Schule und Universität zeigte. Heimlich beginnt sie an einer Geschichte zu schreiben, zu kurz für einen Roman, zu lang für eine Kurzgeschichte. Zu ihren Lebzeiten wird niemand von dieser ersten großartigen Novelle erfahren, die erst nach ihrem Tod veröffentlicht wird. 1997 wird Die Besucherin in den Archiven der University of Notre Dame gefunden. (S. 66)

1943 beginnt sie als Werbetexterin bei Harper‘s Bazaar, der 1867 erstmalig erschienenen Modezeitschrift, die unter der Leitung von Carmel Snow zu einer führenden Kulturzeitschrift wird. Autorinnen und Autoren wie Carson McCullers, John Dos Passon, Evelyn Waugh und Truman Capote veröffentlichen dort ihre Texte, berühmte Fotografen und Maler zeigen ihre Fotos und Gemälde. Zielgruppe: die urbane, unabhängige und berufstätige Single-Frau. Bereits 1945 arbeitet sie als Trendscout – heute würde man Influencerin sagen – und im Mai 1945 erscheint in der Zeitschrift Life eine ganze Fotostrecke über sie und ihre Arbeit als „shopping sleuth“.

1949 dann das unwiderstehliche Angebot von William Shawn, der ihr als Chefredakteur eine Festanstellung bei der 1925 gegründeten Zeitschrift The New Yorker anbietet, in der 1963 Hannah Arendt ihren Text Eichmann in Jerusalem in fünf aufeinander folgenden Ausgaben veröffentlichte, bevor das Werk als Buch erschien.

Nach einigen Startschwierigkeiten wird der New Yorker mit seinen Kurzgeschichten, Essays, Kritiken, Kolumnen und Cartoons ein sagenhafter Erfolg. Schriftsteller wie J. D. Salinger, Vladimir Nabokov, John Updike, Philip Roth oder Richard Yates veröffentlichen hier, die Karikaturen von James Thurber erlangen Weltruhm. Zudem wird der New Yorker mit den Jahren zu einer Plattform für politischen Journalismus. (S. 111)

Zunächst verfasst Brennan hier kurze und boshafte Buchbesprechungen.

1954 erscheint ihre erste Kolumne bei Talk of the Town, einem der Aushängeschilder des New Yorker. Ihr Alter Ego wird „The Long-Winded Lady“, die durch Manhattan flaniert, in Cafés und Restaurants die Gäste belauscht und immer auf der Suche nach dem einen zufälligen Moment ist, den es sich festzuhalten lohnt. 

Dank ihrer Scharfzüngigkeit und ihres zynischen Humors wird Maeve von ihren Kollegen bald als legitime Nachfolgerin Dorothy Parkers gesehen. (S. 142)

Brennan wird so über die Jahre und Jahrzehnte zu einer

Chronistin des Alltags in New York, auf den sie wie auf eine alte Fotografie manchmal auch einen nostalgischen Blick wirft. (S. 151)

Schon früh erkennt sie, dass der Modernisierungswahn, bei dem komplette, historisch gewachsene Stadtteile plattgemacht werden, um Platz für Hochhäuser, Geschäftshäuser und mehrspurige Autobahnen zu machen, das Gesicht der Stadt unwiderruflich verändern und veroberflächlichen wird. Das Heimatgefühl unzähliger Menschen wird einfach weggebaggert.

1969 erscheint nicht nur eine von der Autorin zusammengestellte Sammlung ausgewählter Kolumnen der „long-winded lady“, sondern auch ein Band mit 22 Kurzgeschichten und Maeve Brennan wird endgültig zum Star.

Gleichzeitig genießt sie ihr Leben, sie wird Affären – vorzugsweise mit verheirateten Männern – haben und 1954 ihren Kollegen St. Clair McKelway heiraten. Über die Eheschließung sagt William Maxwell:

Es war vielleicht nicht die schlimmste aller möglichen Verbindungen, aber es war eine, in die man nicht viel Hoffnung setzen konnte. Er war einer der talentiertesten Reporter des New Yorkers, und falls es jemanden gegeben hat, der ihn nicht mochte, bin ich dieser Person niemals begegnet. Aber er war ein schwerer Trinker, manisch-depressiv, geplagt von Aussetzern […], in denen er nicht einmal mehr wusste, wer er war. […] Sein Geld warf er mit beiden Händen zum Fenster hinaus, und Rechnungen zu begleichen verstieß offenbar gegen seine Prinzipien. Alle seine Ehefrauen waren wunderschön und charmant, doch seine Ehen neigten dazu, eher von kurzer Dauer zu sein. (S. 205)

Ende 1959 trennen sich die beiden, bleiben aber freundschaftlich verbunden. Maeve raucht wie ein Schlot, trinkt und pflegt ihre Freundschaften, hängt an ihrem Labrador Bluebell und ihren Katzen und lebt in ständig wechselnden Hotels, kleinen Apartments oder in den Ferienhäusern ihrer Freunde. 

Immer stilvoll gekleidet, meist über ihre finanziellen Verhältnisse lebend, mehr als einmal müssen ihre Vorgesetzten beim New Yorker drohende Gehaltspfändungen durch diskrete Geldzuwendungen abwenden.

1972, nach der Veröffentlichung ihrer berühmten Geschichte The Springs of Affection, erleidet Brennan einen Nervenzusammenbruch und lässt sich das erste Mal stationär einweisen. 1973 folgt der nächste Krankenhausaufenthalt. Karl schreibt, dass es zu Maeve keine Krankenakte gebe, doch man vermute, dass Brennan an Schizophrenie erkrankt gewesen sei. Die Schübe werden schlimmer, besonders weil Brennan, sobald es ihr wieder besser geht, sofort ihre Medikamente absetzt. Die guten Phasen werden kürzer, sie beginnt allmählich zu verwahrlosen, sich abends nicht mehr abzuschminken, morgens einfach das neue Make-up auf die Schminke des Vortages aufzutragen, Geldscheine an Passanten zu verteilen und sich in den Räumen des New Yorker im Raum hinter der Damentoilette häuslich niederzulassen, bis man ihr schließlich Hausverbot erteilt. Der einst gefeierte Star lehnt jegliche Hilfe ab, wird dement und obdachlos. Die letzten drei Jahre ihres Lebens verbringt sie in einem Heim. 1993 stirbt sie im Alter von 76 Jahren an Herzversagen.

Die Biografie von Michaela Karl liest sich samt ihren Verästelungen zu Freunden, Kollegen, Zeitschriften und Architektur wunderbar und macht unerhört Lust auf die Literatur von Maeve Brennan und neugierig auf all die vielen Fotografen, Autoren, Mäzene und Herausgeber, von denen hier die Rede ist. Dauernd musste ich das Lesen unterbrechen, weil ich noch mehr wissen wollte, sei es über den New Yorker, über Manhattan, Modetrends, die Künstlerkolonie MacDowell, Hotels, in denen Brennan gewohnt hat, über berühmte oder auch inzwischen in Vergessenheit geratene Schriftstellerkollegen. Eine wahre Fundgrube. 

Später kam mir in den Sinn, dass wir uns, um es vereinfacht auszudrücken, wenn wir uns schaden wollen, normalerweise nur nach einer Sache wirklich sehnen; nehmen wir hingegen die Anstrengung auf uns, etwas Tugendhaftes oder etwas Gutes zu tun, ist die Auswahl so groß, dass wir im Grunde schon erschöpft sind, noch bevor wir uns dafür entscheiden, was wir denn nun tun wollen. Damit will ich sagen, dass der Antrieb zum Guten eine freie Wahl voraussetzt und hoch kompliziert ist, der Antrieb zum Bösen dagegen abscheulich einfach und leicht. (S. 114, zitiert nach: Eine schmerzliche Entscheidung, in: New Yorker Geschichten, S. 393)

Anmerkungen

  • Hier ein längerer Text zu Maeve Brennan und ihrer Zeit bei Harper‘s Bazaar von Ellen McWilliams.
  • Hier ein Text aus dem Guardian von Anne Enright über die Schriftstellerin.

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Autor: buchpost

- mein buchregal: schon lange ein gegengewicht zu beruf und engstirnigkeit - ziele: horizont weiten, mich vergnügen und das wichtige behalten

8 Kommentare zu „Michaela Karl: Ich würde so etwas nie ohne Lippenstift lesen – Maeve Brennan (2019)“

  1. Klingt sehr gut, hatte vorher noch nie von der Dame gehört – zack kommt auf die Leseliste 🙂
    Hatte übrigens den gleichen Gedanken, als ich vor einer ganzen Weile „Noch ein Martini und ich lieg unterm Gastgeber“ gelesen habe und den Titel irgendwie nervig fand. War aber auch richtig gut und handelt von Dorothy Parker, könnte dir vielleicht auch gefallen.

    Ganz liebe Grüße, Sabine

    1. Hi Sabine,
      Dorothy Parker war ja sozusagen die Vorgängerin von Maeve Brennan. Brauche die Biografie also auch unbedingt. Seufz. Und bereits die ersten Kurzgeschichte aus Brennans Band „The Springs of Affection“ war klasse.
      Liebe Grüße
      Anna

  2. Liebe Anna,

    auch meine Leseliste ist jetzt um mindestens zwei Bücher gewachsen–diese Biografie sowie The Long-Winded Lady. Danke für diese faszinierende Vorstellung, wenn auch Maeves Ende sehr traurig stimmt.

    Liebe Grüße,

    Tanja

    1. Hallo Tanja, warum sollte es euch, was die Wunschlisten angeht, besser gehen als mir? 😎 Aber ich freue mich, wenn ich dein Interesse wecken konnte. Die erste Biografie zu Brennan hat Angela Bourke geschrieben. Die kenne ich allerdings nicht. Aber viel Freude mit Brennan.
      LG
      Anna

  3. Und mich hast Du natürlich auch gleich am Wickel! 🙂 Danke, liebe Anna für die Buchvorstellung, die sofort Lust aufs Lesen macht. Karls Buch über Dorothy Parker liegt noch ungelesen bei mir hier auf einem (der) Stapel… vielleicht fange ich damit an… aber Maeve Brennan klingt sehr interessant… Dankeschön und herzliche Grüße! Barbara

    1. Hallo Barbara,
      hab gestern bei Tauschticket noch ein Exemplar von Karls Biografie zu den Sott Fitzgeralds gefunden 😎 und Dorothy Parker ist bestellt. Und dann müsste man eigentlich mal nach New York …
      LG
      Anna

    1. Ja, Dorothy Parker ist bestellt, das Buch hatten wohl schon einige Bloggerinnen gelesen (gerade gesehen, dass auch Birgit die bei „Sätze und Schätze“ mal vorgestellt hat, ging damals anscheinend an mir vorbei), die Biografie zu den Scott Fitzgeralds gestern bei Tauschticket gefunden und so nimmt das mit dem Weniger-Bücher-Kaufen mal wieder gerade so gar keinen guten Verlauf 🙂
      LG Anna

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