Hasnain Kazim: Post von Karl-Heinz (2018)

Der deutsche Journalist und Autor Hasnain Kazim muss sich wie viele andere, die in der Öffentlichkeit präsent sind und deren Namen nicht nach Müllermeierschulze klingen, immer wieder mit Hassmails befassen, die Drohungen, Pöbeleien und Gewaltfantasien enthalten, die ja heutzutage blitzschnell und ohne dass man noch in Briefmarken oder Umschläge investieren müsste, versandt werden können.

Einer seiner Wege, sich dagegen zu positionieren, ist, den Briefschreibern zu antworten, sie in ein Gespräch einzuladen, aufzuklären, sich aber auch abzugrenzen, wenn ein Austausch gänzlich hoffnungslos ist. Eine Reihe dieser Mailwechsel hat er in seinem Buch mit dem hübschen Titel Post von Karlheinz: Wütende Mails von richtigen Deutschen – und was ich ihnen antworte veröffentlicht.

Ich ziehe meinen Hut vor Kazims Ironie, seiner Schlagfertigkeit, seiner Geduld und vor seiner Weigerung, in gleicher Münze heimzuzahlen. Der Weigerung, sich verbittern zu lassen, zurückzuhassen.

Ich habe losgeprustet, wenn er die wildesten und idiotischsten Beleidigungen so ins Absurde gesteigert hat – ja, er komme gern am Wochenende mit kompletter Großfamilie mal vorbei, sie seien ohnehin in der Gegend und sie würden auch die Ziegen zur Schächtung mitbringen, dann könne ihm der Briefeschreiber mal zeigen, was ein richtiger Deutscher sei – und mich gefreut, wenn er doch noch jemanden auf die Ebene halbwegs zivilisierter Umgangsformen zurückverfrachten konnte. Auch die ein oder andere Hilfestellung für eigene Argumentationen ließe sich dem Buch entnehmen. Daneben gibt es auch ernsthafte und höfliche Leserzuschriften, die von ihm freundlich und ausführlich beantwortet werden.

Doch vor allem war ich nach der Lektüre dieses durchaus unterhaltsamen Buches verstört. Ich hatte das Gefühl, eine Bodenplatte tut sich auf, darunter krabbelt und tobt das, was eine Gesellschaft nachhaltig gefährden kann.

Wie kann es sein, dass manche Menschen ernsthaft glauben, mit ihren Pöbeleien, ihrem Rassismus, ihrer Ignoranz und Langeweile, ihrer miesen Kinderstube, ihrer völligen Überschätzung der eigenen Befindlichkeiten und dem Weltbild eines Grottenolms anderen ungestraft auf die Nerven fallen zu dürfen?

Und wie kann es sein, dass es inzwischen Richter gibt, die solcherlei Komplettentgleisungen (siehe Renate Künast) noch als Meinungsäußerung deklarieren, die Personen, deren Arbeit öffentlich sichtbar ist, halt zu akzeptieren haben?

Oder dass eine Anzeige sofort gegenstandslos wird, wenn der Beschuldigte treuherzig versichert, dass nicht er die Mails geschrieben habe, schließlich habe der halbe Ort Zugang zu seinem Rechner.

In seinem einleitenden Kapitel Vom Umgang mit Hass im Posteingang schreibt er zu der Floskel, dass man auch den Brüllern und Hetzern mit Respekt begegnen solle:

Ich soll Leuten mit Respekt begegnen, die mich ‚in die Gaskammer!!!‘ wünschen? […] Und was soll, bitte schön, ‚auf Augenhöhe‘ heißen? Soll ich mich auf den Bauch legen, um mit diesen Leuten ‚auf Augenhöhe‘ zu reden? Diese, bei allem Respekt, dämlichen, jedenfalls unbeholfenen Ratschläge geben mir mehr zu denken als die meisten Beleidigungen und Drohungen. Ich empfinde dieses achselzuckende Zuschauen, solche ‚Na, damit musst du halt klarkommen‘-Positionen als dröhnendes Schweigen. […] Mir macht Angst, dass Leute inzwischen in entspanntem Ton darüber philosophieren, wie man mit Rechten reden sollte. Aber diejenigen, die solche intellektuellen Fingerübungen ausprobieren, sind Leute, die durch die Rechten in keinerlei Weise bedroht sind, schon gar nicht existenziell. (S. 17/18)

Kazims Buch mahnt an, dass Menschen Verantwortung für ihre Worte haben und dass es an der Zeit ist, den einen oder die andere massiv und nachdrücklich an diese Verantwortung zu erinnern.

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Alan Bradley: The Sweetness at the Bottom of the Pie (2009)

Heute geht es um den ersten Band einer Krimi-Serie, der mir beim Wiederlesen richtig Spaß gemacht hat. Die Handlung beginnt mitten in einer der zahlreichen Auseinandersetzungen dreier Schwestern:

It was as black in the closet as old blood. They had shoved me in and locked the door. I breathed heavily through my nose, fighting desperately to remain calm. I tried counting to ten on every intake of breath, and to eight as I released each one slowly into the darkness. Luckily for me, they had pulled the gag so tightly into my open mouth that my nostrils were left unobstructed, and I was able to draw in one slow lungful after another of the stale, musty air.

Die elfjährige Flavia, die Ich-Erzählerin, hat bei dem Streit den kürzeren gezogen und wurde im Schrank eingesperrt, doch ihre Rache wird nicht lange auf sich warten lassen.

Der Kanadier Alan Bradley (*1938) hat seine Romane um Flavia im England der fünfziger Jahre angesiedelt. Dort lebt sie mit ihren Schwestern Daphne (Daffy, 13) und Ophelia (Feely, 17) und ihrem Vater Colonel Haviland de Luce in dem großen alten Herrenhaus Buckshaw, das praktischerweise auch ein fantastisch ausgestattetes Chemielabor – eingerichtet von einem der Vorfahren – enthält, denn Flavia ist mit ganzem Herzen Chemikerin. Die Fehden zwischen ihr und den Schwestern enden schon mal damit, dass sie Ophelia ein bisschen Gift des Kletternden Giftsumachs in ihren Lippenstift schmuggelt und sie die allergischen Beschwerden fein säuberlich protokolliert.

Vervollständigt wird die Truppe von Arthur Dogger, einem mal mehr, mal weniger unter seinen Kriegstraumata, dem Zittern und den Gedächtnisaussetzern leidenden Butler, Gärtner, Chauffeur und Mädchen für alles. Im Krieg hat er Flavias Vater das Leben gerettet und ist der Familie der de Luces treu ergeben. Außerdem kommt täglich Mrs Mullet aus dem Dorf, Haushälterin und Klatschbase in einem, deren Kochkünste man getrost als unterirdisch bezeichnen kann.

Harriet, die Mutter der Mädchen, starb, als Flavia ein Jahr alt war, und der Vater nimmt seine Töchter kaum wahr und kümmert sich stattdessen um seine große Leidenschaft, die Welt der Briefmarken, was wiederum der finanziellen Lage der de Luces nicht unbedingt zuträglich ist.

Im ersten Band der inzwischen auf zehn Bände angewachsenen Reihe gerät Flavias Vater unter Mordverdacht, als einer seiner ehemaligen Mitschüler, Horace Bonepenny, tot im Gurkenbeet der de Luces aufgefunden wird. Zunächst schweigt sich der Vater aus, da er befürchtet, dass Dogger für den Mord verantwortlich sein könnte, denn der hatte, zusammen mit Flavia, heimlich gelauscht, als Bonepenny versucht hatte, Flavias Vater zu erpressen.

So liegt es nun an Flavia, ihren Vater von diesem schrecklichen Verdacht reinzuwaschen und herauszufinden, was wirklich passiert ist.

Dass sie bei der Auflösung des Falles dem sympathischen Inspector Hewitt immer einen Schritt voraus ist und sich dabei auch noch in Lebensgefahr begibt, erfreut  Hewitt nur bedingt.

Das Buch wimmelt von gelehrten Anspielungen, bei denen man sogar das ein oder andere nachschlagen kann, sei es zu Naturwissenschaften oder Büchern. Das zeigt sich schon am englischen Originaltitel, einem Zitat von William King „Unless some sweetness at the bottom lie, who cares for all the crinkling of the pie“ (The Art of Cookery, 1708).

Manchmal wird die Geduld des Lesers schon strapaziert, denn wie glaubwürdig sind die folgenden Sätze aus dem Mund einer Elfjährigen?

As I expected, Father’s room war in near-darkness as I stepped inside. […] From inside, it possessed all the gloom of a museum after hours. The strong scent of Father’s colognes and shaving lotions suggested open sarcophagi and canopic jars that had once been packed with ancient spices. The finely curved legs of a Queen Anne washstand seemed almost indecent beside the gloomy Gothic bed in the corner, as if some sour old chamberlain were looking on dyspeptically as his mistress unfurled silk stockings over her long, youthful legs. (S. 146 – 147)

Zudem weist auch die Handlung selbst, gerade was die Motive des Bösewichts angeht, einige logische Löcher auf.

Allerdings schafft es Bradley, für seine jugendliche Ich-Erzählerin einen ganz eigenen Ton zu finden, frech, altklug und vorlaut, ihren Schwestern in inniger Hassliebe verbunden, aber letztlich mit dem Herz am richtigen Fleck.

Flavias Schwestern verbünden sich ständig gegen sie, bringen sie zum Weinen mit der Geschichte, dass sie adoptiert und so wenig liebenswert sei, dass sie quasi schuld am Tod der Mutter sei.

Dabei scheint immer wieder Flavias Verletzlichkeit, ihre Einsamkeit und den Wunsch nach familiärer Geborgenheit hinter der altklugen und ruppigen Fassade durch.

Here we were, Father and I, shut up in a plain little room, and for the first time in my life having something that might pass for a conversation. We were talking to one another almost like adults; almost like one human being to another; almost like father and daughter. And even though I couldn’t think of anything to say, I felt myself wanting it to go on and on until the last star blinked out. I wished I could hug him, but I couldn’t. For some time now I had been aware that there was something in the de Luce character which discouraged any outward show of affection towards one another; any  spoken statement of love. […] And so we sat, Father and I, primly, like two old women at a parish tea. It was not a perfect way to live one’s life, but it would have to do. (S. 191)

Ganz unverstellt erscheint uns Flavia, wenn sie Dogger in einem seiner schlimmen Momente antrifft. Sie tut und sagt und unternimmt sofort etwas, um ihm behutsam und mit viel Einfühlungsvermögen dabei zu helfen, sich wieder in der Gegenwart verankern zu können.

Wie schrieb Laura Wilson im Guardian so nett:

The Sweetness at the Bottom of the Pie reads like a cross between Dodie Smith’s I Capture the Castle (posh family fallen on hard times, dead mother, disengaged father, crumbling pile) and the Addams family (Flavia has a well-appointed laboratory where she makes poisons to test on her spiteful elder sisters). A strong plot, involving philately, ornithology and prestidigitation, and a wonderful supporting cast make this Canadian novelist’s debut delightfully entertaining.

Fazit: Preisgekrönte Krimi-Unterhaltung, skurril, frech und spannend, ansprechend, wie gemacht für dunkle Novembertage.

James Herriot: All Creatures Great and Small (1970)

They didn’t say anything about this in the books, I thought, as the snow blew in through the gaping doorway and settled on my naked back. I lay face down on the cobbled floor in a pool of nameless muck, my arm deep inside the straining cow, my feet scrabbling for a toe hold between the stones. I was stripped to the waist and the snow mingled with the dirt and the dried blood on my body. I could see nothing outside the circle of flickering light thrown by the smoky oil lamp which the farmer held over me.

Mit diesen Sätzen beginnt die Reihe um den britischen Tierarzt James Herriot, der im wahren Leben James Alfred Wight hieß.

Das hätte sich Wight (1916 – 1995) am Anfang wohl auch nicht träumen lassen, dass er unter dem Pseudonym James Herriot – Tierärzten war jegliche Eigenwerbung verboten, deshalb ein Pseudonym – mit seinen halb fiktiven Erinnerungen und Erlebnissen aus seinem Arbeitsleben einmal weltberühmt werden würde, die dann auch noch verfilmt wurden. Dabei hatte er zuvor jahrelang nach einem Verleger suchen müssen. Er begann erst mit 50 zu schreiben und trotz des Erfolges, der sich dann einstellte, hat er bis zu seiner regulären Pensionierung  in der gemeinsamen Praxis gearbeitet.

Durch einen Umweg bin ich wieder auf ihn aufmerksam geworden. Zwar hatte ich als Kind wie vermutlich viele andere die Verfilmungen gesehen, doch als ich Jahrzehnte später den ersten Band seiner Erinnerungen geschenkt bekam, wanderte der ungelesen ins Regal nach dem Motto: Irgendwann mal oder auch nicht. Nachdem ich dann eher zufällig über die englischen Originalfolgen der Fernsehserie „All Creatures Great and Small“ gestolpert bin, kramte ich das Buch wieder aus dem Regal.

Das war für mich der Beginn eines wochenlangen Abtauchens. Und die Folgebände mussten auch noch her. Da geht es dann leider nicht immer chronologisch weiter: Vieles wirkt lieblos zusammengestoppelt, so als seien Verlag und Autor vom Erfolg überrannt worden, dem dann rasch etwas nachgeworfen werden musste.

Der Leser, der Zuschauer lernt das Leben als Tierarzt in Yorkshire ab den vierziger Jahren kennen. Die Menschen lebten auf kleinen Farmen, arbeiteten hart und waren viel unmittelbarer von der Natur und dem Lauf der Jahreszeiten abhängig. Die Tierärzte sahen sich auf der einen Seite mit damals noch unheilbaren Tierseuchen konfrontiert, die dem einzelnen Bauern die gesamte Existenzgrundlage innerhalb von Tagen zertrümmern konnten, und auf der anderen Seite gab es allmählich Veränderungen und Fortschritte in der Tiermedizin. Die Arbeit als Tierarzt ist dabei keineswegs immer ungefährlich. Einmal wäre James auf dem Weg zu einem kranken Tier beinahe ums Leben gekommen, weil er im Schneesturm den Weg verloren hatte.

Die drei Kollegen, zunächst ohne weibliche Unterstützung, sieht man von der wunderbaren, immer leicht genervten Haushälterin Mrs Hall einmal ab, ergänzen einander auf Feinste: James‘ Chef Siegfried Farnon ist aufbrausend, unberechenbar und dabei gutherzig und großzügig, während sein jüngerer Bruder Tristan das Leben in vollen Zügen genießt, frühes Aufstehen verabscheut, sich wo immer möglich, der Arbeit entzieht und ein gutes Bier und weibliche Gesellschaft zu schätzen weiß. Am pflichtbewussten James bleibt dagegen mehr als einmal der Löwenanteil der unangenehmeren Arbeiten hängen und am Anfang hat er, der zugezogene Schotte, seine liebe Not mit den einheimischen Bauern, die ihn erst gar nicht recht ernstnehmen wollen, besonders wenn er mit so neumodischen Behandlungsmethoden um die Ecke kommt.

Und im Sprechzimmer tummeln sich bizarre Patienten und ihre manchmal noch bizarreren Herrchen und Frauchen. Aber spätestens bei den Fahrten über Land ist meist aller Ärger vergessen, wenn James sich an der herbschönen Landschaft Yorkshires erfreut.

Ich mag die Geschichten mit ihrem Witz und ihrer Situationskomik noch immer, wobei auch traurige und ernsthafte Ereignisse ihren Platz haben. Und natürlich findet James auch seine Herzdame. Kurzum: eine (fiktive) Welt, in der Anstand, Menschlichkeit und Freundschaft ganz wesentliche Bestandteile sind.

Für mich also Geschichten mit einem riesengroßen Entspannungsfaktor, bei denen es gleichermaßen um die Tiere wie um die Menschen mit all ihren Eigenheiten, Kümmernissen und Freuden geht.

Und im letzten Urlaub habe ich mir ein Loch in den Regenschirm gefreut, als ich in einem richtig schönen Secondhand-Bookshop den Bildband „James Herriot’s Yorkshire, with photographs by Derry Brabbs“ von 1979 entdeckt habe.

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Natürlich musste ich dann auch die Biografie seines Sohnes lesen: 1999 erschien The Real James Herriot: A Memoir of my Father von Jim Wight.

Das Buch des Sohnes über seinen erfolgreichen Vater liest sich interessant und durchaus erhellend, selbst wenn es an der ein oder anderen Stelle etwas verklärend geraten ist. Es ermöglicht den Vergleich zwischen Fiktion und dem Tatsächlichen, ohne dass dadurch der Charme und das Liebenswerte der Bücher von Alf Wight verloren gehen.

Ernüchternd war allerdings zu erfahren, dass das Verhältnis der drei Kollegen keineswegs immer so rein freundschaftlich war, wie es die Erzählungen von „James Herriot“ vermuten lassen. „Siegfried“ drohte als älterer Herr sogar mit dem Anwalt und der Beendigung der jahrzehntelangen Freundschaft, sollte Alf die Bücher veröffentlichen.

Für Wights Humor und seine Freundlichkeit findet man in dem Buch weitere schöne Beispiele: Meine Lieblingsstelle schildert, wie seine zukünftige Schwiegertochter ihm einen Entschuldigungsbrief schreibt, nachdem sie am Abend vorher auf der „first publication party“ die Auswirkungen des Alkohols unterschätzt und den Abend dann wohl überwiegend auf der Damentoilette verbracht hatte. Wight antwortet ihr ganz reizend:

My dear girl, I hasten to assure you that your feelings of remorse are entirely unnecessary and, in fact, there is something ludicrous in apologising to me, the veteran of a thousand untimely disappearances and as many black and hopeless dawns. I see you describe yourself as a ‘sordid little heap in the Ladies’. Well that’s a good description of me but for ‘Ladies’ read ‘Gents’ or ‘Friend’s back room’, or ‘Back seat of car’ or, in one case, ‘Corner of tennis court’.
Let me further assure you that your ‘awful behaviour’ was probably not even noticed by a roomful of people who had punished the champers for a couple of hours, then waded into the vino for a similar period. It remains rather a blur to me.
I dimly remember the two Michael Joseph men making rather incoherent speeches of thanks to which, they tell me, I made a slurring twelve-word reply. I honestly don’t remember and that goes for a very drunken Tristan and most of the others.
But I do remember meeting you right at the start and that was lovely.

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Das es dieses alte Schätzchen auf meinen Blog geschafft hat, ist die Schuld von Birgit, die auf ihrem ehemaligen Blog in ihrer Reihe #Verschämte Lektüren dazu aufgerufen hatte, im heimischen Buchregal auf die Suche nach “literarisch unterirdischen Werken“ zu gehen, „die man verschämt in der hintersten Ecke des Regals versteckt und von denen man sich dennoch nicht trennen mag“. Das fand ich zunächst wirklich schwierig, denn Bücher, die ich verschämt etwas diskreter lagere, gibt es nicht. Die Bücher, die ich mag, stehen sichtbar da, wo sie nach der Lesechronologie halt hingehören.

Also, was tun? Nach ein bisschen Grübelei bin ich doch noch fündig geworden. Es gibt so einen Leseschatz, von dem ich bisher wirklich niemanden überzeugen konnte. Literarisch „unterirdisch“ ist er zwar nicht, allerdings von den englischsprachigen Verlagen grottenschlecht betreut. Eigentlich ist es ein Dreiklang aus den Büchern, der Fernsehserie und einer wunderbaren Landschaft, der mich nach wie vor entzückt. Es geht natürlich um Den Doktor und das liebe Vieh.

Und: Liebe Birgit, das hat jetzt richtig Spaß gemacht. Nicht zuletzt auch wegen der herrlichen Kommentare, die sich inzwischen bei dir tummeln. Da kann man dann auch mitverfolgen, wie man von James Herriot zu Männern mit schönem Haar und zu John Boy von den Waltons kommt. Ganz zu schweigen von Winnetou, der durch die Lateinstunden ritt…

Einer meiner Favoriten kommt von Drittgedanke:

Jaaaa! 🙂 Ein Traum aus Tweed und Fünf-Uhr-Tee-Plüschigkeit. Endlich, endlich eine Gelegenheit um mich ganz un-verschämt zu outen: DEN hätte ich sofort geheiratet – damals, als Zehnjährige. (Jaja, die Episode mit dem Ehering habe auch ich gerade vor Augen…) Ich brauche sofort meinen Strick-Pollunder mit Zopfmuster – herrje, wo ist mein Strick-Pollunder?!

Joachim Meyerhoff: Alle Toten fliegen hoch (2011)

Mit achtzehn ging ich für ein Jahr nach Amerika. Noch heute erzähle ich oft, dass es ein Basketballstipendium war, aber das stimmt nicht. Meine Großeltern haben den Austausch bezahlt.

So – quasi mit einer Mini-Inhaltszusammenfassung – beginnt das fantastische Buch von Joachim Meyerhoff.

Der 1967 geborene Schauspieler, Regisseur und Schriftsteller schrieb ursprünglich autobiografische Texte für die Bühne und daraus hat sich ein größeres Buchprojekt entwickelt. Im ersten Band Alle Toten fliegen hoch geht es um den siebzehnjährigen Joachim, der in der norddeutschen Kleinstadt Schleswig aufwächst und – ganz untypisch für einen Coming of Age-Roman – keinerlei nennenswerten familiären Probleme hat. Noch in Amerika betont er:

Dass ich nicht vor ihnen [gemeint sind seine Eltern] geflohen, keiner durch Lieblosigkeit oder Repressalien verdunkelten Welt entkommen war und sie sehr vermisste.

Im Laufe der Geschichte erinnert sich Joachim immer wieder an Erlebnisse aus seiner Kindheit.

Das mit der Glasschiebetür ist mir selbst widerfahren. Ich konnte gerade laufen. Mein ältester Bruder setzte mich in einen Sessel und ging auf die Terrasse hinaus. Erst wenn er meinen Namen rief, durfte ich vom durchgesessenen Blumenmustersessel hinunterkrabbeln und auf meinen noch wackeligen Beinen durch das Zimmer hinaus ins Freie, in seine Arme rennen. Über die Bodenschienen der Schiebetür hätte ich jedes Mal einen niedlichen Hopser gemacht. Angeblich konnte ich von diesem Im-Sessel-Sitzen und Auf-Kommando-ins-Freie-Laufen im Gegensatz zu meinem Bruder nicht genug bekommen. Schon in seinen Armen, den Bruderarmen, hätte ich ‚Noch mal! Noch mal!‘ gerufen. Nach dem zwanzigsten oder fünfundzwanzigsten ‚Noch mal! Noch mal!‘ setzte mich mein Bruder wieder in den Sessel und zog die Schiebetür zu, um herauszufinden, ob ich schon wüsste, dass man nicht durch Glas gehen kann. Ich wusste es nicht und donnerte mit solcher Wucht gegen die Scheibe, dass meiner Mutter vor Schreck das Buch bis an die Zimmerdecke flog […] Wie eine unsichtbare Faust hatte mich die Scheibe auf dem Weg in die weit geöffneten Arme meines Bruders niedergestreckt. […] Mein Bruder wurde ermahnt, keine Experimente mit mir zu machen, und in sein Zimmer geschickt. (S. 7/8)

Im Großen und Ganzen also Provinzidylle pur, zwei manchmal nervende ältere Brüder, die ebenfalls das Gymnasium besuchen, der Vater ist Arzt in der Psychiatrie und den obligatorischen Familienhund gibt es auch. Alles nicht weiter aufregend.

In meiner Stadt war Stille noch der Urzustand. Beruhigend, aber eben auch anstrengend, da man immer alleine von vorn anfangen musste, Lärm zu machen. Kein Weiterreichen, kein Einklinken – jeder für sich allein in seiner Stille. So brummten auch die Autos an mir vorbei. Aus der Stille kommend, in die Stille fahrend. Die Ziele dieser Autos erfüllten mich mit Langeweile. Garagen oder verkehrsberuhigte Wohnstraßen. Und während der Motor noch warm war, krabbelten die Kleinstädter in ihre heimeligen Betten und versanken gedankenlos in eben dieser Stille. Wie vereinzelt hier alles war. Einzelne Häuser, einzelne Autos, einzelne Bäume. (S. 60/61)

So beschließt Joachim, sich für ein Auslandsjahr an einer High School in Amerika zu bewerben. Beim Auswahlverfahren in Hamburg fürchtet er allerdings, nicht mit den weltgewandteren Großstadtkids konkurrieren zu können. Um trotzdem einen Platz im Austauschprogramm zu ergattern, lügt er beim entscheidenden Fragebogen, dass sich die Balken biegen. Er kreuzt an, dass er tiefreligiös und naturverbunden sei und deswegen am liebsten aufs Land wolle. Nur bei der Frage, ob er irgendeine Sportart bevorzuge, antwortet er wahrheitsgemäß: Er möchte Basketball spielen.

Und so nimmt die Sache ihren Lauf: Er landet mit miserablen Englischkenntnissen in der tiefsten amerikanischen Provinz, am Rande von Laramie in Wyoming, bei einer streng religiösen Familie und muss ab sofort dreimal die Woche mit zum Gottesdienst. Mehr möchte ich eigentlich gar nicht verraten, denn das Buch ist übervoll mit wahnwitzigen Geschichten und Begegnungen – ein bisschen wie Blasmusikpop von Vea Kaiser, mit dem Unterschied, dass hier sich vieles wirklich so oder ganz ähnlich abgespielt haben dürfte.

Ich wollte gar nicht mehr aufhören zu lesen. Wen würde er treffen oder kennenlernen? Welche Überraschungen würde der Unterricht an der High School bereithalten, von den seltsamen Lehrern dort ganz zu schweigen, und würde er es schließlich ins Basketballteam schaffen?

Einer der Lehrer nimmt ihn mit zu einer Besichtigungstour ins Gefängnis und ist enttäuscht, als Joachim sich nicht auf dem elektrischen Stuhl fotografieren lassen möchte. Die Leiterin des Drama Club hingegen

kam dann auf die Bühne, tippte sich mit dem Zeigefinger in die Augenwinkel, zeigte ihn herum und strahlte: ‚Hey, come on! What did you do to me? Tell me, what’s that? WHAT’S THAT? TEARS. For heaven’s sake. THESE ARE TEARS. Jesus, you are so intense, you made me cry!‘ Alle klatschten. Wir beklatschten sie, weil sie weinte, und uns, weil wir sie zum Weinen gebracht hatten. (S. 151)

Wir begleiten den Ich-Erzähler dabei, wie er ein Stück weit erwachsener wird, mit allem, was dazugehört. Er muss zurechtkommen mit Liebe, Freundschaft, Sex, Egoismus, Fehlbarkeit, Verlust, Trauer, Irrwitz und existenziellem Schrecken.

Er schaut ganz genau hin, auch wenn’s wehtut. Dabei ist aber eben keine oberflächlich-lockerflockige Anekdotensammlung entstanden, sondern ein oft genug wirklich anrührender und zarter Blick in das Innenleben eines jungen Menschen. Das kommt so frisch, absurd und unmittelbar daher, als hätte der Autor das Ganze erst gestern erlebt.

Meyerhoff schreibt entwaffnend ehrlich und vor allem oft urkomisch – mit dem perfekten Gespür für den Moment der Pointe. Mit Staunen, Toleranz und großer Unbefangenheit nimmt der jugendliche Held die manchmal schöne und manchmal sehr befremdliche Welt um sich herum wahr. Und seine Schilderung von Trauer ist derart, dass einem ganz fröstelig wird, weil man weiß, ja genau so ist das.

Durch das Jahr in Amerika ist auch ein sinnvoller Spannungsbogen garantiert. Und ich habe einige Dinge über Amerika gelernt, die in keinem Reiseführer stehen.

Heide Soltau schreibt im NDR:

Das Buch folgt dem Muster des klassischen Entwicklungsromans. Mit Witz und Charme und ganz ohne Larmoyanz erzählt er von den inneren und äußeren Nöten eines Jugendlichen, der mit der Reise nach Amerika auch die eigene Kindheit, das Reich der Toten und die Welt der Erwachsenen bereist. Das ist keine Selbstbespiegelung, sondern gelungene Literatur.