Carsten Jensen: Wir Ertrunkenen (2006)

Wer sich auf diese fast 800 Seiten einlässt, muss u. U. damit rechnen, dass er seine alltäglichen Aufgaben nicht mehr ordentlich ausführen kann, denn man möchte einfach weiterlesen und nicht wegen Belanglosigkeiten unterbrochen werden. Ein paar Ferientage wären also hilfreich. Der Roman des Dänen Carsten Jensen, den Ulrich Sonnenberg ins Deutsche übersetzt hat, beginnt mit den Sätzen:

Laurids Madsen war im Himmel gewesen, doch dank seiner Stiefel war er auch wieder heruntergekommen. Er war nicht bis hoch zum Masttopp geflogen, eher so auf die Höhe der Großrahe eines Vollschiffs. Er hatte am Tor zum Paradies gestanden und den heiligen Petrus gesehen, doch es war nur der Arsch, den der Hüter der Pforte zum Jenseits ihm gezeigt hatte. Laurids Madsen hätte tot sein sollen. Aber der Tod hatte ihn nicht gewollt, und so wurde er ein anderer.

Der Inhalt dieser Seefahrergeschichte über drei Generationen ist nicht so ohne Weiteres zu beschreiben, wenn man nichts vorwegnehmen möchte. Jedenfalls ist das Werk sowohl eine Abenteuergeschichte als auch eine Geschichte der Seefahrt von 1849 bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, so wie sie sich in den Schicksalen der Seeleute der dänischen Stadt Marstal (dem Geburtsort des Autors) auf der Insel Ærø gespiegelt hat.

Laurids Madsen aus Marstal überlebt also die Schiffsexplosion in der Schlacht von Eckernförde 1849 und kehrt unversehrt zur Erde zurück. Später wird er sagen, seine Stiefel seien zu schwer für ein Leben da oben gewesen. Seitdem ist Laurids ein bisschen wunderlich, bis er irgendwann auf den Weltmeeren verschwindet. Seine Stiefel bleiben zurück, bis sein Sohn Albert sie anzieht. Albert macht sich, als er alt genug ist, auf den Weg in die Südsee, um seinen Vater zu suchen. Mit dem Schrumpfkopf von James Cook kehrt er als Reeder zurück in seine Heimatstadt. Er ist sich sicher, dass im neuen Jahrhundert die geschäftliche Zukunft in großen Segelschiffen liegt. Von Marstal aus sollen noch mehr Schiffe in See stechen. Doch ein Problem, das Albert nicht einkalkuliert hat, sind die Frauen.

Fazit

Wir haben hier schönstes Seemannsgarn – sogar für Leute wie mich, die mit Meer und Schiffen eigentlich gar nichts am Hut haben. Das Buch ist aber auch ein Denkmal – nicht nur für all die Seeleute der vergangenen Jahrhunderte, sondern auch für die Frauen, die oft genug jahrelang allein zu Haus blieben und sich um alles kümmern mussten.

Genauso ist es aber auch ein Plädoyer für Menschlichkeit, für die Verantwortung, sich dann, wenn es darauf ankommt, für das Richtige zu entscheiden. Ein Lobgesang auf das Leben. Auf Gemeinsinn und Solidarität. Und eine schier unerschöpfliche Schatztruhe an Figuren und Geschichten, die zwar keineswegs alle auf das Konto des Autors gehen, von denen wir ohne ihn jedoch nie erfahren hätten.

Ich zitiere ja gern Stellen, die mir besonders gut gefallen, aber hier fällt mir die Entscheidung schwer. Soll ich eine eher leichte und humorvolle oder eher eine traurige oder besonders gedankenvolle Stelle wählen?

Anton wurde als der Schrecken Marstals bezeichnet. Er hatte seinen Spitznamen erworben, als er mit einem Schuss aus einem Luftgewehr die Porzellanisolation an der Spitze einer Straßenlaterne zerschoss, woraufhin der Hälfte der Stadt im Dunkeln lag. Das Gewehr, das er sich von einem Vetter geliehen hatte, benutzte er im Übrigen dazu, für einen Hofbesitzer in Midtmarken Spatzen zu schießen, der ihm vier Öre für jeden Vogel gab. Die Vögel schmiss der Hofbesitzer auf den Mist, wo Anton sie wieder einsammelte und ihm dieselben Spatzen noch einmal verkaufte. Er konnte denselben Vogel bis zu viermal an den gutgläubigen Bauern verkaufen, der inzwischen eine ziemlich übertriebene Vorstellung von der Größe der Spatzenpopulation hatte, die seine Äcker heimsuchte. (S. 476)

Kurz gesagt, ein Roman, der selbst ein bisschen dem Meer ähnelt. Immer wenn man denkt, jetzt nähert sich das Buch dem Ende, reibt man sich verwundert die Augen und stellt fest, dass erst ein Drittel oder vielleicht die Hälfte vorbei ist und die Handlung ansetzt zu einer neuen Welle.

Nur gegen Ende hat den Autor, Professor für Kulturanalyse (geb. 1952), sein Gespür für Geschichten leider verlassen. Da sind die Schlachtenschilderungen eher schematisch und wirken die Unwahrscheinlichkeiten in der Handlung plötzlich albern und aufgesetzt und die Symbolik ein bisschen platt: Das Wiedertreffen der einstigen Jugendliebe – und das mitten auf dem Meer – und eine Unterwassergeburt in Todesgefahr, das wäre nicht nötig gewesen. Ein Neugeborenes als Symbol der Hoffnung mitten im Weltuntergang des Krieges, das hätte man sicherlich weniger aufdringlich  verpacken können.

Aber das ist ein Schönheitsfehler, der angesichts der Wucht des Romans auch nicht wirklich mehr ins Gewicht fällt.

Anmerkungen

Im Nachwort erläutert Jensen u. a., was er bei seinen Recherchen dem Museum Marstals (gegründet 1929), den angeschlossenen Archiven und auch den Bewohnern Marstals zu verdanken hat, die ihm nämlich Einblick in zum Teil sehr private Familienschriftstücke gewährten. Vieles davon hat er aufgegriffen und verarbeitet.

Hier äußert sich der Autor in der britischen Videoreihe The Interview Online über das Buch.

Hier geht’s lang zur Besprechung in der ZEIT.

Judith Leister fühlt sich in der NZZ zwar ein bisschen an den flunkernden Käpt’n Blaubär erinnert, trotzdem

ist man nach 784 Seiten auch als eingefleischte Landratte traurig, wenn man von den weitgereisten Fischköpfen aus Marstal Abschied nehmen muss.

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