Wilma Stockenström: Der siebte Sinn ist der Schlaf (OA 1981)

Wie schreibt man über ein Buch, das man am besten ohne alle Vorkenntnisse und Erwartungen lesen sollte und das man, am Ende angekommen, gleich noch einmal von vorn beginnen möchte, um sich erneut den Verästelungen zu widmen, die man beim ersten Lesen vermutlich übersehen hat? Es beginnt mit den Sätzen:

Also mit Bitterkeit. Aber die habe ich mir verboten. Dann eben mit Spott, der umgänglicher ist, der sich durchschaubar macht und dem es gleichgültig ist; und wie ein Vogel im Nest kann ich in meinen Baumstamm zurückschlüpfen und in mich hineinlachen. Und ebenso gut still sein, vielleicht einfach still sein, um mich hinauszuträumen, denn der siebte Sinn ist der Schlaf. (S. 5)

Eine ehemalige Sklavin irgendwo in südafrikanischen Veld hat Zuflucht in einem hohlen Affenbrotbaum gefunden. Von dort aus sammelt sie die wenige Nahrung, von dort aus hat sie einen kleinen Trampelpfad zum Wasser ausgetreten, in respektvoller Distanz zu Pavianen und Elefanten. Von in der Nähe lebenden Angehörigen der „kleinen Menschen“ wird sie mit lebensnotwendiger Nahrung versorgt. Doch zu einer echten Kontaktaufnahme mit diesem Stamm kommt es nicht, schon die sprachlichen Hürden wären unüberwindlich. Frech behauptet sie, dass deren Sprache klinge, „als würden Eidechsen reden.“

Hier so ganz und gar allein und niemandem mehr untertan, breitet die Ich-Erzählerin in einem wellen- und kreisförmigen Monolog ihre Reflexionen und Erinnerungen aus.

In meiner Erinnerung kreuzen und verschlingen sich mehr Pfade, als ich je in meinem Leben gesehen habe. Welcher Fährte hätte ich nicht zu folgen vermocht, wäre es mir vergönnt gewesen, wäre mein Spürsinn nicht so häufig durchkreuzt worden und die Spur in mir im Sande verlaufen? (S. 9)

Wir erfahren von ihren Besitzern, dem unerträglichen Los der Sklaven und Sklavinnen, wobei die Erzählerin aufgrund ihrer Schönheit, Intelligenz und Anstelligkeit immer eine etwas bevorzugte und genau dadurch auch isolierte Position als Sexspielzeug und Kindermädchen innerhalb der Leibeigenen inne hatte. Auch ihr wurden die Kinder, die sie mit ihren Besitzern zeugen musste, weggenommen. Und immer wenn ein Besitzer starb, wurde ihre ohnehin fragile Identität wieder ausgelöscht, wurde sie verkauft. Ihren letzten Besitzer jedoch liebt sie und er nimmt sie mit auf eine Expedition ins Landesinnere, auf der man hofft, neue Handelswege zu erschließen.

Soweit vielleicht zu den dürren Fakten der Handlung. Aber was für ein Buch. Auf nur 148 Seiten geht es karg, poetisch und unaufdringlich eindrucksvoll um die ganz großen Themen: Würde und  menschliche Überheblichkeit, Grausamkeit, der Widersinn der Sklaverei, Gedankenlosigkeit und das Ringen um eine eigene Identität, eine eigene Sicht auf die Dinge. Ein Frauenleben unter Tausenden, dem kein Anrecht auf sich selbst zugestanden wurde, und dann – am Ende – im Schatten des Affenbrotbaums erhebt diese einsame Frau ihre Stimme, niemandem mehr untertan, klar, verspielt und würdevoll.

Manchmal, wenn ich mich am Fluss wasche, betrachte ich mein Spiegelbild prüfend in einem stillen Wasserloch und versuche herauszufinden, um wieviel ich älter geworden bin. Es ist nicht leicht, denn auch wenn wir beide, ich und das Wasser, noch so reglos sind, gibt es doch immer eine feine, gefältete Verzerrung meines Bildes, Wasserfältchen, die meine möglichen Altersfalten schmeichelhaft ersetzen. Ich werfe einen Kiesel in mich selbst. Ich schwinge grotesk auf und nieder und teile mich in Stücke. Ich ruheloses Etwas. Dann ziehe ich mich von meinem gespaltenen Selbst im Wasser zurück. Wie sich mein Geist abmüht. (S. 86)

Ich gebe zu, die ersten Seiten waren etwas mühsam, so fremdartig, so ohne Brücke in mein Leben. Aber nun, nachdem ich mich sozusagen dem Aufprall des Buches ausgesetzt habe, kann ich den Worten der Times Literary Supplement nur zustimmen:

Wilma Stockenströms bezwingendes Bild von Leiden und Gewalt wird zum Klassiker werden.

Der Roman der südafrikanischen Schriftstellerin, Übersetzerin und Schauspielerin Stockenström (*1933) wurde übrigens zunächst von Nobelpreisträger Coetzee vom Afrikaans ins Englische übersetzt und erschien 1983 unter dem Titel The Expedition to the Baobab tree.

Die deutsche Übersetzung von Renate Stendhal, die bereits in den achtziger Jahren erschien, beruht auf der Fassung von Coetzee. Neu aufgelegt wurde das Buch vom Wagenbach Verlag 2020.

Hier eine Fotostrecke zu den beeindruckenden Affenbrotbäumen.