James Rebanks: Mein Leben als Schäfer (OA 2015)

Unsere ganze Klasse spielte gern ein „Spiel“, bei dem es darum ging, innerhalb einer Unterrichtsstunde schulische Ausstattung von größtmöglichem Wert zu schrotten und das Ganze als „Panne“ zu verkaufen. Bei solchen Aktionen war ich gut. Der Boden war übersät mit kaputten Mikroskopen, Tierpräparaten, zersplitterten Stühlen und zerfetzten Büchern. Eine in Formaldehyd konservierte Froschleiche lag mit gespreizten Gliedern auf dem Boden wie ein Brustschwimmer. Die Gashähne brannten wie eine Bohrinsel, ein Fenster bekam einen Sprung. Die Lehrerin starrte uns nur noch an, in Tränen aufgelöst und völlig am Ende, während ein Techniker versuchte, die Ordnung wiederherzustellen. Eine Mathestunde gewann für mich erst an Reiz, als der Lehrer und ein Mitschüler mit Fäusten aufeinander losgingen. […] Von Zeit zu Zeit versuchte jemand – stets ein Stümper -, die Schule in Brand zu stecken. Ein Junge, den wir schikanierten, brachte sich ein paar Jahre später mit seinem Auto um. (S. 10/11)

Dieser dreizehnjährige Lehrer-Alptraum aus dem Lake District im Norden Englands veröffentlicht also knapp drei Jahrzehnte später seine Autobiografie Mein Leben als Schäfer.

Die deutsche Übersetzung stammt von Maria Andreas.

Zum Inhalt

Nach einer wohl noch halbwegs unfallfrei verlaufenden Grundschulzeit ist die weiterführende Schule für den jungen James (*1974), der aus einer Schäferfamilie stammt, ein einziger Graus. Neben einer verwahrlosten Schulatmosphäre macht er dafür auch die angeblich so bornierten Lehrer und Lehrerinnen verantwortlich:

Dass wir, unsere Väter und Mütter stolze, hart arbeitende und intelligente Menschen sein könnten, die Nützliches, vielleicht sogar Bewundernswertes leisteten, überstieg den geistigen Horizont dieser Frau [gemeint ist seine Lehrerin]. Erfolg definierte sich für sie über Bildung, Ehrgeiz, Unternehmungsgeist und eine glanzvolle Karriere, doch damit konnten wir nicht punkten. Ich glaube nicht, dass an dieser Schule jemals das Wort „Universität“ fiel. Dort hätte auch keiner von uns hingewollt. Denn wer wegging, gehörte nicht mehr dazu. Er veränderte sich, und damit gab es für ihn kein Zurück mehr, was wir instinktiv spürten. Bildung war ein „Ausweg“, ein Weg in die Welt hinaus, aber dorthin wollten wir auch gar nicht, wir hatten unsere Wahl längst getroffen. Später begriff ich, dass man in modernen Industriegesellschaften geradezu davon besessen ist, „weiterzukommen“ und „etwas aus seinem Leben zu machen“. Darin drückt sich eine Abwertung aus, die ich unerträglich finde: Wer bleibt, wo er ist, und körperlich arbeitet, gilt nicht viel. (S. 12)

Im Haus der Großeltern galt Bücherlesen – zumindest, wenn ein Junge dabei erwischt wurde – als Zeichen übelster Faulheit, da auf dem Hof schließlich genügend andere Tätigkeiten dringlicher waren. Und auch wenn sich seine Mutter die Augen ausweint, sein Vater versteckt ihn einfach an den Tagen, an denen er die Schule schwänzt.

Diese miese, abgetakelte Schule hat mir fünf Jahre meines Lebens geraubt. Ich hätte eine Stinkwut deswegen, wenn ich nicht wüsste, dass ich dort mehr über mich selbst gelernt habe als überall sonst. Ich habe dort auch begriffen, wie schlecht das moderne Leben sehr vielen Menschen bekommt. Wie wenig Wahlmöglichkeiten es ihnen bietet. Sie haben eine Zukunft vor sich, die so stumpfsinnig ist, dass sie sich jedes Wochenende um den Verstand saufen müssen. (S. 107)

So wundert es wenig, dass der junge James mit 15 die Schule ohne Abschluss verlässt, um endlich etwas Sinnvolles zu tun, nämlich auf dem väterlichen Hof mitanzupacken.

Mit romantischen Disneybildern süßer Lämmer hat die Arbeit nichts zu tun.

Jeden Sommer wird eine Handvoll Schafe von Fliegenmaden befallen. Die bösartigen, gefräßigen kleinen Kriecher setzen sich auf einem Fleck verschmutzter Wolle fest, dann im Fleisch oder in einem Fuß. […] Ein befallener Fuß ist manchmal nur noch ein Klumpen wimmelnder Maden; Maden am Schwanz oder im Vlies sind schwieriger auszumachen und können sich über den ganzen Körper ausbreiten. Wird das Tier nicht behandelt, kann es daran sterben… (S. 47)

Und so lernen schon die Kinder, dass zum Leben auf dem Bauernhof eben auch gehört, dass man immer wieder mal Blut, Kot oder Schleim abbekommt und dass man nach den Tieren riecht, die man hält.

Was hier zählt, sind Ausdauer und körperliche Kraft.

Dad blickte öfter mitten im Scheren zu mir herüber und fragte spöttisch, ob ich müde sei. Ich hätte ihm am liebsten eine reingesemmelt. Jahrelang konnte ich nicht mit ihm mithalten. (S. 46)

Ganz besonders wichtig für den Heranwachsenden ist sein Großvater, der für ihn lange alle Tugenden und Fähigkeiten verkörpert, die einen guten Mann und Farmer auszeichnen.

Aber er brachte mir auch Werte bei, eine innere Haltung – wie man fair mit den Leuten handelt und sich Respekt verdient, wie man Geschäfte macht und unseren guten Namen schützt. Von frühester Kindheit an wurde uns eingeimpft, dass wir zu einer Familie und einer Gemeinschaft gehören und Werte zu bewahren haben, die wichtiger sind als unsere persönlichen Wünsche und Launen. Der Hof und die Familie kommen stets an erster Stelle. (S. 82)

Doch dann gibt es immer häufiger Streit zwischen James und seinem Vater.  Zunächst flüchtet James in die Welt der Bücher, doch als der Hof trotzdem zu eng für die zwei Männer wird und sie sich mehrmals an die Gurgel gehen, wird ihm klar, er muss da raus.

Saufen. Schlägern. Vögeln. Diese Zukunft sah ich vor mir und hatte keine Lust darauf. Aber ich wusste nicht recht, was ich mit mir anfangen sollte. Der Optimismus, der mich nach dem Schulabgang beflügelt hatte, war verflogen. (S. 137)

Da trifft er mit 21 seine Herzdame und – man glaubt es kaum – besucht die Abendschule, um seine Hochschulreife zu erwerben. Als der Lehrer ihn irgendwann fragt, ob er nicht studieren wolle, lacht James ihn zunächst aus.

Ich wünschte mir kein einziges Mal, ach, wäre ich doch zur Universität gegangen. Die wenigen Leute aus meinem Bekanntenkreis, die studiert hatten, schienen nach ihrer Rückkehr auch nicht klüger, sondern hatten eher eine Menge Unsinn gespeichert. Und sie gehörten nie mehr richtig dazu. Trotzdem brachte mich die Frage ein wenig aus dem Gleichgewicht. Ich wollte nicht wirklich weg von hier, aber wenn der Lehrer fand, mir liege dieser Bücherkram, dann hieß das vielleicht, dass ich Wahlmöglichkeiten hatte. Und die brauchte ich. Die Bücher und die Abendschule öffneten mir einen Freiraum, über den ich selbst verfügen konnte. Ich erweiterte meinen Horizont und entdeckte, dass man sein eigenes Schicksal in einem viel größeren Umfang gestalten kann, als ich es bisher erlebt hatte. Wer mehr las, härter arbeitete, die Dinge klug durchdachte und besser als andere Leute schrieb oder argumentierte, der war auf der Gewinnerseite. (S. 144)

Anschließend studiert er in Oxford. Genau dieser Ausflug in die intellektuelle Welt ermöglicht ihm heute, freiberuflich als beratender Experte beim UNESCO-Weltkulturerbezentrum in Paris zu arbeiten, eine Tätigkeit, ohne die sein Hof heute wirtschaftlich wesentlich schlechter dastehen würde.

Und so erfahren wir, welche Arbeit vonnöten ist, um die Lammsaison über die Bühne zu  bringen (besonders, wenn im April noch mal Schneestürme toben), wie die Schäfer und Züchter ihre Schafe auf den Märkten verkaufen (und vorher hübsch frisieren, da werden auch schon mal ein paar Haare in der falschen Farbe mit Pinzette ausgezupft) und wann die Schafe auf welchen Weiden gehalten werden und wie sich das anfühlt, wenn einem die ganze Heuernte für den nächsten Winter verregnet.

Aber auch derbe und zarte Familienanekdoten fehlen nicht, die das Ganze erden und dem Buch eine authentische, bodenständige Atmosphäre geben.

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  • Die erste Schäferregel lautet: Es geht nicht um dich, sondern um die  Schafe und das Land.
  • Die zweite Regel: Manchmal hast du keine Chance.
  • Die dritte Regel: Quatsch nicht lang, sondern komm in die Pötte. (S. 202)

Fazit

Es ist ein Buch, das – in der Chronologie hin und her springend und locker den vier Jahreszeiten folgend – nicht nur einen interessanten und mit Informationen überbordenden Einblick in eine mir völlig fern liegende Welt, die Bergschäferei auf den nordenglischen Fells, erlaubt und verdeutlicht, wie viel Knochenarbeit, Sachverstand, Sturheit und regendichte Klamotten dafür vonnöten sind.

Es ist eine hinreißende Liebeserklärung an seine Heimat im Lake District, an seinen Großvater und seine Familie, an seine Herdwick-Schafe und Hütehunde und vor allem an seinen Beruf, den er als Berufung erlebt, ja schon fast mythisch überhöht:

Wir werden geboren, leben unser arbeitsreiches Leben und sterben, vergehen wie die Eichenblätter, die im Winter über unser Land wehen. Wir sind alle ein winziger Teil dessen, was überdauert und was wir als solide, echt und wahrhaftig empfinden. Unser Schäferleben wurzelt tief im Boden dieser Landschaft, tiefer als fünftausend Jahre. (S. 20)

Bei der Arbeit hier oben wird man demütig; sie befreit einen von jeder Illusion, wichtig zu sein; man könnte sagen, sie ist das Gegenteil vom Bezwingen eines Bergs. (S. 280)

Es ist aber auch ein sperriges und stellenweise trotziges Buch, das manchmal so tut, als könnte man die Komplexität der modernen Gesellschaft einfach dadurch auflösen, dass am besten einfach alle da bleiben, wo sie herkommen.

Touristen sind für ihn die lästigen Leute in teurer Funktionskleidung, die achtlos an den Jahrhunderte alten Steinmauern vorbeischlendern und deren Hunde unangeleint auf die Schafe losgehen und sich dann noch aufregen, wenn eine Schafherde die Straße versperrt.

Wobei er die Entwicklung des Lake District zum „malerischen Tummelplatz“ sicherlich nicht ohne Grund mit großer Skepsis betrachtet:

Heute strömen jedes Jahr 16 Millionen Besucher in ein Gebiet mit 43.000 Einwohnern. Sie geben jährlich über eine Milliarde Pfund aus. Mehr als die Hälfte aller Arbeitsplätze in der Region hängen vom Tourismus ab, und viele der Bauern sind darauf angewiesen, ihr Einkommen durch Bed & Breakfast oder andere Angebote aufzubessern. Aber in manchen Tälern sind über zwei Drittel der Häuser Zweitwohnsitze oder Feriendomizile, und viele Einheimische können sich das Wohnen in ihrer eigenen Gemeinde nicht mehr leisten. […] Es gibt Orte, die sich nicht mehr wie unsere eigenen anfühlen, als hätten die Gäste das Gästehaus übernommen. (S. 15)

Den Touristen spricht er das Recht ab, von einer „Liebe“ zum Lake District sprechen zu dürfen:

Es ist sonderbar, wenn man allmählich begreift, dass die eigene Landschaft auch von anderen Menschen geliebt wird. Noch sonderbarer und ein wenig beunruhigend ist es, wenn man nach und nach entdeckt, dass wir Einheimischen bei allem, was diese Menschen mit unserer Landschaft verbinden, eigentlich gar nicht vorkommen. Wenn es schüttet wie aus Kübeln oder im Winter schneit, sind nie Touristen hier, deshalb ist man versucht, ihre Liebe zum Lake District als Schönwetterliebe abzutun. Unsere Beziehung zu dieser Landschaft beruht darauf, dass wir hier alles miterleben. Für mich ist das ein ähnlicher Unterschied wie zwischen der Teenie-Liebe zu einem hübschen Mädchen und der Liebe zur eigenen Frau nach vielen Jahren Ehe. (S. 99)

Aber natürlich ist auch der uralte Beruf des Schäfers an die moderne Marktwirtschaft und unser Konsumverhalten gekoppelt:

Das einzig Traurige an der Scherzeit ist, dass Wolle, eines der großartigsten Produkte der Welt, heute so geringe Preise erzielt. […] Bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts brachten Karawanen von Pferden oder Eseln Wollballen über die Berge nach Kendal, einer Stadt, die ganz vom Wollhandel lebte. Die Klöster, die im Mittelalter weite Bereiche des Lake District besaßen, erwarben einen Großteil ihres Reichtums durch Wolle. Heute bezahlen wir einem professionellen Scherer ein Pfund pro Tier. Das Vlies ist nur vierzig Pence wert und bringt damit nur einen Teil der Kosten herein, von einem Gewinn ganz zu schweigen. In manchen Jahren machen wir uns gar nicht die Mühe, die Wolle zu verkaufen, weil der Preis so schlecht ist, und verbrennen sie einfach. (S. 48)

Nach der Lektüre wird man also der nächsten Schafherde ein bisschen nachdenklicher nachblicken, die unvergleichliche und uralte Kulturlandschaft des Lake District mit anderen Augen betrachten als vorher und sich fragen, wo man eigentlich selbst seine Wurzeln, seine Heimat hat.

Alles in allem also empfehlenswerte Pflichtlektüre für alle, die demnächst ihren Urlaub – so als schnöselige Touristen – im Lake District verbringen wollen.

In den alten Scheunen von Gatesgarth, wo ein anderer unserer Freunde seine Schafe züchtet, Willie Richardson, sind die Balken mit Rosetten und Urkunden für Herdwicks geschmückt, die sich im Laufe eines ganzen Jahrhunderts angesammelt haben; manche sind zerfleddert, verblichen und befinden sich in unterschiedlichen Verfallsstadien, andere sind aus den letzten Jahren. […] Orte wie diese alten Steinscheunen enthalten die wahre Geschichte und Kultur des Lake District. Aber nur die Schäfer und Schäferinnen, die dort ihre Tiere herausputzen, haben diese Auszeichnungen je gesehen; Tausende Besucher laufen auf ihren Wanderungen an den Scheunen vorbei und erfahren nie, welche Schätze sie bergen. (S. 273)

Aber es bleibt ein ungelöstes Rätsel, weshalb ein solches Buch so dermaßen kärglich, ja lieblos bebildert ist. Wahrscheinlich soll man gleich dem  Autor auf Twitter folgen.

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 Hier gibt es die Rezension des Bestsellers aus der New York Times.

Benjamin Mee: We bought a Zoo (2008)

Wie wähle ich bloß immer meine Bücher aus? Das Cover ließ auf seichte Unterhaltung schließen, doch die Geschichte klang skurril und ich gehe so gern in Tierparks, also kam We bought a Zoo: The amazing true story of a broken-down zoo, and the 200 animals that changed a family forever, das dann als Vorlage für den Film mit Matt  Damon dienen sollte, vor einigen Jahren mit nach Hause. Die deutsche Übersetzung von Theda Krohm-Linke erschien unter dem Titel Wir kaufen einen Zoo: eine ganz gewöhnliche Familie und ein verrückter Traum.

Der britische Journalist Benjamin Mee erzählt also seine Geschichte ab dem Jahr 2004; damals war er gerade mit Frau und Kindern nach Frankreich ausgewandert und sah einem entspannten Journalisten- und Familienleben in südeuropäischen Gefilden entgegen.

L’Ancienne Bergerie, June 2004, and life was good. My wife Katherine and I had just made the final commitment to our new life by selling our London flat and buying two gorgeous golden-stone barns in the south of France, where we were living on baguettes, cheese and wine. […] I was writing  a column for the Guardian on DIY, and two others in Grand Design magazine, and I was also writing a book on humour in animals, a long-cherished project which, I found, required a lot of time in a conducive environment. And this was it. (S. 5)

Doch ab da verschränken sich zwei Entwicklungen: Seine Frau Katherine erkrankt an Krebs und er, seine Mutter und seine Geschwister stehen plötzlich vor der ziemlich durchgeknallten Frage, ob sie einen völlig heruntergewirtschafteten Zoo in Dartmoor, England, kaufen wollen. Benjamin Mee ist sich im Klaren darüber, dass diese Idee „hare-brained“ ist, was aber nichts an ihrer Antwort ändert: Sie wollen.

Und so entfaltet sich eine Geschichte, die auf der einen Seite traurig ist und uns an unsere Endlichkeit erinnert. Dabei ist das Buch kein bisschen weinerlich oder selbstmitleidig, dafür aber ehrlich, diskret und anrührend.

So beschreibt er seinen ersten Besuch im Krankenhaus, nachdem er erfahren hat, dass Katherine keineswegs nur ein neues Mittel gegen ihre Migräne braucht, sondern einen Hirntumor hat:

I found Katherine sitting up on a trolley bed, dressed in a yellow hospital gown, looking bewildered and confused. She looked so vulnerable, but noble, stoically cooperating with whatever was asked of her. Eventually we were told that an operation was scheduled for a few days‘ time, during which high doses of steroids would reduce the inflammation around the tumour so that it could be taken out more easily. Watching her being wheeled around the corridors, sitting up in her backless gown, looking around with quiet confused dignity, was probably the worst time. The logistics were over, we were in the right place, the children were being taken care of, and now we had to wait for three days and adjust to this new reality. I spent most of that time at the hospital with Katherine, or on the phone in the lobby dropping the bombshell on friends and family. The phone calls all took a similar shape; breezy disbelief, followed by shock and often tears. After three days I was an old hand, and guided people through their stages as I broke the news.  (S. 11)

Und auf der anderen Seite ist sein Buch oft witzig, vielleicht weil Mee einfach so schreibt, wie die Dinge eben sind. Er beobachtet genau und ist nicht auf billige Knalleffekte bedacht. Er schildert präzise, z. B. eine abendliche Joggingrunde – noch während der Zeit in Frankreich – zusammen mit seinem großen Hirtenhund Leon:

Unusually I was out for a run, a bit ahead of Leon, so I was surprised to see him up  ahead about 25 metres into the vines. As I got closer I was also surprised that he seemed jet black in the moonlight, whereas when I’d last seen him he was his usual tawny self. Also, although Leon is a hefty 8 stone of shaggy mountain dog, this animal seemed heavier, more barrel-shaped. And it was grunting, like a great big pig. I began to conclude that this was not Leon, but a sanglier, or wild boar, known to roam the vineyards at night and able to make a boar-shaped hole in a chain-link fence without slowing down. I was armed with a dog lead, a propelling pencil (in case of inspiration) and a head torch, turned off. … As the light snapped on, the grunting monster slowly wheeled round and trotted into the vines, more in irritation than fear. And then Leon arrived, late and inadequate cavalry, and shot into the vineyards after it. Normally Leon will chase imaginary rabbits relentlessly for many minutes at a time at the merest hint of a rustle in the undergrowth, but on this occasion he shot back immediately professing total ignorance of anything amiss, and stayed very close by my side on the way back. Very wise. (S. 21)

Außerdem habe ich richtig mitgefiebert, ob sie all die bürokratischen, finanziellen und handwerklichen Hindernisse überwinden, die ihrer Erlaubnis, den Zoo wieder eröffnen zu dürfen, im Wege stehen.

Nach dem Lesen sieht man Zoos und ihre vielfältigen Aufgaben garantiert differenzierter und mit mehr Wertschätzung und zum anderen nimmt man es nicht mehr als einfach gegeben hin, dass die gefährlichen Tiere auch brav hinter den Gittern und in ihren Gehegen bleiben.

Anmerkungen

Hier der Webauftritt von Mees Dartmoor Zoological Park.

Hier Fotos von Friedrich Seidensticker, die ich immer wieder anschauen kann.

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James Herriot: All Creatures Great and Small (1970)

They didn’t say anything about this in the books, I thought, as the snow blew in through the gaping doorway and settled on my naked back. I lay face down on the cobbled floor in a pool of nameless muck, my arm deep inside the straining cow, my feet scrabbling for a toe hold between the stones. I was stripped to the waist and the snow mingled with the dirt and the dried blood on my body. I could see nothing outside the circle of flickering light thrown by the smoky oil lamp which the farmer held over me.

Mit diesen Sätzen beginnt die Reihe um den britischen Tierarzt James Herriot, der im wahren Leben James Alfred Wight hieß.

Das hätte sich Wight (1916 – 1995) am Anfang wohl auch nicht träumen lassen, dass er unter dem Pseudonym James Herriot – Tierärzten war jegliche Eigenwerbung verboten, deshalb ein Pseudonym – mit seinen halb fiktiven Erinnerungen und Erlebnissen aus seinem Arbeitsleben einmal weltberühmt werden würde, die dann auch noch verfilmt wurden. Dabei hatte er zuvor jahrelang nach einem Verleger suchen müssen. Er begann erst mit 50 zu schreiben und trotz des Erfolges, der sich dann einstellte, hat er bis zu seiner regulären Pensionierung  in der gemeinsamen Praxis gearbeitet.

Durch einen Umweg bin ich wieder auf ihn aufmerksam geworden. Zwar hatte ich als Kind wie vermutlich viele andere die Verfilmungen gesehen, doch als ich Jahrzehnte später den ersten Band seiner Erinnerungen geschenkt bekam, wanderte der ungelesen ins Regal nach dem Motto: Irgendwann mal oder auch nicht. Nachdem ich dann eher zufällig über die englischen Originalfolgen der Fernsehserie „All Creatures Great and Small“ gestolpert bin, kramte ich das Buch wieder aus dem Regal.

Das war für mich der Beginn eines wochenlangen Abtauchens. Und die Folgebände mussten auch noch her. Da geht es dann leider nicht immer chronologisch weiter: Vieles wirkt lieblos zusammengestoppelt, so als seien Verlag und Autor vom Erfolg überrannt worden, dem dann rasch etwas nachgeworfen werden musste.

Der Leser, der Zuschauer lernt das Leben als Tierarzt in Yorkshire ab den vierziger Jahren kennen. Die Menschen lebten auf kleinen Farmen, arbeiteten hart und waren viel unmittelbarer von der Natur und dem Lauf der Jahreszeiten abhängig. Die Tierärzte sahen sich auf der einen Seite mit damals noch unheilbaren Tierseuchen konfrontiert, die dem einzelnen Bauern die gesamte Existenzgrundlage innerhalb von Tagen zertrümmern konnten, und auf der anderen Seite gab es allmählich Veränderungen und Fortschritte in der Tiermedizin. Die Arbeit als Tierarzt ist dabei keineswegs immer ungefährlich. Einmal wäre James auf dem Weg zu einem kranken Tier beinahe ums Leben gekommen, weil er im Schneesturm den Weg verloren hatte.

Die drei Kollegen, zunächst ohne weibliche Unterstützung, sieht man von der wunderbaren, immer leicht genervten Haushälterin Mrs Hall einmal ab, ergänzen einander auf Feinste: James‘ Chef Siegfried Farnon ist aufbrausend, unberechenbar und dabei gutherzig und großzügig, während sein jüngerer Bruder Tristan das Leben in vollen Zügen genießt, frühes Aufstehen verabscheut, sich wo immer möglich, der Arbeit entzieht und ein gutes Bier und weibliche Gesellschaft zu schätzen weiß. Am pflichtbewussten James bleibt dagegen mehr als einmal der Löwenanteil der unangenehmeren Arbeiten hängen und am Anfang hat er, der zugezogene Schotte, seine liebe Not mit den einheimischen Bauern, die ihn erst gar nicht recht ernstnehmen wollen, besonders wenn er mit so neumodischen Behandlungsmethoden um die Ecke kommt.

Und im Sprechzimmer tummeln sich bizarre Patienten und ihre manchmal noch bizarreren Herrchen und Frauchen. Aber spätestens bei den Fahrten über Land ist meist aller Ärger vergessen, wenn James sich an der herbschönen Landschaft Yorkshires erfreut.

Ich mag die Geschichten mit ihrem Witz und ihrer Situationskomik noch immer, wobei auch traurige und ernsthafte Ereignisse ihren Platz haben. Und natürlich findet James auch seine Herzdame. Kurzum: eine (fiktive) Welt, in der Anstand, Menschlichkeit und Freundschaft ganz wesentliche Bestandteile sind.

Für mich also Geschichten mit einem riesengroßen Entspannungsfaktor, bei denen es gleichermaßen um die Tiere wie um die Menschen mit all ihren Eigenheiten, Kümmernissen und Freuden geht.

Und im letzten Urlaub habe ich mir ein Loch in den Regenschirm gefreut, als ich in einem richtig schönen Secondhand-Bookshop den Bildband „James Herriot’s Yorkshire, with photographs by Derry Brabbs“ von 1979 entdeckt habe.

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Natürlich musste ich dann auch die Biografie seines Sohnes lesen: 1999 erschien The Real James Herriot: A Memoir of my Father von Jim Wight.

Das Buch des Sohnes über seinen erfolgreichen Vater liest sich interessant und durchaus erhellend, selbst wenn es an der ein oder anderen Stelle etwas verklärend geraten ist. Es ermöglicht den Vergleich zwischen Fiktion und dem Tatsächlichen, ohne dass dadurch der Charme und das Liebenswerte der Bücher von Alf Wight verloren gehen.

Ernüchternd war allerdings zu erfahren, dass das Verhältnis der drei Kollegen keineswegs immer so rein freundschaftlich war, wie es die Erzählungen von „James Herriot“ vermuten lassen. „Siegfried“ drohte als älterer Herr sogar mit dem Anwalt und der Beendigung der jahrzehntelangen Freundschaft, sollte Alf die Bücher veröffentlichen.

Für Wights Humor und seine Freundlichkeit findet man in dem Buch weitere schöne Beispiele: Meine Lieblingsstelle schildert, wie seine zukünftige Schwiegertochter ihm einen Entschuldigungsbrief schreibt, nachdem sie am Abend vorher auf der „first publication party“ die Auswirkungen des Alkohols unterschätzt und den Abend dann wohl überwiegend auf der Damentoilette verbracht hatte. Wight antwortet ihr ganz reizend:

My dear girl, I hasten to assure you that your feelings of remorse are entirely unnecessary and, in fact, there is something ludicrous in apologising to me, the veteran of a thousand untimely disappearances and as many black and hopeless dawns. I see you describe yourself as a ‘sordid little heap in the Ladies’. Well that’s a good description of me but for ‘Ladies’ read ‘Gents’ or ‘Friend’s back room’, or ‘Back seat of car’ or, in one case, ‘Corner of tennis court’.
Let me further assure you that your ‘awful behaviour’ was probably not even noticed by a roomful of people who had punished the champers for a couple of hours, then waded into the vino for a similar period. It remains rather a blur to me.
I dimly remember the two Michael Joseph men making rather incoherent speeches of thanks to which, they tell me, I made a slurring twelve-word reply. I honestly don’t remember and that goes for a very drunken Tristan and most of the others.
But I do remember meeting you right at the start and that was lovely.

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Das es dieses alte Schätzchen auf meinen Blog geschafft hat, ist die Schuld von Birgit, die auf ihrem ehemaligen Blog in ihrer Reihe #Verschämte Lektüren dazu aufgerufen hatte, im heimischen Buchregal auf die Suche nach “literarisch unterirdischen Werken“ zu gehen, „die man verschämt in der hintersten Ecke des Regals versteckt und von denen man sich dennoch nicht trennen mag“. Das fand ich zunächst wirklich schwierig, denn Bücher, die ich verschämt etwas diskreter lagere, gibt es nicht. Die Bücher, die ich mag, stehen sichtbar da, wo sie nach der Lesechronologie halt hingehören.

Also, was tun? Nach ein bisschen Grübelei bin ich doch noch fündig geworden. Es gibt so einen Leseschatz, von dem ich bisher wirklich niemanden überzeugen konnte. Literarisch „unterirdisch“ ist er zwar nicht, allerdings von den englischsprachigen Verlagen grottenschlecht betreut. Eigentlich ist es ein Dreiklang aus den Büchern, der Fernsehserie und einer wunderbaren Landschaft, der mich nach wie vor entzückt. Es geht natürlich um Den Doktor und das liebe Vieh.

Und: Liebe Birgit, das hat jetzt richtig Spaß gemacht. Nicht zuletzt auch wegen der herrlichen Kommentare, die sich inzwischen bei dir tummeln. Da kann man dann auch mitverfolgen, wie man von James Herriot zu Männern mit schönem Haar und zu John Boy von den Waltons kommt. Ganz zu schweigen von Winnetou, der durch die Lateinstunden ritt…

Einer meiner Favoriten kommt von Drittgedanke:

Jaaaa! 🙂 Ein Traum aus Tweed und Fünf-Uhr-Tee-Plüschigkeit. Endlich, endlich eine Gelegenheit um mich ganz un-verschämt zu outen: DEN hätte ich sofort geheiratet – damals, als Zehnjährige. (Jaja, die Episode mit dem Ehering habe auch ich gerade vor Augen…) Ich brauche sofort meinen Strick-Pollunder mit Zopfmuster – herrje, wo ist mein Strick-Pollunder?!

Sam Savage: Firmin – ein Rattenleben (OA 2006)

Ich hatte mir immer vorgestellt, dass meine Lebenserinnerungen, wenn ich sie jemals niederschreiben sollte, mit einem großartigen ersten Satz anfangen müssten: mit etwas Lyrischem wie Nabokovs ‚Lolita, Licht meines Lebens, Feuer meiner Lenden‘ oder, falls das Lyrische mir nicht so läge, vielleicht mit etwas Philosophischem wie Tolstois ‚Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich; aber jede unglückliche Familie ist auf ihre besondere Art unglücklich‘. An solche Sätze erinnert man sich, wenn man alles andere in diesen Romanen schon längst vergessen hat. Der beste aller Anfangssätze ist meiner Meinung nach jedoch die Zeile, mit der Ford Madox Ford seinen berühmtesten Roman beginnt: ‚Dies ist die traurigste Geschichte, die ich je gehört habe.‘ Das habe ich bestimmt schon Dutzende von Malen gelesen, und es haut mich immer wieder um. Ford Madox Ford war ein ganz Großer.

So beginnt das zweite Buch des 1940 geborenen Autors Sam Savage, das im Original unter dem Titel Firmin. Adventures of a Metropolitan Lowlife (2006) erschienen ist.

Der Inhalt ließe sich in einem Satz zusammenfassen: Eine belesene Ratte schreibt ihre Lebenserinnerungen nieder. Doch nun etwas genauer:

Geboren von einer alkoholsüchtigen Mutter, gestraft mit zwölf durchsetzungsfreudigen Geschwistern, wächst das Rattenkind Firmin im Keller einer Bostoner Buchhandlung in den sechziger Jahren des letzten Jahrhunderts auf.

Firmin muss zusehen, dass er genug zu fressen bekommt, da er schwächlicher als seine Geschwister ist. Also knabbert und nagt er sich durch die Bücher in den Regalen, bis er feststellt, dass er dabei lesen gelernt hat. Diese Fähigkeit macht ihn zu einem eigenbrötlerischen Außenseiter und er findet sein Glück darin, sich heimlich durch die ganzen Werke in der Buchhandlung zu ackern und sich dabei einen beachtlichen Wissensschatz anzueignen.

Darüber hinaus ist er – selbst für eine Ratte – außerordentlich hässlich:

Kopflastig und schwachgliedrig, gewöhnte ich mir eine schwerfällige Gangart an, und während ich mir später einbildete, sie verleihe mir eine Aura von Seriosität und Würde, ließ sie mich anfangs nur noch verrückter aussehen. Ich konnte nichts dagegen machen, beim Gehen oder Traben schwang mein überdimensionaler Kopf hin und her, was an einen Ochsen denken ließ. Meine Frontlastigkeit hatte außerdem zur Folge, dass ich oft auf die Nase fiel, was die anderen natürlich unendlich lustig fanden. (S. 44)

Dennoch neigt Firmin ein wenig zur Eitelkeit. Als er wegen eines Beinbruchs humpelt, findet er das ganz schick.

Wenn überhaupt, dann fand ich, dass es mir ein distinguiertes Aussehen verlieh. Gern hätte ich einen kleinen Stock und eine Sonnenbrille hinzugefügt. Ausdrücken wie panache und debonair habe ich mich immer nah gefühlt. Wenn es möglich gewesen wäre, hätte ich mir auch noch einen kleinen schwarzen Spitzbart wachsen lassen. (S. 136)

Er kann aber nicht nur lesen, sondern darüber hinaus auch die Sprache der Menschen verstehen. Sein großer Kummer ist, dass er sich ihnen nicht verständlich machen kann, obwohl er alles probiert. Sogar Zeichensprache studiert er, doch alles was er damit zum Ausdruck bringen kann, ist: „Auf Wiedersehen, Reißverschluss.“ Was ihn allerdings wieder vor das Problem stellt, wo er einen Taubstummen findet, der den Satz überhaupt verstehen könnte.

Seine Versuche, sich mit dem Buchhändler Norman anzufreunden, enden damit, dass Norman ihn mit kleinen rosa Kügelchen umbringen will. Doch ein anderer Hausbewohner, der Trinker und Science Fiction-Autor Jerry Magoon, findet das verletzte Kerlchen und gewährt ihm Asyl. Firmin und Jerry kommen eigentlich gut miteinander aus, auch wenn es ihn traurig macht, von seinem Retter nur als putziges Haustier missverstanden zu werden. Doch auch dieses Zuhause ist bedroht: Jerry erleidet einen Schlaganfall und zudem soll das ganze heruntergekommene Stadtviertel abgerissen und saniert werden.

Fazit

Vielleicht hätte ich Firmin auf Englisch lesen sollen. Es hat mich gestört, dass schon der dritte Satz des Eingangszitats nur unvollständig wiedergegeben wurde. Im Original heißt es: „When it comes to openers, though, the best in my view has to be the beginning of Ford Madox Ford’s The Good Soldier: ‚This is the saddest story that I have ever heard.'“

Und Ratten sind für mich – auch nach der Lektüre – noch immer keine Sympathieträger, zumal Firmin manchmal ziemlich geschwätzig daherkommt, dennoch ist das Buch eine bezaubernde Liebeserklärung an die Literatur. Und Firmin verdankt den Büchern ja buchstäblich sein Überleben.

Und in Afrika essen darbende Kinder bei Hungersnöten Erde. Wenn man hungrig genug ist, steckt man sich alles in den Mund. Das Kauen und Runterschlucken von irgendetwas ist an sich, auch wenn es keinerlei Nährwert hat, Nahrung fürs Träumen. Und Träume von Nahrung sind genau wie andere Träume – man kann davon leben, bis man stirbt. (S. 27)

Allzu viel erfahren wir dabei zwar nicht über die Bücher, die er liest, Savage bleibt da meist – wie das Eingangszitat zeigt – beim Namedropping bekannter Werke. Dennoch: Die Literatur macht hier ein Außenseiterleben erträglich, ja verleiht ihm Weite und Glanz, auch wenn es nur in Firmins Tagträumen ist.

Wenn ich einen Satz träume, wie zum Beispiel ‚die Musik verklang, und in der Stille ruhten alle Augen auf Firmin, der reserviert und gelassen am Eingang zum Ballsaal stand‘, dann sehe ich nie eine zu kleine, kinnlose Ratte am Eingang des Ballsaals. Die Wirkung wäre eine ganz andere. Nein, ich erblicke immer jemanden, der Fred Astaire sehr ähnlich sieht: schmale Taille, lange Beine und ein Kinn wie eine Stiefelspitze. Manchmal kleide ich mich auch wie Fred Astaire. In dieser speziellen Szene  trage ich Frack und Gamaschen und Zylinder. Die Beine in Höhe der Fußgelenke gekreuzt, stütze ich mich lässig auf einen Stock mit silbernem Knauf. (S. 104)

Oder ist es eher so, dass hier jemand durch die Literatur zum Außenseiter wird? Sie verstärkt die Einsamkeit Firmins, der sich und seine literarischen Reisen und Einsichten niemandem mitteilen kann.

Als promovierter Philosoph lasst Savage seinen kleinen grauen Helden auch über den Sinn des Lebens nachsinnen.

Sollte ich, ungeachtet meines absonderlichen Aussehens, zu etwas Großem berufen sein? Zu einem Schicksal, meine ich, wie es die Figuren in Geschichten haben, wo alle Ereignisse eines Lebens, mag es darin auch noch so brodeln und wirbeln, in all dem Brodeln und Wirbeln am Ende ein sinnvolles  Muster erkennen lassen? In Geschichten hat ein Leben immer eine Richtung und eine Bedeutung. (S. 56)

Doch am Laufe eines Rattenlebens – geboren zu werden, die Kindheit zu überstehen, eine gute Zeit zu haben, um dann schließlich alt, gebrechlich und einsam zu sein – ändert auch die Literatur nichts.

Ich glaube immer, alles währt ewig, doch das ist nie der Fall. Tatsächlich existiert alles nur einen Augenblick, außer den Dingen, die wir im Gedächtnis behalten. Ich versuche stets, alles festzuhalten – ich würde lieber sterben, als zu vergessen. (S. 176)

Anmerkungen

Im Telegraph gibt es einen interessanten Artikel über den Autor, der ja erst sehr spät zu literarischem Ruhm gekommen ist und ein eher unstetes Leben geführt hat. Auf die Frage, weshalb er so lange mit seinem ersten Roman gewartet habe, erklärt er u. a.:

I couldn’t have written it at any other time. But also, Firmin’s essential experience is of failure – failure to write, failure to complete – and I’d had that experience. You can’t have that at 30, because you think it’s going to happen: you have to reach a certain age before you realise that it isn’t.

Gern verweise ich auf die Besprechungen auf dem Grauen Sofa, bei dem ich zum ersten Mal auf das Buch aufmerksam wurde, und dem Blog Biblionomicon.

Mary Chase: Harvey (1944)

Diejenigen, denen der Name James Stewart noch etwas sagt, kennen das Theaterstück um den großen weißen Hasen Harvey wohl vor allem durch die Verfilmung (1950) mit Stewart, der mit weltverlorenem Charme den stets liebenswürdigen, möglicherweise verrückten Elwood P. Dowd verkörpert. Zu verdanken haben wir den Hasen Mary McDonough Coyle Chase. Die deutsche Fassung erschien unter dem Titel Mein Freund Harvey.

Für das Stück Harvey hat die Autorin 1945 den Pulitzer-Preis für Theater bekommen. Die Geschichte selbst ist rasch erzählt:

Veta Louise Simmons möchte ihren Bruder Elwood P. Dowd in ‚Chumley’s Rest‘, einem Sanatorium für Geisteskranke, einweisen lassen. Zwar lebt sie mit ihrer Tochter Myrtle May bei ihm, da er das elterliche Haus geerbt hat, aber die Tatsache, dass der 47-jährige Elwood konsequent behauptet, sein bester Freund sei ein fast zwei Meter großer weißer Hase namens Harvey, sorgt ständig für peinliche Situationen und macht soziale Kontakte schwierig.

Veta und die geldgierige Myrtle befürchten, dass Myrtle mit einem ‚verrückten‘ Onkel niemals einen Ehemann finden wird. Also soll er mit Hilfe des Anwalts der Familie ins Heim abgeschoben werden, obwohl Elwood herzensgut ist und sich im Laufe der Handlung die Hinweise mehren, dass Harvey womöglich doch existiert. Elwood bezeichnet ihn als Pooka, was im Stück erklärt wird:

From old Celtic mythology. A fairy spirit in animal form. Always very large. The pooka appears here and there, now and then, to this one and that one, at his own caprice. A wise but mis-chie-vi-ous creature. Very fond of rum-pots…

Martin Schulze bezeichnet in seiner Geschichte der amerikanischen Literatur von 1999 das Stück als unterhaltsame Komödie um einen gutmütigen, aber verrückten Trunkenbold. Das greift meines Erachtens aber zu kurz, und auch die Verwechslung innerhalb des Sanatoriums, bei der für kurze Zeit Veta für die Geisteskranke gehalten wird und gegen ihren Willen den ersten Wasseranwendungen unterzogen wird, hat durchaus auch dunkle Untertöne. Rabiat wird sie von einem Pfleger entkleidet, denn gilt man erst einmal als verrückt, hat man das Recht auf Würde und Selbstbestimmung verspielt.

Veta will zwar das Beste für ihre Tochter, aber aus Angst vor gesellschaftlicher Ächtung will sie jemanden einweisen lassen, der niemandem etwas zu Leide tut und im Gegenteil seinen Mitmenschen ausnahmslos freundlich und wohlwollend begegnet. Er freut sich wie ein Kind, Menschen kennenzulernen (am liebsten im Pub), bietet ihnen seine und Harveys Freundschaft an und er nimmt sich die Zeit, ihnen zuzuhören und ihnen Komplimente zu machen. Ein einziges Mal ist er ungehalten, und zwar, als er von Mr Wilson, einem Pfleger in Chumley’s Rest, körperlich bedroht wird:

Mr Wilson – haven’t you some old friends you can go and play with?

Als Krankenschwester Kelly Mr Dowd fragt, ob Doktor Sanderson das Fenster öffnen soll, weil es so warm sei, gibt Elwood die bezeichnende Antwort:

Well, that’s up to him, isn’t it? I wouldn’t presume to live his life for him.

Er ist von entwaffnender Unschuld und kann nur Gutes in seinen Mitmenschen sehen. Als er erfährt, dass seine eigene Schwester innerhalb eines Nachmittages alles getan und geregelt hat, um ihn einweisen zu lassen, ist er voll des Staunens:

And Veta did all that in one afternoon? My, she certainly is a whirlwind!

Dem leitenden Arzt verrät er sein Lebensmotto:

Doctor, when I was a little boy, my mother used to say to me, „Elwood“ – she always called me „Elwood“ – „as you go through life you must be either ‚oh, so smart,‘ or ‚oh, so pleasant.'“  For years – I was smart. I recommend pleasant. You may quote me.

Für mich ist das Stück (und die kongeniale Verfilmung) keineswegs eine triviale Komödie, die den braven Geschmack der fünfziger Jahre bedient, sondern vielmehr ein Märchen über unsere Sehnsucht nach grundloser Menschenfreundlichkeit, die selbst Argwohn, Missgunst und Eigennutz überwindet.

Vicki Myron: Dewey: The Small-Town Library Cat Who Touched the World (2008)

There is a thousand-mile table of land in the middle of the United States, between the Mississippi River on the east and the deserts on the west. Out here, there are rolling hills, but no mountains. There are rivers and creeks, but few large lakes. The wind has worn down the rock outcroppings, turning them first to dust, then dirt, then soil, and finally to fine black farmland.

So beginnt das Buch Dewey: The Small-Town Library Cat Who Touched the World (2008) von Vicki Myron. Auf Deutsch erschien die Geschichte unter dem Titel Dewey und ich: Die wahre Geschichte des berühmtesten Katers der Welt.

Es geht um die zunächst ganz reizende Geschichte eines kleinen Kätzchens, das an einem bitterkalten Wintermorgen durch die Buchrückgabeklappe in der Bücherei der amerikanischen Kleinstadt Spencer in Iowa landet und dort in Form der Bibliothekarin Myron und ihrer Mitarbeiter die denkbar besten Adoptiveltern findet. Die nächsten 19 Jahre wird die Bibliothek das Zuhause des menschenliebenden Katers, eine Fundgrube für viele Geschichten und Anekdoten, einschließlich der Lebensgeschichte Myrons.

Allerdings schlittert das Buch auch schon mal jenseits der Kitschgrenze: Und so wird die Geschichte, die das gar nicht nötig hätte, aufgeladen mit hoffnungslos unkritischen Bemühungen, etwas unbedingt Patriotisch-Amerikanisches in das Ganze hineinzufabulieren:

That’s another of Spencer’s unique and valuable assets: its people. We are good, solid, hardworking Midwesterners. We are proud but humble. We don’t brag. We believe your worth is measured by the respect of your neighbors, and there is no place we’d rather be than with those neighbors right here in Spencer, Iowa. We are woven not just into this land, which our families have worked for generations, but to one another. (S. 202/203)

So geht das noch seitenlang weiter.

Die Vermenschlichung des Katers geht so weit, dass die Autorin ihm sogar zutraut, ihr durch seine Reaktionen deutlich zu machen, ob der Freund ihrer Tochter als Schwiegersohn geeignet ist. Schade.

Aber das Video auf Youtube http://www.youtube.com/watch?v=G8nSg8oxrfA kann man sich ruhig ansehen.

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