Erling Kagge: Stille – Ein Wegweiser (OA 2016)

Der 1963 geborene Anwalt, Extremsportler, Verleger und Kunstsammler Erling Kagge hatte den richtigen, wenngleich nicht wirklich bahnbrechenden Gedanken, dass wir modernen Menschen ein wenig mehr der Stille bedürfen. Also hat er dann 2016 einen kleinen Wegweiser mit „dreiunddreißig Versuche[n] einer Antwort“ zu diesem Thema veröffentlicht. Übersetzt wurde das schmale Werk – knapp 100 großzügig gesetzte Seiten – von Ulrich Sonnenberg.

Caroline Fink schrieb in der NZZ:

Elegant geschriebene Texte, die ein Gesamtbild entstehen lassen, das am Ende mehr als die Summe seiner Teile ist. Und die gerade mit dem Verzicht, die Stille in ihrem innersten Kern zu ergründen, der Unergründlichkeit des Betrachtungsgegenstandes gerecht werden.

Auch die anderen mir bekannten Besprechungen äußerten sich wohlwollend bis begeistert, ja andächtig. Doch mir blieb das alles viel zu sehr an der Oberfläche. Nichts fand ich falsch. Alle Ansätze bedenkenswert, wenn sie denn mehr in die Tiefe gegangen wären. Name Dropping, das mich unbeeindruckt gelassen hat. Zitate, von denen man schon einige kannte. 

Es gibt eine Menge Dinge im Leben, über die sich staunen lässt. Es ist eine der reinsten Freuden, die ich mir vorstellen kann. Ich mag dieses Gefühl. Ich staune oft, ja, ich staune nahezu überall: Auf Reisen, wenn ich lese, wenn ich Menschen begegne, wenn ich schreibe, wenn ich spüre, wie mein Herz schlägt, oder sehe, wie die Sonne aufgeht. Das Staunen gehört zu den stärksten Kräften, die uns in die Wiege gelegt wurden. Und gleichzeitig ist es eine der schönsten Fähigkeiten, die es gibt. (S. 19)

Ja, reden, genau das soll die Stille tun. Sie soll reden, und du sollst mit ihr reden und das Potenzial nutzen, das darin liegt. […] ‘sie trägt auch eine Art Macht in sich […]. Und derjenige, der nicht über diese Macht staunt, fürchtet sich vor ihr. Und das ist wohl der Grund, warum so viele vor der Stille Angst haben (deshalb gibt es auch überall, wirklich überall diese Muzak).‘

Ich erkenne die Angst wieder, über die Fosse schreibt. Eine vage Angst vor etwas, von dem ich im Grunde nicht weiß, was es ist. Eine Angst, die bewirkt, dass ich allzu schnell meinem eigenen Leben aus dem Weg gehe. Stattdessen beschäftige ich mich irgendwie, vermeide die Stille […]. Ich glaube, die Angst, die Fosse nicht benennt, ist die Furcht, sich besser kennenzulernen. (S. 20/21)

Ein Überfluss von Erlebnissen kann ebenfalls zu Erlebnisarmut führen. […] Es wird zu viel. Das Problem ist laut Svendsen, dass wir ‚ständig intensivere Erlebnisse‘ wollen, statt ein paar Mal tief durchzuatmen, die Welt auszusperren und die Zeit aufzubringen, uns selbst zu erleben. Die Idee, der Langeweile zu entgehen, indem wir ständig etwas Neues tun, immer erreichbar sind, Nachrichten versenden, weitertippen und etwas sehen wollen, was wir noch nicht gesehen haben, ist naiv. (S. 66)

Die Stille kann überall und jederzeit auftauchen – direkt vor unserer Nase. […] Ja, wir alle sind Teil eines Kontinents, doch das potentielle Vermögen, eine Insel für uns selbst zu sein, tragen wir ständig mit uns herum. (S. 78/79)

Ich hatte im Stillen wohl so etwas erhofft, wie es Gabriele von Arnim mit ihrem Buch über den Trost der Schönheit und Axel Hacke mit seinen Gedanken zur Heiterkeit geglückt war. Dagegen ist das Werk von Kagge nur ein besserer Einkaufszettel.

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Jon Fosse: Morgen und Abend (2000)

Nachdem der Norweger Jon Fosse (*1959) 2023 den Nobelpreis für Literatur erhalten hat, schien mir das eine gute Gelegenheit, mit dem schmalen Buch Morgen und Abend diesen Autor kennenzulernen. Die Originalausgabe, die von Hinrich Schmidt-Henkel ins Deutsche übersetzt wurde, erschien im Jahr 2000.

In der Frankfurter Rundschau charakterisierte Hermann Wallmann dieses Werk als „ein wunderbares kurzes Buch über Geburt und Tod“. Doch um was oder wen geht es genau?

Auf den ersten 18 Seiten erfahren wir, wie der Fischer Olai darauf wartet, dass die Geburt seines sehnlichst erwarteten Sohnes Johannes gut verläuft. Die Zeitebene ist bewusst offen gehalten, die alte Amme Anna muss per Ruderboot zur kleinen Insel der Familie geholt werden und erklärt, dass Männer nichts bei der Geburt verloren hätten, das würde nur Unglück bringen. Die unzähligen Wiederholungen sollen vermutlich archaisch, heimat- und eindrucksvoll klingen, den Moment dehnen und verwurzeln, doch ich bleibe skeptisch:

Wenn es ein Junge wird, soll er Johannes heißen, sagt Olai.

Abwarten, sagt die Hebamme Anna

Ja Johannes, sagt Olai

Wie mein Vater, sagt er.

Ja ein guter Name, nichts gegen zu sagen, sagt die alte Anna (S. 12)

… aber wenn der Kleine gesund zur Welt kam, dann gab es keinen Zweifel, wie er heißen würde, schon vor langem hatte er zu Marta gesagt, dass das Kind, mit dem sie schwanger war, Johannes heißen sollte wie sein, Olais, Vater und sie hatte ihm nicht widersprochen, ja das passt doch gut, hatte sie gesagt, dass der Junge Johannes heißen soll wie sein Vater, denkt Olai … (S. 16)

Die übrigen neunzig Seiten schildern den Übergang des alt gewordenen und inzwischen verwitweten Johannes aus dem Leben in das, was danach kommt. Dieser Übergang vollzieht sich anhand Erinnerungen, die zwischen den Zeitebenen hin und her fließen, und durchaus einigen Schreckmomenten angesichts des eigenen Alters und der damit einhergehenden Gebrechlichkeit, aber doch im Wesentlichen friedvoll und lebenssatt. Hier ist einer, der trotz harter Arbeit als Fischer zufrieden und einverstanden mit seinem Leben war. Die Ehe war gut, er hatte Freunde und die sieben Kinder mit den Enkelkindern leben allesamt noch auf derselben Insel – seine engere Heimat hat Johannes vermutlich niemals verlassen. Sein bereits verstorbener Freund Peter ist dann auch derjenige, der beauftragt wurde, ihn auf seinem Weg in die Weite dessen, wo sich Himmel und Meer ineinander auflösen, zu begleiten.

… und Johannes steht da und sieht zu den Hügeln und Wiesen und Bergen und Häusern dort an Land, zum Anleger und seinem eigenen kleinen Ruderboot, das an einer Boje liegt und an Land befestigt ist, und er schaut zu den Bootshäusern und er sieht die Häuser oben an der Straße und ein so großes Gefühl für all das erfüllt ihn, für das Heidekraut, für alles zusammen, all das kennt er, all das ist sein Ort auf der Welt, es ist seins, alles zusammen, die Hügel, die Bootshäuser, die Ufersteine, und dann hat er ein Gefühl, als sollte er all das nie wieder sehen, aber es würde ja in ihm bleiben als das, was er ist, wie ein Laut, ja fast wie ein Laut in ihm, denkt Johannes und er hebt die Hände zu den Augen und reibt sie sich und er sieht, dass alles schimmert, vom Himmel da hinten, von jeder Wand, von jedem Stein, von jedem Boot schimmert es zu ihm herüber und jetzt begreift er gar nichts mehr, denn heute ist alles anders als jemals zuvor, es muss etwas passiert sein, aber was kann das sein?, denkt Johannes und er versteht es einfach nicht, denn alles ist so wie immer, anders ist nur …. (S. 69)

Nun gut, die einen Kritiker priesen das Buch als raffiniertes und gleichzeitig weises Meisterwerk über Tod und Leben, Andreas Breitenstein in der NZZ hingegen sprach von einem „allzu sentimentalen Trostbüchlein“, dessen einziges Geheimnis seine nicht nachvollziehbare Kommasetzung sei. Wieder mal ein schönes Beispiel dafür, dass sich auch die Berufskritiker und Rezensentinnen keineswegs immer einig sind in der Frage, welche Kriterien bei der Bewertung eines Romans denn nun anzulegen wären.

Ich werde diesen großzügig gesetzten 112 Seiten über die reine Lesezeit hinaus nicht allzu viel Zeit widmen. Interessant wäre für mich gerade eher die Frage, wie ich nachvollziehbar und begründet Kitsch definieren würde, denn daran schrammt das Buch für mein Dafürhalten doch oft entlang.

In dem Zitat von S. 69 verdichten sich die Probleme, die ich mit diesem Stil habe. So, wie das Fosse schreibt, kann ich mir dieses Abschied von Leben-Nehmen einfach nicht vorstellen. Wenn dieses „Hinübergleiten“ aber nur bei einem alten Fischer, der aber doch schon Telefon in der Wohnung hat, funktioniert, dann funktioniert für mich die Geschichte über „Tod und Leben“ nur bedingt. Da wimmelt es vom Ungefähren und beliebig Austauschbaren, das aber nichts in mir berührt, nur das Heidekraut, das ist konkret.

Ich bezweifle, dass ein Leben tatsächlich so eindimensional sein kann, mir fehlen hier die Brüche, das Individuelle, eine Tiefe, die auch jemand hätte, der seinen Heimatort nie verlassen hat. Ich fand das weder märchenhaft noch schlicht, sondern simpel und sich um alle Fragen herummogelnd.

ABER, und deshalb erwähne ich das Buch auch hier, es hat mich mit seinem Aufbau auf anderer Ebene erschreckt. Auf so wenigen Seiten wird trotz aller Vorbehalte, die ich habe, sehr eindrücklich etwas vorgeführt, das wir zwar alle wissen, aber dennoch verdrängen: wie rasch ein Leben vorbei ist. Die Erwartungen – und Ängste, die vielleicht an unsere Geburt geknüpft waren, und dann schon – quasi auf der nächsten Seite – das Abschiednehmen. Die Welt ohne uns. Darüber nachzudenken, dem nachzusinnen, ist sicherlich nicht das Schlechteste, zu dem uns Literatur bewegen und einladen kann. Und das wiederum ist nun überhaupt nicht simpel.

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Åsne Seierstad: Der Buchhändler aus Kabul (OA 2002)

In dem Interview von Constanze Matthes mit Sonja Zekri findet sich dieser schöne Satz:

Als Leserin oder Leser will man den Schock der Lektüre, das Innehalten, wenn man begreift, dass man auf diese Weise die Welt, den Menschen oder sich selbst noch nicht gesehen hat.

Nach der Lektüre von Der Buchhändler aus Kabul von Åsne Seierstad, das Holger Wolandt aus dem Norwegischen ins Deutsche übersetzte, weiß ich, dass der Satz von Zekri auch zwiespältig sein kann.

Seierstad (*1970), die berühmte Journalistin aus dem norwegischen Lillehammer, von der u. a. der Titel Einer von uns. Die Geschichte eines Massenmörders über Anders Breivik stammt, landete mit Der Buchhändler aus Kabul einen internationalen Bestseller, von der Kritik gefeiert und in 42 Sprachen übersetzt.

Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 folgte Seierstad November 2001 den Truppen der Nordallianz, die die Schlacht um Kabul gewannen und die Taliban vertrieben. Dort, in Kabul lernt sie den unerschrockenen Buchhändler Shah Mohammad Rais kennen, der allen Machthabern, seien es Kommunisten, Mudschaheddin oder Taliban, Gefängnis und Bücherverbrennungen getrotzt und ein großes Buchimperium aufgebaut hat.

Sie sei beeindruckt gewesen von diesem Mann und eines Tages habe er er sie zu sich nach Hause eingeladen, wo sie die Mitglieder seiner Großfamilie kennenlernt.

Als ich an diesem Abend heimging, sagte ich zu mir selbst: ‚Das ist Afghanistan. Es wäre interessant, ein Buch über diese Familie zu schreiben.‘ Am Tag darauf suchte ich Herrn Rais in seinem Buchladen auf und erzählte ihm von meiner Idee. ‚Vielen Dank‘, sagte er nur. ‚Aber das bedeutet, dass ich bei Ihnen wohnen müsste.‘ ‚Willkommen.‘ ‚Ich müsste die ganze Zeit bei Ihnen sein und leben wie Sie. Mit Ihnen, Ihren Frauen, Schwestern und Söhnen.‘ ‚Willkommen‘, wiederholte er nur. (S. 12)

Und hier stutzte ich das erste Mal: Wie befremdlich, sich selbst einzuladen in einem armen Land, in eine Familie, die ohnehin in entsetzlich beengten Verhältnissen lebt, in der es quasi keine Privatsphäre gibt und sich – bis auf den Hausherrn und seine junge Zweitfrau – immer mehrere ein Zimmer in der kleinen Wohnung teilen müssen.

Seierstad lebt mehrere Monate mit und in der Großfamilie und anscheinend erzählen ihr vor allem die Frauen viel von dem, was hinter den Kulissen passiert. Sie gibt jedem Familienmitglied im Buch einen anderen Namen, Rais wird beispielsweise zu Sultan, aber dennoch sind alle später mühelos zu identifizieren, was nach der Veröffentlichung für viel Ärger und jahrelange Auseinandersetzungen vor Gericht geführt hat.

Sie erzählten mir Dinge, wenn sie Lust dazu hatten, nicht, wenn ich sie fragte. Dies geschah selten, wenn ich den Notizblock bereit hatte, sondern eher beim Einkaufen auf dem Basar, im Bus oder spätabends auf der Matte. (S. 12)

Schon im Vorwort klingt das beherrschende Thema des Buches an:

Die Familie kümmerte sich gut um mich, alle waren großzügig und offen. Trotzdem war ich oft auch wütend auf sie. Es war immer dasselbe, das mich provozierte, nämlich wie die Frauen behandelt wurden. Die scheinbare Überlegenheit der Männer wurde von allen stillschweigend hingenommen. (S. 13)

Und zunächst wird man als Leserin quasi hineingezogen in dieses so fremde Leben. Wir lernen viel über die Geschichte Afghanistans, in dem schon seit Jahrzehnten immer wieder wechselnde Machthaber wüten und die Bevölkerung versucht, so gut es geht, zu überleben. Auch der Buchhändler geriet mit den wechselnden Herrschern häufig aneinander, ohne deshalb seinen Traum von einem Kabuler Buchimperium aufzugeben.

Besonders die zurückliegenden Jahre der Taliban-Herrschaft haben nicht nur unzählige Menschen das Leben gekostet, auch die kaputten Häuser und die zerstörte Infrastruktur sind immer noch die eines Landes im Krieg. Seierstad nennt unzählige Beispiele dieser unfassbaren Diktatur, die buchstäblich alles auf ihr fanatisches, ungebildetes und brutales Niveau herabziehen wollte.

Sogar in den Mathematikbüchern war Krieg das Hauptthema. Die Jungen – denn die Taliban ließen Bücher nur für Jungen schreiben – rechneten nicht mit Äpfeln und Keksen, sondern mit Kugeln und Kalaschnikows. Eine Aufgabe darin konnte folgendermaßen aussehen: ‚Der kleine Omar hat eine Kalaschnikow mit drei Magazinen. In jedem Magazin stecken zwanzig Kugeln. Er braucht zwei Drittel seiner Kugeln auf und tötet sechzig Ungläubige. Wie viele Ungläubige tötet er pro Kugel?‘ (S. 85)

Im September 1996 verkündeten die Taliban beim Einzug in Kabul diverse Dekrete, u. a. dass Taxifahrer keine Frauen mehr mitnehmen durften, die ohne Burka unterwegs waren. Musik wurde verboten, Kassetten waren ab sofort in Fahrzeugen; Hotels und Geschäften untersagt. Man durfte keine britischen und amerikanischen Frisuren mehr tragen, auf Hochzeiten durfte ab sofort weder Musik gespielt noch getanzt werden. Die Strafen bei Zuwiderhandlung kann man sich denken.

Drachensteigenlassen hat unnütze Folgen wie Wetten, Todesfälle bei Kindern und Abwesenheit vom Unterricht. Läden, die Drachen verkaufen, werden geschlossen. (S. 112)

In Fahrzeugen, Läden, Häusern, Hotels und an anderen Orten sollen Bilder und Porträts entfernt werden. Die Inhaber müssen alle Bilder an den erwähnten Orten zerstören. (S. 113)

Das letztgenannte Verbot von Abbildungen sorgte dafür, dass die Taliban, die meist Analphabeten waren, in die Buchläden kamen, die Bücher durchblätterten und alle, die Abbildungen und Fotos von was auch immer enthielten, wurden verbrannt. Außerdem galt:

Frauen, ihr sollt eure Wohnungen nicht verlassen! Wenn ihr sie dennoch verlassen müsst, solltet ihr das nicht wie die Frauen tun, die in modischen Kleidern und mit viel Schminke allen Männern unter die Augen traten, ehe der Islam ins Land kam. (S. 114)

Auch Puppen und Schmusetiere waren, weil Abbildungen von Lebewesen, verboten.

Wenn die Religionspolizisten zu Hause bei Leuten Razzien veranstalteten, schlugen sie Fernseher und Kassettenrekorder kaputt und nahmen auch das Spielzeug der Kinder mit, wenn sie es entdeckten. Sie rissen Arme und Köpfe ab und zertraten sie vor den Augen der entsetzten Kinder. (S. 309)

Selbst nach der – wie wir heute wissen, nur zwischenzeitlichen – Vertreibung der Taliban wirken sie in den Köpfen der Menschen weiter. Die Frauen überlegen sich sehr genau, ob sie wirklich ohne Burka – ein Kleidungsstück, das laut Seierstad überhaupt erst in der Herrschaftszeit von König Habibullah (1901 bis 1919) in Afghanistan eingeführt worden sei – auf die Straße gehen. Eine der Schwestern des Buchhändlers ist fassungslos, als sie allen Mut zusammengenommen hat, um heimlich einen Englischkurs zu besuchen, und dann feststellen muss, dass dort auch Männer anwesend sind. Sie fühlt sich beschämt und beschmutzt, den Kurs besucht sie nie wieder.

Die zweierlei Maß, die an Frauen und Männer angelegt werden, sind manchmal kaum zu ertragen; die Verbannung der Frau ins Haus, ihre Herabwürdigung als Dienstmagd, die Beschämung der Ehefrau, weil sich der ca. 60-jährige Buchhändler, der mit einer Lehrerin verheiratet ist (die aber den Beruf nicht mehr ausübt), eine sechzehnjährige zweite Frau sucht. Die Versuche der Eltern, den richtigen Gatten für ihre Töchter zu finden, die Tradition, dass der Mann für die Braut zahlen muss: Je hübscher, jünger und tugendhafter die Braut, umso mehr können die Eltern verlangen. Dass da die Betrachtungsweise naheliegt, die Frau als sein Eigentum anzusehen, verwundert dann nicht mehr wirklich.

Daneben die Tradition, die Frau im Falle einer Trennung dadurch abzusichern, dass der Mann auch einen Preis nennen muss, den er zahlt, falls er sich grundlos von der Frau scheiden lassen will. Und erst die Rollenbilder und zum Teil unbarmherzigen Ehrvorstellungen:

Männer und Frauen, die nicht verwandt sind, dürfen nicht im selben Zimmer sitzen. Sie dürfen sich nicht unterhalten und nicht zusammen essen. Auf den Dörfern sind sogar die Hochzeitsfeste aufgeteilt, die Frauen tanzen und feiern für sich und die Männer ebenfalls. (S. 77)

Eine der Mütter aus dem großen Familienclan erklärt sich, nachdem der Familienrat getagt hat, mit dem Tod ihrer Tochter einverstanden. Diese hatte sich heimlich mit einem fremden Mann getroffen und damit die Ehre der ganzen Familie beschmutzt.

Sie [die Mutter] war es, die Mutter, die zum Schluss die drei Söhne nach oben schickte, die Tochter zu töten. Die Brüder gingen zusammen in das Zimmer der Schwester. Gemeinsam legten sie ihr ein Kissen aufs Gesicht, dann drückten sie zusammen ganz fest und immer fester zu, bis sie sich nicht mehr regte. Erst dann gingen sie zu ihrer Mutter zurück. (S. 60)

Hier war ich überrascht über die Überraschung der Autorin, die das Verhalten der Mutter nicht nachvollziehen konnte. Ich frage mich, was wäre der Mutter denn übrig geblieben, wenn sie sich nicht selbst dem „Verdacht“ aussetzen wollte, bei der Erziehung der Tochter versagt zu haben? Erst wenn eine Frau erwachsene Töchter hat, die die Hausarbeit erledigen können, wird sie

eine Art Regentin des Hauses, die Ratschläge erteilt, Ehen arrangiert und über die Moral der Familie wacht, das heißt, vor allem über die Moral der Töchter. Sie achtet darauf, dass sie nicht allein ausgehen, dass sie sich ordentlich bedecken, dass sie außerhalb der Familie keine Männer treffen und dass sie gehorsam und höflich sind. (S. 144)

Nach der Lektüre bleibt ein seltsamer Nachgeschmack. Auf der einen Seite lernt man viel, über das Land und seine zerrissene Geschichte, das Leid der Bevölkerung, die schon so lange ein Spielball fremder Mächte ist, und ganz ohne Frage auch über die Rückständigkeit, was Zugang zu Bildung und Gesundheitssystemen angeht, und die nahezu nicht existenten Wahlmöglichkeiten der Frauen, ihre Rechtlosigkeit und fehlende Anerkennung als denkende und eigenständige Subjekte.

Bei jungen Frauen handelt es sich vor allem um Tauschobjekte und Handelsware. Die Ehe stellt einen Vertrag dar, der zwischen Familien oder innerhalb einer Familie geschlossen wird. Welchen Nutzen die Heirat für den Clan hat, ist entscheidend, auf Gefühle wird nur selten Rücksicht genommen. (S. 61)

Auf der anderen Seite unterschlägt Seierstad viele Zwischentöne. Es gibt bei ihr nur Schwarz und Weiß. Mir fehlt die grundlegende Einsicht, dass Menschen sich – abgesehen von den nicht verhandelbaren Menschenrechten – auch in nicht-westlichen Bräuchen und Lebensformen wohl und verwurzelt fühlen.

‘Allein‘ ist für Leila [die 19-jährige Schwester des Buchhändlers] ein unbekannter Begriff. Sie war noch nie allein in der Wohnung, ist noch nie allein irgendwohin gegangen und hat noch nie allein in einem Zimmer geschlafen. Jede Nacht hat sie auf der Matte neben ihrer Mutter verbracht. Leila weiß nicht, was es heißt, allein zu sein, und das fehlt ihr auch nicht. Das Einzige, was sie sich wünscht, ist etwas mehr Ruhe und etwas weniger zu tun. (S. 218)

Afghanen haben mir beispielsweise ebenfalls erzählt, dass Hochzeitsfeiern oft nach Geschlechtern getrennt stattfinden, dass das aber trotzdem ausgelassene und glückliche Feiern sein können und dass das Gebot der getrennten Geschlechter – man soll ja vor allem die anderen nicht beim Tanzen beobachten können – auch schon mal dadurch umgangen wird, dass heimlich Videoaufnahmen hin und her geschmuggelt werden. Dass einige der von der Familie arrangierten Ehen, die sie im Buch schildert, glücklich sind, kann  Seierstad nicht nachvollziehen.

Außerdem – und das ist ein noch größeres Problem – hat Seierstad nicht mit offenen Karten gespielt: Das Buch wurde, ohne dass ein Gegenlesen durch die Familie stattgefunden hatte, veröffentlicht. Natürlich hat die Journalistin die Gastfreundschaft, die sie fünf Monate in Anspruch genommen hat, mit Füßen getreten. Manchmal schildert sie Gedanken der Beteiligten, die eher so wirken, als ob eine westliche Frau ihnen ihre eigenen Worte in den Mund gelegt hat.

Ich frage mich, ob Seierstad einige ihrer berechtigten Fragen dem Buchhändler tatsächlich nie gestellt hat, zum Beispiel, warum er – ein Mann des Buches – seinen eigenen Söhnen den Schulbesuch untersagt, damit sie in seinen Läden  arbeiten können.

Aimal ist Sultans jüngster Sohn. Er ist zwölf Jahre alt und hat einen Arbeitstag von zwölf Stunden. Jeden Tag, sieben Tage die Woche, wird er bei Morgengrauen geweckt. […] Punkt acht schließt Aimal die Tür seines kleinen Ladens in der dunklen Lobby eines Hotels in Kabul auf. (S. 255)

Ich denke nicht, dass Seierstad – um Rais nicht zu verärgern – unliebsame Tatsachen beschönigen oder gar unter den Tisch hätte fallen lassen sollen oder der Erwartungshaltung des Buchhändlers hätte entsprechen müssen. Aber irgendwann fällt auf, dass sie die Familie eher seziert, und zwar ohne jegliche Sympathie, humorlos, einseitig und zum Teil arrogant und überheblich.

Es gibt eine Schlüsselszene im Hamam, die auch Shah Mohammad Rais bei den anschließenden juristischen Auseinandersetzungen immer wieder beanstandet hat. In dieser schildert Seierstad die Frauen, die in ihrem ganzen Leben noch nie ohne Verschleierung das Haus verlassen konnten, in ihrer Nacktheit so empathielos, so befremdet, voyeuristisch und respektlos, wie sie das wohl nie mit ihren eigenen Familienmitgliedern getan hätte.

Seierstads Selbsteinschätzung im Guardian, dass sie die Familie immer respektvoll beschrieben und das Heldentum von Rais gewürdigt habe, ist eine reine Schutzbehauptung und im Grunde Unfug. Dazu kommt, dass sie selbst als Person, die immerhin fünf Monate mit der Familie verbracht hat, im Buch nicht auftaucht. Somit erscheinen alle Schilderungen und wiedergegebenen Gespräche zunächst objektiv, dabei ist dieses Buch in seiner Kritik an den Verhältnissen genau das nicht. Es ist kein neutraler Bericht. Und über die Folgen für die betroffenen Frauen in einem so konservativen Land wie Afghanistan, nachdem das Buch in Englisch erschienen war, hat sie sich gar keine Gedanken gemacht.

In den englischen Neuauflagen sind inzwischen einige der beanstandeten Szenen nicht mehr enthalten. Für diese hat sich die Autorin bei Rais und seiner Mutter entschuldigt.

In einem weiteren Interview – ebenfalls im Guardian – wird das Problematische ihres Buches ebenfalls angesprochen:

I ask whether it was kind of her to draw out these women’s most intimate sexual secrets and private emotions, and reveal them to the world. „What’s unkind in it?“ Seierstad says, surprised. „My project, my only goal, was to understand what was going on inside one of these families. I was there as a journalist, invited into their home to find out about Afghanistan. Should I, when I know something is not right, like the way the bookseller treated his wives, say it’s not important? […].“

Yet Seierstad admits that, at times, she did go too far. In the first edition of the book, published in a limited run in the UK and now out of print, there is an astonishingly intimate description of one of the women in the household at the hammam. In two passages, Seierstad writes about the breasts, belly and genitals of this woman – a woman who since reaching adulthood has never left her house without wearing a burqa.

„I removed that section because Rais asked me to,“ says Seierstad. „But this book went through several editors and we all overlooked that problematic word, genitals. We realised it was a mistake only after Rais focussed on it, and I apologised to him and to his mother for it.“

That she put it in at all, is perhaps evidence of a lack of sympathy for her subjects‘ privacy. In the past, Seierstad has claimed that the book is not a criticism of the Islamic way of life – but that it „just reveals a lot about it“. This, I suggest, is disingenuous – and dangerous. Her outrage at the way women are treated in the book crackles on every page, but because she has written herself out of the narrative, her highly subjective account could be accused as masquerading as an objective report.

There is a long pause. „I agree now that it is not possible to write a neutral story,“ she says. „I don’t criticise the society with my words in the book but I agree, it’s there in the text anyway. It’s not an open critique but it is a critique.“

Merethe Lindstrøm: Days in the History of Silence (2011)

Angesichts der Tatsache, dass dieser Roman der Norwegerin Merethe Lindstrøm nun endlich auch auf Deutsch gelesen werden kann, mal wieder ein Beitrag aus den Tiefen des Blogarchivs. Das Buch beginnt mit den Sätzen:

I was the one who let him in. Later I called him the intruder, but he did not break in. He rang the doorbell as anyone at all might have done, and I opened the door. It unsettles me still when I think about it. Really that could be what bothers me most. He rang the doorbell, and I opened the door. So mundane.

Das Werk aus dem Jahr 2011 erschien 2013 zunächst auf Englisch und seit einem Monat liegt der Roman auch in einer deutschen Übersetzung von Elke Ranzinger unter dem Titel Tage in der Geschichte der Stille vor.

Zum Inhalt

Auf den ersten Blick passiert hier nicht viel. Eva, eine pensionierte Lehrerin, lebt mit ihrem ebenfalls pensionierten Ehemann, einem Arzt, in guter Wohngegend. Man hat drei Töchter und sogar schon Enkel. Der Alltag könnte also gemächlich und kultiviert vonstattengehen. Doch feine Risse tun sich auf.

Der Moment zu Beginn der Geschichte, als ein junger Mann an der Tür klingelt und Eva ihn ins Haus lässt, ist der Zeitpunkt, an dem Eva merkt, dass ihre Wirklichkeit ins Wanken gerät.

The episode that has a hard and inevitable quality when I reflect on it. It is as though it is scored into or through something. A gash, like a tear in thick canvas, in the perfectly normal day, and through that hole something has emerged that should not surface, not become visible. (S. 8)

Der Roman ist ein langer Monolog der Frau, die – ungeübt, tastend, widerwillig – versucht, sich Rechenschaft zu geben über das, was in ihrem Leben, ihrer Ehe missglückt ist, wo sie einzeln und zusammen mit ihrem Mann Simon schuldig geworden ist.

Evas Gedanken kreisen um zwei Geschehnisse, an die sie sich allmählich anzunähern versucht. Wird ihr das Thema zu bedrängend, lässt sie davon ab, um es später wieder aufzugreifen. Zum einen fällt immer wieder der Name ihrer ehemaligen Haushaltshilfe, Marija, einer Frau aus Litauen, mit der sich das Ehepaar regelrecht angefreundet hatte. Marijas Lebensfreude tat ihnen gut. Man unternahm Ausflüge und hatte Spaß zusammen. Doch dann ist etwas vorgefallen, was die Kündigung Marijas zur Folge hat. Den Grund dafür verschweigen Simon und seine Frau sogar vor ihren Töchtern.

Der andere Erinnerungsstrang handelt davon, dass Simon sich immer mehr ins Schweigen zurückzieht.

Some days I almost forget his silence. Then it feels only like a momentary stillness, and that we are going to talk together soon. He is going to say something, and I am going to answer. How I miss it. I want to tell him to stop doing this to me. It feels as though it is something he has made up his mind to do, something he has chosen of his own free will. That he has shut me out, all of us out. (S. 127)

Zwar hatte er  vor Jahrzehnten schon einmal Depressionen, doch diesmal wird aus seinem Verstummen kein Weg mehr herausführen. Alt, dement und von Traumata gezeichnet bleibt nur noch das Schweigen. Er hat als Junge den Holocaust zusammen mit seiner Familie in einem Versteck überlebt. Allerdings wissen seine eigenen Töchter nichts von der Kindheit ihres Vaters. Eva hat alle seine Ansätze, darüber zu sprechen, im Keim erstickt.

He was talking about it again as we drove. I thought there was something tactless about it, as though he were being indiscreet, coarse, as though he were relating something inappropriate. It was not suitable. […] I shushed him. Don’t drag all that darkness in here, I said. (S. 36)

Sein nun einsetzendes Schweigen macht auch Eva unendlich einsam. Wer hört ihr nun noch zu?

I need to tell this to someone, how it feels, how it is so difficult to live with someone who has suddenly become silent. It is not simply the feeling that he is no longer there. It is the feeling that you are not either.

Aber auch Eva, die manchmal – vielleicht aus Hilflosigkeit – seltsam gefühlskalt wirkt, muss sich eingestehen, dass sie über Dinge geschwiegen hat, die deswegen nicht weniger real sind, ja, je älter sie wird, umso bedrängender werden. Doch was tun, wenn man jahrzehntelang an den falschen Stellen geschwiegen hat und letztlich nichts mehr verändert und geändert werden kann?

Again that thought pops up, that underneath everything, the house, the children, all the years of movement and unrest, there has been, this silence. That it has simply risen to the surface, pushed up by external changes. Like a splinter of stone is forced up by the innards of the earth, by disturbances in the soil, and gradually comes to light in the spring. (S. 139)

Dabei ist Evas und Simons Ehe keineswegs kaputt, sie hatten sich lieb und wussten um die Geheimnisse, die der andre mit sich herumtrug, und sie kannten die Abgründe des anderen. Die Autorin sagt selbst in einem Interview, dass es ihr u. a. darum gegangen sei, wie und ob es überhaupt möglich sei, in alltäglichen Gesprächen über erlebte Traumata zu sprechen.

Nun bleibt tatsächlich nur noch der Leser, dem Eva ihre Geschichte erzählen kann, da der geliebte Mensch nicht mehr mit ihr sprechen kann.

I think I have never been close to anyone in that way, been so happy with anyone as I was with him. That it was so intense. And when I waken, my life, or that part of it, my youth, is like a dream I dreamed just a few minutes before I woke. It was over so fast. (S. 63)

Mehr zum Inhalt zu verraten, wäre schade, denn wie die Autorin hier Handlung, Sprache, Erinnerung, Schweigen, Schuld und Schuldigwerden auf den unterschiedlichsten Ebenen, den Holocaust und lebenslange Traumatisierung, aber auch Einsamkeit und unsere alltäglichen Versäumnisse miteinander verbindet, ist große Literatur.  Ein leises, aber sehr berührendes Buch, spannender als jeder Psycho-Thriller.

Zur Autorin

Die norwegische Schriftstellerin Merethe Lindstrøm wurde 1963 geboren und für Days in the History of Silence bekam sie 2012 den hochdotierten Literaturpreis des Nordischen Rates verliehen.

Auch LiteraturReich hat den Roman besprochen.

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Edvard Hoem: Die Geschichte von Mutter und Vater (OA 2005)

Die deutsche Übersetzung von Ebba D. Drolshagen erschien 2007 im Insel Verlag.

Ohne Schnörkel ist hier der Titel Programm. Der norwegische Autor Edvard Hoem (*1949) erzählt die Geschichte seiner Eltern, wobei der Schwerpunkt auf den dreißiger und vierziger Jahren des letztes Jahrhunderts liegt, der Zeit, als seine Eltern noch jung waren. Die späteren Jahrzehnte werden gerafft und erscheinen doch nicht weniger innig.

An den meisten Tagen meiner Kindheit war ich mit meinen eigenen Dingen beschäftigt. Meine Eltern waren Eltern, sie sollten sich um mich und meine Geschwister kümmern, dafür sorgen, daß wir Essen, Kleidung und Geborgenheit bekamen. Aber hin und wieder wunderte ich mich darüber, was gesagt und nicht gesagt wurde bei uns zu Hause. (S. 9)

Der Vater des Autors soll später den kleinen Bauernhof in der Nähe der Westküste im Gudbrandsdalen übernehmen. Doch dann kommt im Dezember 1931 einer der Wanderprediger in seinen Heimatort und hält eine Andacht in dem kleinen Schulhaus.

An diesem Tag hat es geregnet und geschneit, aber gegen Abend verziehen sich die Wolken, und die Sterne kommen heraus. Sie leuchten über den Wiesen, den Fjorden und über dem roten Schulhaus. Es sind dieselben Sterne, die auf der ganzen Welt scheinen, überall, wo Menschen ihr Zuhause haben. Es sind die Sterne, die über den Feldern von Bethlehem leuchteten, wo die Hirten schliefen, und sie schienen über der Prärie in Amerika. Die Sterne über dem Hang, wo die Hoem-Schule steht, gehören allen. […] Die Zeit vergeht, aber die Sterne bleiben dieselben, sie sind wie Gottes ewiges Wort, sie leuchten von Geschlecht zu Geschlecht. (S. 15)

Seit diesem Abend fühlt sich der junge Knut Hoem nicht länger zum bäuerlichen Leben berufen, sondern dazu, Menschen Gottes Wort nahezubringen. Und das setzt er auch durch und so predigt er, der Bauernjunge, nach kurzer Bibelschulausbildung in den Tälern und Dörfern den einfachen Leuten seiner Heimat Gottes Wort. Die Menschen hören den lebensfrohen, wenn auch etwas unpraktischen Mann gern und so wird er von einem Dorf zum nächsten, von einem Hof zum nächsten weitergereicht, um auch dort seine Andachten zu halten.

IMG_2394Stabkirche in Ringebu

Der Autor kann 50 Jahre später diese oftmals beschwerlichen Reisen, die sein Vater Jahrzehnte mit dem Fahrrad, dem Bus oder zu Fuß, vor allem in den Wintermonaten, absolviert hat, anhand unzähliger kleiner Notizbücher aus dem Nachlass des Vaters genauestens nachvollziehen. In den Sommermonaten hat er später, nachdem er verheiratet war, seiner Frau auf dem Hof geholfen, auch wenn er nie gern Arbeit verrichtet hat, bei er in Gefahr stand, sich schmutzig zu machen. Und sicherlich hätte sich seine Familie mehr als einmal einen zupackenderen, kräftigeren Helfer auf dem Hof gewünscht als diesen freundlichen, aber nicht besonders robusten Laienprediger, der manchmal mitten in der Kartoffelernte wieder auf Reisen ging.

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Die Geschichte seiner Mutter Kristine verlief zunächst ganz anders. Ein hübsches, arbeitsames Mädchen, das in seiner Jugend das Vieh auf der Sommeralm hüten musste und sich aufs Leben freute. Für eine höhere Schulbildung reichte das Geld nicht und so musste sie schon früh, wie auch ihre Zwillingsschwester, Geld verdienen. Sie war reserviert, sehr schüchtern, aber tüchtig und von ihren Arbeitgebern immer geschätzt. Dann kam der Krieg, die Besatzung und mit ihr kamen auch die verhassten deutschen Soldaten, u. a. auch nach Lillehammer, wo Kristine in einem Pflegeheim arbeitete. Ihre Brüder gingen schon bald in den Widerstand.

Letztlich war nichts unwahrscheinlicher als eine glückliche Verbindung zwischen dem tiefgläubigen Mann und dieser Frau. Das sah auch Kristine so, das sahen auch alle anderen so, die schließlich massiv intervenierten, um die Heirat zu verhindern. Wie daraus trotzdem eine besonders schöne Liebesgeschichte werden konnte, das muss nun jeder selbst erlesen.

Mir jedenfalls hat dieses unaufgeregte Buch sehr gefallen. Selbst das, was ich zunächst bemäkeln wollte – dass es dem Autor eben nicht gelingen will, bestimmte Vorkommnisse kraft seiner Imagination zum Leben zu erwecken, sagt er doch selbst, jetzt müsse er wohl ein wenig ausschmücken, weil er nicht wisse, was sich nun wirklich vorgetragen habe –  wendet sich und unterstreicht das Liebenswürdige, das Schlichte und Schöne dieser Erzählung, die ihren unaufdringlichen Reiz sicherlich zu einem Großteil der zurückgenommenen Sprache verdankt.

Mutter und er hatten schon lange zueinander gefunden. Sie waren ein Paar geworden. In den langen Jahren, wenn er nicht bei ihr war, schrieben sie sich Briefe über alle möglichen praktischen Fragen, aber es wurde nie mit einem Wort erwähnt, wie es ihnen ging. Doch wer zwischen den Zeilen liest, versteht. Nur ein Satz ist anders, in einem von tausend Briefen. Er schreibt, daß er sie, Kristine, grüße, er berichtet von allem, was er tut, und von seiner Hoffnung, daß das norwegische Volk ein weiteres Mal die Türen öffnen und die Gnade empfangen möge. Doch nachdem er all diese frommen Wünsche geäußert hat, […] kommt er zurück auf sie, die die Freude seiner Jugend und der Trost seines Alters geworden ist: Ein weiteres Mal grüße ich dich. So endet sein Brief. […] Wenn es tausend Briefe gäbe, und wenn sie aus tausend großen Worten und Beteuerungen bestünden, sie würden mir nicht mehr sagen als diese einfachen Worte. (S. 206)

Darüber hinaus ist es auch interessant, Einblick in die Zeit der deutschen Besatzung zu bekommen. Bei der Lektüre wird einem ebenfalls bewusst, welche Werte damals hochgehalten wurden und wie arm die Bauern in den abgelegenen Tälern Norwegens noch vor wenigen Jahrzehnten waren, wie hart die Arbeit war und wie wenig Aussicht bestand, aus diesem Leben herauszutreten, weil das Geld für höhere Schulbildung einfach nicht da war oder weil die Arbeitskraft des Sohnes oder der Tochter unersetzlich war.

IMG_2251Freilichtmuseum Maihaugen, Lillehammer

Irgend etwas ist im Haushalt immer gerade zu erledigen, sei es Brotbacken, Marmeladekochen, Buttern, Waschen, Weben oder Stricken. Wenn der Webstuhl in der Küche steht, ist fast kein Vorbeikommen. Sie leben so dicht gedrängt, daß kaum Luft zum Atmen bleibt. Es ist eng um den Küchentisch, alles ist zu knapp, zu kurz und zu wenig, aber hier leben sie, hier schweigen sie, und hier reden sie. Wenn der Schultag vorüber ist, bekommen die Töchter von der Mutter Aufgaben, die sie erledigen müssen, die Jungen gehen mit dem Vater in den Stall und zum Holzhacken. […] Die harten Arbeitstage ließen keinen Platz für Spiel, Spaß und Überflüssiges. Wenn man sich hinsetzte, dann nur, um sich auszuruhen. Wenn man für den Tag fertig war, war es Abend. (S. 49)

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Sigrid Undset: Frau Marta Oulie (OA 1907; deutsche Ausgabe 1998)

Ich habe meinen Mann betrogen. Diesen Satz schreibe ich und dann starre ich ihn an – an etwas anderes kann ich gar nicht denken.

Mit diesen Sätzen beginnt der Debütroman Frau Marta Oulie (1907) der späteren Literaturnobelpreisträgerin Sigrid Undset. Der Roman wurde 1998 von Gabriele Haefs aus dem Norwegischen ins Deutsche übersetzt.

Zum Inhalt

Vielleicht ist es ungerecht, aber die ersten beiden Sätze sagen schon das Wesentliche aus. Marta schreibt 1902 und 1903, nachdem ihr Mann Otto lebensgefährlich an Tuberkulose erkrankt ist und sich im Sanatorium befindet, Tagebuch.

Ich versuche, wieder zu schreiben, weil ich meine Gedanken nicht mehr ertragen kann. Manchmal kommt es mir so vor, als habe eine übermenschliche Phantasie sich das alles aus den Fingern gesogen und es so unerträglich quälend und empörend werden lassen wie überhaupt nur möglich. […] Ich habe meinen Mann betrogen, meinen jungen, gutaussehenden, lieben, treuen, guten, noblen Mann, und das mit seinem besten Freund, der zugleich sein Geschäftspartner und mein Vetter ist, den ich seit meiner Kindheit kenne und der Otto und mich miteinander bekannt gemacht hat. (S. 12)

Marta hofft, mithilfe des Schreibens mit ihren Erinnerungen und Gefühlen zurande zu kommen.

Mit 22 hat sie den attraktiven Geschäftsmann Otto Oulie kennengelernt. Sie ist zum ersten Mal verliebt. Jetzt, über zehn Jahre später, erkennt sie:

Ich hatte mich vollständig überrumpeln lassen. Aber nicht eigentlich von Otto. In meinem Inneren waren Quellen entsprungen, von denen ich vorher nichts geahnt hatte. Ich lauschte dieser neuen Musik wie verloren – an den langen Abenden, wenn wir einander gute Nacht gewünscht hatten, saß ich ganz still auf meinem Zimmer und lauschte. (S. 28)

Die Liebe war eher auf Leidenschaft gegründet, weniger auf das Verstehen des Partners.

Ich brauchte einen, den ich lieben konnte und der mich liebte – ich brauchte kein Mannsbild, das mich ‚verstand‘. Ach, wie recht hatte ich damals, wenn ich das schnöde, freche Frauenzimmergeschrei nach ‚Verständnis‘ verachtete – solche Frauen wollen nur einen Mann, der bei ihren langweiligen, verdrehten kleinen Gehirnen den Uhrmacher spielt und seine Zeit damit verschwendet, ihre Eitelkeiten zu befriedigen. (S. 30)

Doch irgendwann reicht ihr das nicht mehr. Sie möchte wieder als Lehrerin arbeiten, interessiert sich für das Wahlrecht der Frauen, für Kultur und tritt diversen Vereinigungen bei, was Otto irritiert, da seiner Meinung nach die Frau vor allem für Heim und Kindererziehung zuständig ist. Er befürchtet, dass ihre drei Kinder unter ihren diversen Interessen leiden könnten.

Ich kann mir nicht vorstellen, daß es so langweilig ist, sich um die eigenen Kinder und das eigene Zuhause zu kümmern. In der Hinsicht tut ihr mir also nicht leid. Und wenn du deshalb bis auf Weiteres deine Interessen in den Hintergrund schieben mußt, ja, Himmel, das müssen wir Männer doch die ganze Zeit. Meinst du, ich hätte so viel Zeit für meine eigenen Interessen? (S. 66)

Sie leben sich auseinander und fangen an, sich kritischer zu sehen.

Später kam eine Zeit, in der mich seine kritiklose Bewunderung für alles, was ihm gehörte, irritierte […] Sicher, er urteilte bisweilen, wenn er etwas nicht verstehen konnte, hart und ungerecht. Er war gesund und gut und stark, und dann sieht man von vielem nur die Oberfläche und hat kein Verständnis. (S. 32)

Marta ist sich nicht mehr sicher, ob sie sich überhaupt je für Ottos Seele interessiert hat.

Sie lässt sich – warum auch immer – auf eine Affäre mit ihrem Cousin Henrik ein, der schon seit Jugendzeiten in sie verliebt ist. Marta bekommt ein Kind von ihm, von dem Otto glaubt, es sei sein eigenes, und das er ganz besonders liebt.

Doch nachdem Otto an Tuberkulose erkrankt ist und seine Heilung immer unwahrscheinlicher wird, wird Marta von Gewissensbissen geplagt. Alles, alles möchte sie an Otto wieder gutmachen, wenn er denn nur gesund wird. Sie verliebt sich regelrecht neu in ihren Mann.

Und beim bloßen Gedanken an ihn [Otto] schien in mir eine alte Zärtlichkeit zu bluten, eine Zärtlichkeit, die körperlich ist und doch kein Begehren – der Wunsch, zu berühren, zu streicheln, seinen Kopf, seine Stirn, seine Augen, seinen Mund, seine Hände zu liebkosen – eine mütterliche Zärtlichkeit, die seltsam ängstlich und scheu war. (S. 90)

Fazit

Spätere Nobelpreisträgerin hin oder her, dieses Buch verschenkt seine Möglichkeiten. Das damals skandalöse Thema des Ehebruchs aus Sicht der Frau, eingebettet in die damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse, das hätte ein großes Buch werden können oder auch eine lesenswerte Charakterstudie. Aber trotz einzelner gelungener Stellen ist es pathetisch, holzschnittartig, unausgegoren.

Und eine Protagonistin, die am Ende der Geschichte genauso unbedacht arrogant und selbstbezogen agiert, wie zu Beginn, macht die Sache auch nicht besser.

Alle die vergeudeten, öden Jahre, in denen ich nur in mich hineingestarrt habe, bis ich allein zwischen den Menschen blieb, weil ich nur ihre zufälligen, planlosen Spuren sah, nicht aber ihr Wesen. […] Vielleicht haben wir keine andere Seele als das Leben unseres Körpers – es lebt in uns wie die Flamme in einem Stoff, der brennt. (S. 93)

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Kjersti A. Skomsvold: Je schneller ich gehe, desto kleiner bin ich (OA 2009; deutsche Ausgabe 2011)

Ich habe schon immer gern Dinge zu Ende gebracht. Ohrenwärmer, Winter, Frühjahr, Sommer, Herbst. Epsilons Berufsleben. Die Sachen erledigt. Diese Ungeduld hatte Folgen, als Epsilon mir einmal eine Orchidee zum Geburtstag schenkte. Sie war nicht gerade mein größter Wunsch gewesen, ich habe nie verstanden, was die Leute an Blumen finden, die ohnehin eines Tages verwelken. Am meisten wünschte ich mir, dass Epsilon in Rente ginge.

So beginnt der Roman der Norwegerin:

Kjersti A. Skomsvold: Je schneller ich gehe, desto kleiner bin ich (2009) – übersetzt von Ursel Allenstein

Ein kleiner Roman von 142 Seiten um eine ältere, leicht verschroben wirkende Dame, die nach dem Tod des geliebten Mannes vor Einsamkeit schier vergeht und sich fragt, wie sie die Angst vor dem Sterben loswerden kann.

Zwar passt das Ende wunderbar zum ersten Satz, doch bleibt mir unklar, wie sie zu ihrer persönlichen Entscheidung kommt. Bin mir auch nicht sicher, ob ich über Alterseinsamkeit so einen skurril verbrämten Text lesen möchte. Ob das nicht doch wieder trivial und zu zuckrig ist.

Aber ein erstaunliches Debüt ist das allemal:

Ich muss mich schrittweise mehr und mehr mit dem Tod konfrontieren, allerdings ohne zu weit zu gehen. Mir ist sehr wohl bewusst, dass es ein feiner Balanceakt ist, aber am Ende möchte ich damit leben können, sterben zu müssen.