In dem Interview von Constanze Matthes mit Sonja Zekri findet sich dieser schöne Satz:
Als Leserin oder Leser will man den Schock der Lektüre, das Innehalten, wenn man begreift, dass man auf diese Weise die Welt, den Menschen oder sich selbst noch nicht gesehen hat.
Nach der Lektüre von Der Buchhändler aus Kabul von Åsne Seierstad, das Holger Wolandt aus dem Norwegischen ins Deutsche übersetzte, weiß ich, dass der Satz von Zekri auch zwiespältig sein kann.
Seierstad (*1970), die berühmte Journalistin aus dem norwegischen Lillehammer, von der u. a. der Titel Einer von uns. Die Geschichte eines Massenmörders über Anders Breivik stammt, landete mit Der Buchhändler aus Kabul einen internationalen Bestseller, von der Kritik gefeiert und in 42 Sprachen übersetzt.
Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 folgte Seierstad November 2001 den Truppen der Nordallianz, die die Schlacht um Kabul gewannen und die Taliban vertrieben. Dort, in Kabul lernt sie den unerschrockenen Buchhändler Shah Mohammad Rais kennen, der allen Machthabern, seien es Kommunisten, Mudschaheddin oder Taliban, Gefängnis und Bücherverbrennungen getrotzt und ein großes Buchimperium aufgebaut hat.
Sie sei beeindruckt gewesen von diesem Mann und eines Tages habe er er sie zu sich nach Hause eingeladen, wo sie die Mitglieder seiner Großfamilie kennenlernt.
Als ich an diesem Abend heimging, sagte ich zu mir selbst: ‚Das ist Afghanistan. Es wäre interessant, ein Buch über diese Familie zu schreiben.‘ Am Tag darauf suchte ich Herrn Rais in seinem Buchladen auf und erzählte ihm von meiner Idee. ‚Vielen Dank‘, sagte er nur. ‚Aber das bedeutet, dass ich bei Ihnen wohnen müsste.‘ ‚Willkommen.‘ ‚Ich müsste die ganze Zeit bei Ihnen sein und leben wie Sie. Mit Ihnen, Ihren Frauen, Schwestern und Söhnen.‘ ‚Willkommen‘, wiederholte er nur. (S. 12)
Und hier stutzte ich das erste Mal: Wie befremdlich, sich selbst einzuladen in einem armen Land, in eine Familie, die ohnehin in entsetzlich beengten Verhältnissen lebt, in der es quasi keine Privatsphäre gibt und sich – bis auf den Hausherrn und seine junge Zweitfrau – immer mehrere ein Zimmer in der kleinen Wohnung teilen müssen.
Seierstad lebt mehrere Monate mit und in der Großfamilie und anscheinend erzählen ihr vor allem die Frauen viel von dem, was hinter den Kulissen passiert. Sie gibt jedem Familienmitglied im Buch einen anderen Namen, Rais wird beispielsweise zu Sultan, aber dennoch sind alle später mühelos zu identifizieren, was nach der Veröffentlichung für viel Ärger und jahrelange Auseinandersetzungen vor Gericht geführt hat.
Sie erzählten mir Dinge, wenn sie Lust dazu hatten, nicht, wenn ich sie fragte. Dies geschah selten, wenn ich den Notizblock bereit hatte, sondern eher beim Einkaufen auf dem Basar, im Bus oder spätabends auf der Matte. (S. 12)
Schon im Vorwort klingt das beherrschende Thema des Buches an:
Die Familie kümmerte sich gut um mich, alle waren großzügig und offen. Trotzdem war ich oft auch wütend auf sie. Es war immer dasselbe, das mich provozierte, nämlich wie die Frauen behandelt wurden. Die scheinbare Überlegenheit der Männer wurde von allen stillschweigend hingenommen. (S. 13)
Und zunächst wird man als Leserin quasi hineingezogen in dieses so fremde Leben. Wir lernen viel über die Geschichte Afghanistans, in dem schon seit Jahrzehnten immer wieder wechselnde Machthaber wüten und die Bevölkerung versucht, so gut es geht, zu überleben. Auch der Buchhändler geriet mit den wechselnden Herrschern häufig aneinander, ohne deshalb seinen Traum von einem Kabuler Buchimperium aufzugeben.
Besonders die zurückliegenden Jahre der Taliban-Herrschaft haben nicht nur unzählige Menschen das Leben gekostet, auch die kaputten Häuser und die zerstörte Infrastruktur sind immer noch die eines Landes im Krieg. Seierstad nennt unzählige Beispiele dieser unfassbaren Diktatur, die buchstäblich alles auf ihr fanatisches, ungebildetes und brutales Niveau herabziehen wollte.
Sogar in den Mathematikbüchern war Krieg das Hauptthema. Die Jungen – denn die Taliban ließen Bücher nur für Jungen schreiben – rechneten nicht mit Äpfeln und Keksen, sondern mit Kugeln und Kalaschnikows. Eine Aufgabe darin konnte folgendermaßen aussehen: ‚Der kleine Omar hat eine Kalaschnikow mit drei Magazinen. In jedem Magazin stecken zwanzig Kugeln. Er braucht zwei Drittel seiner Kugeln auf und tötet sechzig Ungläubige. Wie viele Ungläubige tötet er pro Kugel?‘ (S. 85)
Im September 1996 verkündeten die Taliban beim Einzug in Kabul diverse Dekrete, u. a. dass Taxifahrer keine Frauen mehr mitnehmen durften, die ohne Burka unterwegs waren. Musik wurde verboten, Kassetten waren ab sofort in Fahrzeugen; Hotels und Geschäften untersagt. Man durfte keine britischen und amerikanischen Frisuren mehr tragen, auf Hochzeiten durfte ab sofort weder Musik gespielt noch getanzt werden. Die Strafen bei Zuwiderhandlung kann man sich denken.
Drachensteigenlassen hat unnütze Folgen wie Wetten, Todesfälle bei Kindern und Abwesenheit vom Unterricht. Läden, die Drachen verkaufen, werden geschlossen. (S. 112)
In Fahrzeugen, Läden, Häusern, Hotels und an anderen Orten sollen Bilder und Porträts entfernt werden. Die Inhaber müssen alle Bilder an den erwähnten Orten zerstören. (S. 113)
Das letztgenannte Verbot von Abbildungen sorgte dafür, dass die Taliban, die meist Analphabeten waren, in die Buchläden kamen, die Bücher durchblätterten und alle, die Abbildungen und Fotos von was auch immer enthielten, wurden verbrannt. Außerdem galt:
Frauen, ihr sollt eure Wohnungen nicht verlassen! Wenn ihr sie dennoch verlassen müsst, solltet ihr das nicht wie die Frauen tun, die in modischen Kleidern und mit viel Schminke allen Männern unter die Augen traten, ehe der Islam ins Land kam. (S. 114)
Auch Puppen und Schmusetiere waren, weil Abbildungen von Lebewesen, verboten.
Wenn die Religionspolizisten zu Hause bei Leuten Razzien veranstalteten, schlugen sie Fernseher und Kassettenrekorder kaputt und nahmen auch das Spielzeug der Kinder mit, wenn sie es entdeckten. Sie rissen Arme und Köpfe ab und zertraten sie vor den Augen der entsetzten Kinder. (S. 309)
Selbst nach der – wie wir heute wissen, nur zwischenzeitlichen – Vertreibung der Taliban wirken sie in den Köpfen der Menschen weiter. Die Frauen überlegen sich sehr genau, ob sie wirklich ohne Burka – ein Kleidungsstück, das laut Seierstad überhaupt erst in der Herrschaftszeit von König Habibullah (1901 bis 1919) in Afghanistan eingeführt worden sei – auf die Straße gehen. Eine der Schwestern des Buchhändlers ist fassungslos, als sie allen Mut zusammengenommen hat, um heimlich einen Englischkurs zu besuchen, und dann feststellen muss, dass dort auch Männer anwesend sind. Sie fühlt sich beschämt und beschmutzt, den Kurs besucht sie nie wieder.
Die zweierlei Maß, die an Frauen und Männer angelegt werden, sind manchmal kaum zu ertragen; die Verbannung der Frau ins Haus, ihre Herabwürdigung als Dienstmagd, die Beschämung der Ehefrau, weil sich der ca. 60-jährige Buchhändler, der mit einer Lehrerin verheiratet ist (die aber den Beruf nicht mehr ausübt), eine sechzehnjährige zweite Frau sucht. Die Versuche der Eltern, den richtigen Gatten für ihre Töchter zu finden, die Tradition, dass der Mann für die Braut zahlen muss: Je hübscher, jünger und tugendhafter die Braut, umso mehr können die Eltern verlangen. Dass da die Betrachtungsweise naheliegt, die Frau als sein Eigentum anzusehen, verwundert dann nicht mehr wirklich.
Daneben die Tradition, die Frau im Falle einer Trennung dadurch abzusichern, dass der Mann auch einen Preis nennen muss, den er zahlt, falls er sich grundlos von der Frau scheiden lassen will. Und erst die Rollenbilder und zum Teil unbarmherzigen Ehrvorstellungen:
Männer und Frauen, die nicht verwandt sind, dürfen nicht im selben Zimmer sitzen. Sie dürfen sich nicht unterhalten und nicht zusammen essen. Auf den Dörfern sind sogar die Hochzeitsfeste aufgeteilt, die Frauen tanzen und feiern für sich und die Männer ebenfalls. (S. 77)
Eine der Mütter aus dem großen Familienclan erklärt sich, nachdem der Familienrat getagt hat, mit dem Tod ihrer Tochter einverstanden. Diese hatte sich heimlich mit einem fremden Mann getroffen und damit die Ehre der ganzen Familie beschmutzt.
Sie [die Mutter] war es, die Mutter, die zum Schluss die drei Söhne nach oben schickte, die Tochter zu töten. Die Brüder gingen zusammen in das Zimmer der Schwester. Gemeinsam legten sie ihr ein Kissen aufs Gesicht, dann drückten sie zusammen ganz fest und immer fester zu, bis sie sich nicht mehr regte. Erst dann gingen sie zu ihrer Mutter zurück. (S. 60)
Hier war ich überrascht über die Überraschung der Autorin, die das Verhalten der Mutter nicht nachvollziehen konnte. Ich frage mich, was wäre der Mutter denn übrig geblieben, wenn sie sich nicht selbst dem „Verdacht“ aussetzen wollte, bei der Erziehung der Tochter versagt zu haben? Erst wenn eine Frau erwachsene Töchter hat, die die Hausarbeit erledigen können, wird sie
eine Art Regentin des Hauses, die Ratschläge erteilt, Ehen arrangiert und über die Moral der Familie wacht, das heißt, vor allem über die Moral der Töchter. Sie achtet darauf, dass sie nicht allein ausgehen, dass sie sich ordentlich bedecken, dass sie außerhalb der Familie keine Männer treffen und dass sie gehorsam und höflich sind. (S. 144)
Nach der Lektüre bleibt ein seltsamer Nachgeschmack. Auf der einen Seite lernt man viel, über das Land und seine zerrissene Geschichte, das Leid der Bevölkerung, die schon so lange ein Spielball fremder Mächte ist, und ganz ohne Frage auch über die Rückständigkeit, was Zugang zu Bildung und Gesundheitssystemen angeht, und die nahezu nicht existenten Wahlmöglichkeiten der Frauen, ihre Rechtlosigkeit und fehlende Anerkennung als denkende und eigenständige Subjekte.
Bei jungen Frauen handelt es sich vor allem um Tauschobjekte und Handelsware. Die Ehe stellt einen Vertrag dar, der zwischen Familien oder innerhalb einer Familie geschlossen wird. Welchen Nutzen die Heirat für den Clan hat, ist entscheidend, auf Gefühle wird nur selten Rücksicht genommen. (S. 61)
Auf der anderen Seite unterschlägt Seierstad viele Zwischentöne. Es gibt bei ihr nur Schwarz und Weiß. Mir fehlt die grundlegende Einsicht, dass Menschen sich – abgesehen von den nicht verhandelbaren Menschenrechten – auch in nicht-westlichen Bräuchen und Lebensformen wohl und verwurzelt fühlen.
‘Allein‘ ist für Leila [die 19-jährige Schwester des Buchhändlers] ein unbekannter Begriff. Sie war noch nie allein in der Wohnung, ist noch nie allein irgendwohin gegangen und hat noch nie allein in einem Zimmer geschlafen. Jede Nacht hat sie auf der Matte neben ihrer Mutter verbracht. Leila weiß nicht, was es heißt, allein zu sein, und das fehlt ihr auch nicht. Das Einzige, was sie sich wünscht, ist etwas mehr Ruhe und etwas weniger zu tun. (S. 218)
Afghanen haben mir beispielsweise ebenfalls erzählt, dass Hochzeitsfeiern oft nach Geschlechtern getrennt stattfinden, dass das aber trotzdem ausgelassene und glückliche Feiern sein können und dass das Gebot der getrennten Geschlechter – man soll ja vor allem die anderen nicht beim Tanzen beobachten können – auch schon mal dadurch umgangen wird, dass heimlich Videoaufnahmen hin und her geschmuggelt werden. Dass einige der von der Familie arrangierten Ehen, die sie im Buch schildert, glücklich sind, kann Seierstad nicht nachvollziehen.
Außerdem – und das ist ein noch größeres Problem – hat Seierstad nicht mit offenen Karten gespielt: Das Buch wurde, ohne dass ein Gegenlesen durch die Familie stattgefunden hatte, veröffentlicht. Natürlich hat die Journalistin die Gastfreundschaft, die sie fünf Monate in Anspruch genommen hat, mit Füßen getreten. Manchmal schildert sie Gedanken der Beteiligten, die eher so wirken, als ob eine westliche Frau ihnen ihre eigenen Worte in den Mund gelegt hat.
Ich frage mich, ob Seierstad einige ihrer berechtigten Fragen dem Buchhändler tatsächlich nie gestellt hat, zum Beispiel, warum er – ein Mann des Buches – seinen eigenen Söhnen den Schulbesuch untersagt, damit sie in seinen Läden arbeiten können.
Aimal ist Sultans jüngster Sohn. Er ist zwölf Jahre alt und hat einen Arbeitstag von zwölf Stunden. Jeden Tag, sieben Tage die Woche, wird er bei Morgengrauen geweckt. […] Punkt acht schließt Aimal die Tür seines kleinen Ladens in der dunklen Lobby eines Hotels in Kabul auf. (S. 255)
Ich denke nicht, dass Seierstad – um Rais nicht zu verärgern – unliebsame Tatsachen beschönigen oder gar unter den Tisch hätte fallen lassen sollen oder der Erwartungshaltung des Buchhändlers hätte entsprechen müssen. Aber irgendwann fällt auf, dass sie die Familie eher seziert, und zwar ohne jegliche Sympathie, humorlos, einseitig und zum Teil arrogant und überheblich.
Es gibt eine Schlüsselszene im Hamam, die auch Shah Mohammad Rais bei den anschließenden juristischen Auseinandersetzungen immer wieder beanstandet hat. In dieser schildert Seierstad die Frauen, die in ihrem ganzen Leben noch nie ohne Verschleierung das Haus verlassen konnten, in ihrer Nacktheit so empathielos, so befremdet, voyeuristisch und respektlos, wie sie das wohl nie mit ihren eigenen Familienmitgliedern getan hätte.
Seierstads Selbsteinschätzung im Guardian, dass sie die Familie immer respektvoll beschrieben und das Heldentum von Rais gewürdigt habe, ist eine reine Schutzbehauptung und im Grunde Unfug. Dazu kommt, dass sie selbst als Person, die immerhin fünf Monate mit der Familie verbracht hat, im Buch nicht auftaucht. Somit erscheinen alle Schilderungen und wiedergegebenen Gespräche zunächst objektiv, dabei ist dieses Buch in seiner Kritik an den Verhältnissen genau das nicht. Es ist kein neutraler Bericht. Und über die Folgen für die betroffenen Frauen in einem so konservativen Land wie Afghanistan, nachdem das Buch in Englisch erschienen war, hat sie sich gar keine Gedanken gemacht.
In den englischen Neuauflagen sind inzwischen einige der beanstandeten Szenen nicht mehr enthalten. Für diese hat sich die Autorin bei Rais und seiner Mutter entschuldigt.
In einem weiteren Interview – ebenfalls im Guardian – wird das Problematische ihres Buches ebenfalls angesprochen:
I ask whether it was kind of her to draw out these women’s most intimate sexual secrets and private emotions, and reveal them to the world. „What’s unkind in it?“ Seierstad says, surprised. „My project, my only goal, was to understand what was going on inside one of these families. I was there as a journalist, invited into their home to find out about Afghanistan. Should I, when I know something is not right, like the way the bookseller treated his wives, say it’s not important? […].“
Yet Seierstad admits that, at times, she did go too far. In the first edition of the book, published in a limited run in the UK and now out of print, there is an astonishingly intimate description of one of the women in the household at the hammam. In two passages, Seierstad writes about the breasts, belly and genitals of this woman – a woman who since reaching adulthood has never left her house without wearing a burqa.
„I removed that section because Rais asked me to,“ says Seierstad. „But this book went through several editors and we all overlooked that problematic word, genitals. We realised it was a mistake only after Rais focussed on it, and I apologised to him and to his mother for it.“
That she put it in at all, is perhaps evidence of a lack of sympathy for her subjects‘ privacy. In the past, Seierstad has claimed that the book is not a criticism of the Islamic way of life – but that it „just reveals a lot about it“. This, I suggest, is disingenuous – and dangerous. Her outrage at the way women are treated in the book crackles on every page, but because she has written herself out of the narrative, her highly subjective account could be accused as masquerading as an objective report.
There is a long pause. „I agree now that it is not possible to write a neutral story,“ she says. „I don’t criticise the society with my words in the book but I agree, it’s there in the text anyway. It’s not an open critique but it is a critique.“