‚Du musst das verstehen: Sonst haben wir hier bald mehr Katzen als Ratten, und wer soll dann die Katzen jagen?‘ So wollte meine Mutter es mir erklären. Und nach einer Pause fügte sie hinzu: ‚Außerdem haben die Bauern bei uns das schon immer so gemacht.‘
Ich war fünf Jahre alt, und sommers wie winters saß ich vor dem Katzenloch im Deelentor unseres Vierständerhofes, meinem Beobachtungsposten. Von hier aus hatte ich einen geschützten Blick auf meine Welt: ein winziges Dorf im Weserbergland am Rande des Teutoburger Waldes. Den Rücken gegen das warme raue Holz gelehnt, wartete ich auf meine Katze Minke, die jeden Moment durch die Klappe kommen konnte, schaute auf den lehmigen Weg, der vom Wald in den Ort hinaufführte, und auf den Dorfanger. Dort also wurden all die kleinen Kätzchen ertränkt.
Mit dieser Kindheitserinnerung beginnt die fast 600 Seiten starke Autobiografie Selbstporträt des wohl bekanntesten Kunstfälschers Wolfgang Fischer, der später den Namen seiner Frau angenommen hat: Wolfgang Beltracchi.
Beltracchi (*1951) schildert seinen Weg, der in eher ärmlichen und provinziellen Verhältnissen begann – der Vater war Kirchenmaler, die Mutter Lehrerin – über Marokko bis nach Frankreich, wo er als reicher Mann und glücklicher Familienvater heimlich seiner kriminellen Tätigkeit nachgeht.
Seine ersten Zeichnungen sind Aktzeichnungen, die er aus den Büchern des Vaters kopiert und anschließend seinen Kameraden verkauft. Mit 15 gaukelt er den Eltern vor, er wolle zu Beginn der Sommerferien ein paar Tage mit seinen Freunden verbringen, in Wahrheit trampt er nach Barcelona – war doch Picasso dort kurze Zeit Schüler an der Kunstschule gewesen – und verdient sich zwischendurch mit Pflastermalerei das nötige Kleingeld. Erst zweieinhalb Monate später kehrt er zurück. Danach kann er dem Leben in Geilenkirchen nun gar nichts mehr abgewinnen.
1967 versucht ein alkoholkranker Cousin, den die Mutter aufgenommen hatte, ihn umzubringen. 1968 fliegt er vom Gymnasium. Er bewirbt sich an der Aachener Werkkunstschule, die ihn zunächst ablehnt, weil sie glaubt, dass die Bilder, die er zur Aufnahmeprüfung einreicht, nicht von ihm seien. Sie seien zu gut. Erst als ein ehemaliger Kunstlehrer die Echtheit bestätigt, wird er aufgenommen. Doch auch diese Ausbildung bricht er ab.
Es folgen Wanderjahre durch Wohngemeinschaften, zahlreiche Frauenbetten und Länder – oft ziemlich vom Drogenrausch benebelt. Als Hippie testet er die Grenzen des gesellschaftlich Erlaubten immer wieder aus und glaubt, die Regeln und Einschränkungen des Spießerlebens hinter sich gelassen zu haben.
… das Leben war ein großes Experiment. Es wurde diskutiert, gekifft, getanzt und gevögelt. Wir wollten bewusster leben, der Konsum von Drogen […] sollte der Bewusstseinserweiterung dienen. […] Meine Leidenschaften tendierten in jenen Jahren etwa zu dieser Reihenfolge: Frauen, Kiffen, Kunst, Kuchen, Musik, LSD. (S. 64 und 65)
Nach zehn Monaten im Amsterdamer Drogensumpf kommt er zurück nach Deutschland. Der Kontakt zu seinem wesentlich älteren belgischen Schwager André, einem Zigaretten- und Kaffeeschmuggler, intensiviert sich. Die beiden klappern alle Trödel- und Antikmärkte ab, da Wolfgang offensichtlich Talent darin besitzt, Gemälde zu entdecken, die man mit Gewinn weiterverkaufen kann.
Von da ist es nur noch ein kleiner Schritt, Bilder mit Details aufzuhübschen, die ihren Marktwert steigern. Irgendwann kommen sie auf die Idee, dass Wolfgang auf alt getrimmte Bilder gleich selbst herstellen könne. Er wird keine Kopien malen, sondern Bilder im Stile der Künstler, beispielsweise Bilder, die als verschollen galten. Er selbst gibt die Anzahl der von ihm gefälschten Bilder mit ungefähr 300 an. André wird dann sein erster Hehler, der ihn auch darin unterstützt, eine umfangreiche Kunstbibliothek aufzubauen. Im Vor-Internet-Zeitalter unabdingbar für einen erfolgreichen Kunstfälscher.
Ein Jahr zuvor hatte ich ‚Die Kuh‘ für 5000 Mark nach Berlin an Heinz gegeben. Nun steigerte sich ihr Wert auf über 100.000 Dollar. 1987 wurde sie in München in der Galerie Harald Wolf ausgestellt und im selben Jahr bei Christie’s in London anonym versteigert; erst 2006 wurde sie, abermals bei Christie’s, wieder angeboten; inzwischen kostete sie etwa 650.000 Dollar. (S. 228)
Er konzentriert sich in seiner Tätigkeit vor allem auf Maler der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie Campendonk und Max Ernst.
Ohne mit der Wimper zu zucken, rechtfertigt Beltracchi noch im Nachhinein seine Entscheidung, Anfragen von Galeristen, die an echten Beltracchis interessiert waren, abzulehnen, mit seinem moralischen Empfinden:
Die Daseinsform eines werktätigen Malers, die damit verbunden gewesen wäre, stieß mich ab. An öffentlichem Erfolg war ich nicht sonderlich interessiert […] Warum hatte ich all die Jahre gegen gesellschaftliche Normen gelebt? Nur um mich jetzt für ein bisschen Erfolg und Anerkennung dem Mief zu unterwerfen? Ich kannte doch die Erfolgreichen, die bei jeder Vernissage ihre Show abzogen, den ‚Künstler‘ mimten, auf donnernden Applaus hofften; wenn sie einmal mit einer Rolle begonnen hatten, mussten sie sie immer weiterspielen. […] Für mich war es eine Frage der Moral, mich diesen Verlockungen zu widersetzen. Meine Ablehnung gründete auf einen Anarchismus, der vor allem gegen die Kunst-Gesellschaft und ihr Regelwerk gerichtet war. […] Mein Terror zielte darauf, die Aufrichtigkeitsillusion eines Publikums zu zerstören, das die Akteure dieses Kunstmarkt genannten Schmierentheaters würdigt. (S. 142 und 143)
So nimmt eine beispiellose Jahrzehnte lange und finanziell immer einträglichere Fälscher- und Betrügerkarriere ihren Anfang, die erst mit der Entlarvung 2010 und dem Prozess 2011 an ihr Ende kommt.
Daneben ist es der Rückblick eines Hippies, der von sich selbst sagt, dass die Geburt seines Sohnes Manuel alles verändert habe:
Nachdem ich fast zwei Jahrzehnte wie ein psychedelisches Karnickel durch Europa gehoppelt war, reiste ich jetzt seltener, verzichtete auf meine nächtlichen Abenteuer und lebte zurückgezogen auf dem Lande.
Und 1992 trifft er seine große Liebe Helene Beltracchi, die er ein Jahr später heiratet und die, wie auch der Komplize Otto Schulte-Kellinghaus, dafür zuständig war, Gutachten von Sachverständigen zu besorgen, um anschließend die Gemälde in den Kunstmarkt einzuschleusen zu können. In mehreren Kapiteln schildert sie die Geschichte aus ihrer Sicht.
Ich habe schon lange keine Autobiografie mit solchem Interesse gelesen. Stellte sich mir am Anfang noch die Frage, ob denn wenigstens hier alles seine Richtigkeit habe, war mir das überraschend schnell völlig egal. Schon allein die Schilderung der Jugendjahre hätte für mich die Lektüre gelohnt. Die Freude am Schlittschuhlaufen, die Langeweile in der Schule, der Unsinn, den man mit den Freunden macht. Beltracchi ist ein großartiger Erzähler.
Anfang der Sechziger spielt die folgende Szene:
Und es kam noch schlimmer: In diesem Sommer fiel uns auch die Kuh eines Bauern zum Opfer. Mein Freund Rainer hatte uns gesteckt, dass sein Vater eine Handfeuerwaffe besaß. Äußerst fasziniert, überredeten wir ihn, die Pistole zu einem unserer Treffen im Wald mitzubringen. Wir waren zu dritt; jeder wollte einmal auf die am Waldrand aufgestellten Flaschen zielen; in unserem Eifer war uns freilich nicht aufgefallen, dass sich dahinter eine Kuhweide befand. Erst als eine der Kühe laut muhend umfiel, merkten wir, was wir angestellt hatten. Die Kuh lag noch im Sterben, als der Bauer mit seinem Trecker über die Wiesen auf uns zugerast kam. Er hatte die Schüsse gehört. Wir: entgeistert vor der toten Kuh. Er: vom Sattel springend und mit der Mistgabel in der Hand auf uns zurennend. (S. 35/36)
Die Ausbruchversuche aus der Provinz, die Sehnsucht nach der weiten Welt. Die Verbitterung, die Wut, die man als Jugendlicher erlebt, wenn man – weil man in abgetragener Kleidung zum Tanzunterricht kommt – gedemütigt wird.
Mal hier, mal dort zupfte er (der Tanzlehrer) an den Probanden herum. Dann stand er vor mir. Verächtlich, vielleicht sogar leicht angewidert, als müsste er einen Misthaufen begutachten, wanderte sein Blick betont langsam von den zu großen Schuhen über den speckig glänzenden Anzugstoff an mir hoch und blieb schließlich an meinem Schlips hängen. Mit zielgerichtetem Griff riss er ihn nach unten und ließ ihn mir ins Gesicht zurückflitschen. Sekunden später lag er mit blutiger Nase auf dem Rücken, und der Tanzunterricht war für mich beendet. Bis heute kann ich keinen Walzer tanzen, und nie mehr in meinem Leben habe ich einen Schlips getragen. (S. 39)
Es ist ein tolles Buch mit dem Blick für die entscheidenden Szenen, mit natürlich wirkenden Dialogen, witzigen Passagen und vielen, vielen Geschichten; selbstverständlich auch inszeniert, welche Autobiografie wäre das nicht? Außerdem eine anrührende Liebesgeschichte. Er sieht Helene und weiß, diese Frau will er heiraten.
Heute liebe ich ihre grauen Strähnen genauso wie damals ihre blonden Haare, ihre dünner gewordene Haut, die mich ihr Inneres besser sehen lässt, ihre Augen, jetzt etwas müder, aber noch immer voll Liebe für mich, ihre Falten und Fältchen, die mich daran erinnern, dass unsere Liebe im Lauf der Zeit zwar größer geworden ist, die Zeit selbst aber kürzer wird, weil wir im Herbst unseres Lebens angekommen sind. (S. 276)
Da sich der Erzähler als Mensch zu erkennen gibt, zieht er natürlich meine Sympathie auf sich, sei es beim Tod seiner Mutter oder wenn er sich Sorgen um die Gesundheit seiner kleinen Tochter macht oder als er verrückt vor Sorge ist, als seine Frau an Brustkrebs erkrankt.
Genau diese Ich-Perspektive ist aber auch die – reizvolle – Falle, in die man als Leserin hineinzutappen droht. Leicht könnte man der Gefahr erliegen, mit dem Betrüger zu zittern, ob er wohl die Schmuggelware unentdeckt über die Grenze bringt, ob ein geplanter Coup gelingt oder nicht.
So ist das Buch auf altmodische Weise spannend und gleichzeitig lehrreich, sowohl was einzelne Künstler als auch den Kunstmarkt angeht. Ich weiß jetzt nicht nur, was es mit dem Loplop, Manzonis Künstlerscheiße und der Frage, wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt, auf sich hat, sondern auch, dass jemand in manchmal nur wenigen Stunden ein Bild malen kann, für das er dann Hunderttausende Euro bekommt. Und dabei völlig ausblendet, dass er seinen gepflegten Lebensstil auf einem Weingut in Frankreich dadurch finanziert, dass er Menschen etwas andreht, was die nie im Leben hätten haben wollen.
Ein kreatives, manchmal dämliches, bis 1985 von Drogen vernebeltes und betrügerisches Leben mit vielen Reisen und Begegnungen. Eine schillernde Hauptfigur, ein Zocker, ein Liebender, außerordentlich begabt, intelligent, auch handwerklich unglaublich geschickt, gleichzeitig auch mit außerordentlich krimineller Energie und einem erstaunlich gering entwickelten Unrechtsbewusstsein ausgestattet.
Als einige Fachleute mehr über die Herkunft einzelner Bilder wissen wollten, beschließt er kurzerhand, der Legende, dass die Bilder aus der Sammlung der Großeltern seiner Frau stammten, Leben einzuhauchen. Sie besorgen sich Fotoapparate, Papier, Kleidung und Möbel aus den dreißiger Jahren und lichten Helene Beltracchi als ihre eigene Großmutter vor gefälschten Bildern ab.
Kein schlechtes Gewissen, sondern nachvollziehbarer Stolz auf die eigene Leistung erfüllte ihn, wenn sogar Angehörige von verstorbenen Malern seine Bilder als echt, ja als das beste Werk des Künstlers lobten. Noch während des Gerichtsprozesses 2011 macht er keinen Hehl daraus, dass sich sein schlechtes Gewissen, die Bilder gemalt zu haben, doch sehr in Grenzen halte. Das Einzige, was ihm vermutlich wirklich in Bezug auf seine Gesetzesübertretungen leid tut, dürfte die Tatsache sein, dass er sich und vor allem seine Frau damit ins Gefängnis gebracht hat.
Er gibt zu, dass er an seiner Fälschertätigkeit den Nervenkitzel genossen habe. Das Abenteuer. Den Reiz des Risikos, der sein Leben in einer dauernden Spannung hielt, die er heute durchaus vermisse. Auch die Gier der Händler hätte – zum Beispiel in den achtziger Jahren – sein Tun doch sehr erleichtert.
Die Händler gierten damals nach frischer Ware. Der Markt boomte. Alles, was ich produzierte, riss man mir praktisch aus den Händen. Die Händler trugen ihre Gemäldewünsche an Otto heran, als ob sie ein unerschöpfliches Reservoir witterten … (S. 229)
Er und seine Frau werden in dem Buch nicht müde, die Liebe zu ihrer gemeinsamen Tochter und zu dem Sohn Wolfgangs aus einer anderen Beziehung zu beschwören – das will ich auch gar nicht in Abrede stellen -, aber gab es nie einen Gedanken daran, was mit den Kindern passieren würde, wenn sie auffliegen? Dass der ganze Luxus, den man ihnen über die Jahre geboten hat, doch auf mehr als tönernen Füßen beruhte?
Also, ich höre schon Hollywood.
Anmerkungen
Liest man Zeitungsartikel zu dem weltweit Aufsehen erregenden Prozess, Interviews mit Beltracchi oder auch Rezensionen zu dieser Autobiografie, dann fällt auf, dass diese oft in Schwarzweiß-Malerei verfallen und überraschend emotional daherkommen. Gorris und Röbel beschimpfen ihn im Spiegel als größenwahnsinnigen Hippie-Arsch, der zur Reue ganz unfähig sei.
Andere werfen ihm vor, dass er immer noch nur seine eigene Vermarktung im Kopf habe – nicht nur die Autobiografie, nein auch noch die Briefe, die er sich mit seiner Frau im Gefängnis geschrieben hat, werfe dieser geschäftstüchtige Gauner nun auf den Markt. Und eine weichgespülte Dokumentation – pikanterweise vom Sohn des Verteidigers – gibt es auch schon.
Manchmal ist da der Neid auf die von den Beltracchis fröhlich genutzten Millionen und den edlen Lebensstil und eine heuchlerische Empörung deutlich herauszuhören. Ich bezweifle, dass sehr viele Menschen standhaft bleiben würden, wenn sie die Möglichkeit hätten, auf illegale und persönlich befriedigende Weise steinreich zu werden.
Andere wiederum sehen in ihm trotz allem einen langhaarigen Sympathieträger, einen Schlawiner in Jeans, der es den geldgierigen Spekulanten am Kunstmarkt mal so richtig gezeigt habe, indem er die ganzen Sachverständigen, die seine Bilder als echt deklarierten, ziemlich alt aussehen ließ. Was auch erklärt, dass diverse Gutachter und Galeristen keinerlei Interesse daran hatten, im Prozess auszusagen.
Eine dritte Gruppe mäkelt und nörgelt, er sei doch gar kein Künstler und im Grunde völlig unkreativ, er habe nur Stile kopiert und nie etwas Eigenes und Originelles geschaffen. Beltracchi sagt allerdings, dass ihn die „verzweifelte Suche nach Originalität“ nie interessiert habe, er habe alles, was er habe ausdrücken wollen, in seinen Bildern mitteilen können.
Genau diese Widersprüchlichkeiten zeigen, wie facettenreich, begabt, spannend und frech dieser Mann ist. Das ändert nichts daran, dass seine Betrügereien illegal waren und der finanzielle Schaden, den er und seine Komplizen angerichtet haben, enorm ist.
Sicherlich hat Beltracchi auch recht, wenn er süffisant darauf hinweist, dass es wohl kaum sein könne, dass viele seiner Bilder eine von Fachleuten attestierte „Aura“ innehatten, von dieser nach seiner Entlarvung aber plötzlich nichts mehr zu spüren sei. Da habe die Aura wohl doch eher am Preisschild gehangen.