Florian Illies: Zauber der Stille (2023)

Von allen Seiten bejubelt, das neue Buch von Florian Illies Zauber der Stille über – so der Untertitel – Caspar David Friedrichs Reise durch die Zeiten.

In vier großen Kapiteln Feuer, Wasser, Erde und Luft forscht Illies sowohl dem Lebensweg des Künstlers (1774 – 1840), seiner Reputation als auch den Gemälden nach. Das ist oft hochspannend und gleichzeitig ernüchternd, ja erschreckend, wenn man begreift, dass das, was heute mehr oder weniger unbezahlbar in den großen Museen hängt, quasi nur der Rest dessen ist, was vom Zufall, von Feuerkatastrophen und politischen Wirrnissen verschont geblieben ist.

Vorab sei gesagt, dass Illies für mich hier einen Rekord aufgestellt hat, was die Anzahl der Zeitsprünge angeht. Ich kam mir – je länger, je mehr – wie eine Flipperkugel vor, die hin und her kullert. Von der Biografie Friedrichs, der sehr früh Geschwister und Mutter verlor, zeitlebens von Melancholieschüben heimgesucht und während der Befreiungskriege zu einem großen Franzosenhasser wurde, bis hin zu den Nationalsozialisten, die 1943 Soldaten mit einem Büchlein „Caspar David Friedrich und seine Heimat“ Richtung Ostfront schickten.

Da sind wir gerade am Anfang des 20. Jahrhunderts und ohne Vorwarnung plötzlich am Ende des Zweiten Weltkrieges, um unversehens den Maler Johan Christian Clausen Dahl (1788- 1857) auf seinen Abendspaziergängen mit dem Künstler zu begleiten. Wir erfahren, dass der norwegische Kunstkritiker Andreas Aubert (1851 – 1913) alles getan hat, um den Deutschen ihren Friedrich wieder schmackhaft zu machen. Nur um wenige Seiten später die Schicksale einzelner Gemälde nachzuverfolgen.

Wir reiben uns die Augen bei dem dramatischen Auf und Ab im Renommee des Künstlers, der mit seiner Familie manchmal hungern musste, obwohl seine Gemälde vom preußischen König angekauft wurden und dann wieder bei irgendwelchen Flohmarktfunden oder in adligen Damenstiften auftauchten.

Schon 1901 war das Geburtshaus von Caspar David Friedrich abgebrannt, dabei waren neun Bilder des Malers, die sich noch in Familienbesitz  befanden, zerstört worden. Eines dieser Gemälde, bei dem Restauratoren so lange die Brandblasen mit Farbe aufgefüllt haben, landet nach Umwegen

passenderweise bei Wolfgang Gurlitt, einem schillernden Kunsthändler, der selbst fast ständig pleite ist und dessen Liebesverhältnisse den goldenen zwanziger Jahren alle Ehre machen. Sein Charme wedelt welpenhaft in alle Richtungen. Und so lebt Gurlitt fröhlich mit seiner Exfrau, seiner ihm ebenfalls sehr zugewandten Exschwägerin, seiner neuen Ehefrau, ihren gemeinsamen Töchtern und seiner großen Liebe Lilly Agoston zusammen. Muss man erst mal hinbekommen. (S. 27)

Illies springt von der Disney-Verfilmung des Romans Bambi von Felix Salten, bei dem der Zeichner Tyrus Wong angeblich von Friedrichs Gemälden beeinflusst worden sei, bis zur Bücherverbrennung der Nationalsozialisten, bei denen Felix Salten zu den verfemten jüdischen Autoren gehörte, dessen Bücher auf den Scheiterhaufen landeten.

Nach vierjähriger Produktionszeit kommt Walt Disneys Film Bambi in die Kinos, und Adolf Hitler gehört 1942 zu den Ersten, die ihn in Europa sehen. Er schaut Bambis Flucht vor dem Feuer inmitten des Krieges in seinem privaten Kino auf dem Berghof an und ist gerührt. (S. 32)

Wir erfahren, dass sich in Murnaus Film Nosferatu von 1922 Anleihen an Friedrich finden, und werden daran erinnert, dass am 7. Dezember 1996 zwei Einbrecher Ansicht eines Hafens aus dem Schloss Charlottenhof stahlen und staunen über die Auflösung dieses Diebstahls. Und laut Beckett sei Friedrich sogar die Quelle für Warten auf Godot gewesen.

Goethe wiederum konnte zum Leidwesen des Künstlers so gar nichts mit Friedrich anfangen, reagierte immer aggressiver auf dessen Gemälde und war nicht in der Lage, das radikal Neue, ja Moderne zu erkennen, als er Den Mönch am Meer auf der Staffelei in Friedrichs Atelier betrachtete.

Keine Frage, das liest sich süffig, ja spannend, man reibt sich die Augen ob all der herbeigetragenen Mosaikstückchen. Kein bisschen angestaubt. Und oft genug Augen öffnend für die Launen und Vorlieben der jeweiligen Zeit. Und für die Gefahren, denen Kunstwerke im Laufe der Jahrhunderte ausgesetzt sind. Was für eine Vorstellung, dass wir viele der Werke Caspar David Friedrichs nie kennenlernen werden, weil sie längst Feuer oder Krieg zum Opfer gefallen sind.

Dennoch frage ich mich, wieso uns das in solchen Edutainment-Schnipseln – ein Rezensent sprach freundlicher von „Miniaturen“ – präsentiert werden muss. Soll das sicherstellen, dass ich „dranbleibe“? Mich nicht zu sehr konzentrieren muss? Bin ich zu alt für diese schnellen Schnitte? Warum darf‘s nicht ein bisschen stringenter sein? Ein bisschen mehr Tiefgang haben? Das Buch heißt Zauber der Stille. Nun, das gilt sicherlich für die Gemälde, doch den Aufbau des Buches fand ich laut und mir wurde beim Lesen manchmal ein bisschen seekrank.

Den Stil mochte ich nicht durchgehend und hätte mir noch viel mehr Zitate aus zeitgenössischen Briefen und von Friedrich selbst gewünscht.

Gleich im ersten Kapitel Feuer geht es um den Brand vom 6. Juni 1931, als im Münchner Glaspalast neun Werke des Malers verbrennen, die Teil der 110 Gemälde umfassenden Sonderausstellung Werke deutscher Romantiker von Caspar David Friedrich bis Moritz von Schwind waren.

Gierig verschlingen die Flammen das trockene Holz der Keilrahmen und lassen die Reste der Leinwände als kleine schwarze Aschefetzen in den verschlafenen Himmel hinaufwirbeln, immer wieder aufs Neue werden sie von den heißen Wogen der Flammen in die Höhe geweht, immer und immer wieder, bis das Auge sie irgendwann nicht mehr sehen kann. (S. 14)

Ich kann ja mit diesen nachempfundenen Szenen nicht so viel anfangen, genauso wenig mit spekulativen Antworten:

Und wie hat wohl Thomas Mann dieses verstörend leuchtende München, diesen verheerenden Brand am frühen Morgen des 6. Juni erlebt, der ausgerechnet sein 56. Geburtstag ist? Ob er sich bei seiner Frau Katja beschwert hat über den unnötigen Lärm der Feuerwehr? Oder über den unerfreulichen Brandgeruch, der seine Nase ‚affiziere‘? Ob er sich die Brandstätte angeschaut hat? Wir wissen es nicht. (S. 17)

Hier noch eine interessante Besprechung von Tilman Krause aus der WELT. In der Kunsthalle Hamburg läuft bis zum 1. April 2024 eine große Friedrich-Ausstellung.

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Steven Naifeh; Gregory White Smith: Van Gogh – Sein Leben (OA 2011)

Vor einigen Jahren kaufte ich im Van Gogh Museum in Amsterdam DIE Biografie von Naifeh und Smith zum Künstler; doch wie so oft, das Buch war gekauft, das Interesse verlor sich und andere Bücher drängelten sich vor, bis es mir eher zufällig wieder in die Hände fiel. Unlustige Gedanken machten sich breit: Würde mein Interesse an van Gogh und seinen Bildern wirklich über 1000 Seiten tragen? Hätte es der Wikipedia-Artikel nicht auch getan?

Die Antwort ist einfach: Nein, das Buch war hinreißend und so spannend, ja manchmal geradezu nervenaufreibend, dass ich es kaum aus der Hand legen konnte und mein Mann musste sich jeden Abend lange Inhaltsangaben anhören – selbst wenn es einiges gab, was man vielleicht hätte kürzer fassen können.

Den Trumm aus dem Amerikanischen übersetzt haben Bernhard Jendricke, Christa Prummer-Lehmaier, Sonja Schuhmacher und Rita Seuß.

Alle meine Ansichten, die ich vorher zu van Gogh (1853 – 1890) hatte, warf das Buch über den Haufen; nahezu jede Seite brachte neue Details eines Lebens, das sich zwischen Kunsthandel, Büchern, Museen, Holland, Prostituierten, Großbritannien, Selbstkasteiungen, einem belgischen Steinkohlerevier, Armut, Paris und Südfrankreich entfaltete. Auch die gängige Theorie von Vincents Selbstmord stellen die Autoren zumindest in Frage.

Naifeh und Smith konnten nicht nur auf die Ergebnisse jahrzehntelanger Forschungsarbeit zurückgreifen und auf die Hilfe renommierter Institutionen hoffen, sie haben es neben ihrer schier unglaublichen Recherchearbeit auch verstanden, unzählige Zitate aus den Briefen Vincents und anderer Familienmitglieder – allen voran von Bruder Theo – so organisch einzuflechten, dass man sehr nahe am Geschehen ist.

Die künstlerische Entwicklung van Goghs wird in den gesamtgesellschaftlichen und künstlerischen Rahmenbedingungen verortet und ist auch für Laien gut nachvollziehbar. Das Buch enthält eine ganze Reihe von Abbildungen, von denen man sich, wie könnte es anders sein, natürlich noch wesentlich mehr wünschen würde.

Doch es sind vor allem drei Aspekte, die mich am meisten an dieser unglaublichen und dabei doch immer sachlichen Biografie faszinieren, die weitab von jeglicher Verklärung oder Verkitschung ihres Gegenstandes ist.

Zum einen lässt sich das Buch auch als Psychogramm einer Familie lesen. Der Vater war Pfarrer und in dieser oft sehr verlogenen Welt, die nur auf äußere Wohlanständigkeit schielte, war von Anfang an kein Platz für einen schwierigen und unkonventionellen Sohn. Den Kindern wurde verboten, mit Bauern und armen Leuten Umgang zu haben. Man war schließlich etwas Besseres. Später „durften“ Vincent und sein Bruder Theo zwar Affären haben, selbst dass sie Frauen schwängerten, war nicht das eigentliche Problem. Doch sobald einer der Söhne seine unstandesgemäße Geliebte heiraten wollte, wurden die ganz großen Geschütze aufgefahren.

Zum anderen ist die Bruderbeziehung zwischen Vincent und Theo wesentlich vielschichtiger, als ich mir das so vorgestellt hatte. Und Vincent war allein schon vom Verhalten und den finanziellen Forderungen, die er an Theo stellte, tatsächlich eine unglaubliche Belastung. Vincent war nicht fähig und später auch nicht willens, seinen eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten. Vor allem, nachdem sich seine Träume, als einfacher Prediger in England Arbeit zu finden, als völlig wirklichkeitsfremd erwiesen hatten. Und zu seinen Lebzeiten ist nur der Verkauf eines einzigen Gemäldes von ihm dokumentiert.

Der dritte Aspekt, der nach der Lektüre nachhallt, ist die schier unfassbare lebenslange Einsamkeit dieses Mannes, der – so erscheint es mir jetzt – eher aus Zufall Künstler geworden ist. Ein Mensch, der ständig von Heimweh nach einer illusionären heilen Vergangenheit und Familie – die später nichts mehr von ihm wissen wollte – geplagt war und in grandiosen Wahnvorstellungen von einer Künstlergemeinschaft geträumt hat und für diese Gemeinschaft vermutlich der allerungeeignetste gewesen wäre. Sämtliche Beziehungen und Freundschaften zerbrachen an seinem unverschämten, distanzlosen und diktatorischen Verhalten. Selten dürften Selbst- und Fremdwahrnehmung bei einem Menschen immer wieder so weit auseinander gelegen haben wie bei Vincent van Gogh.

Seine große Liebe galt der Porträtmalerei, also genau dem Bereich, wo er vermutlich die größten handwerklichen Schwächen hatte. Seine vielen Selbstporträts sind allerdings auch dem Umstand geschuldet, dass er oft kein Geld hatte, Modelle zu bezahlen.

Seine unbeschwerteste Zeit war womöglich die in der „Irrenanstalt“ in Südfrankreich, wo er – zwischen seinen Wahnschüben – einfach malen konnte, sich nicht um finanzielle Angelegenheiten sorgen und nicht befürchten musste, von Straßenjungen mit faulem Obst beworfen zu werden. Es geht einem nahe, wenn man nach über 1000 Seiten liest, was er kurz vor seinem Tod aus Auvers in einem Brief geschrieben hat:

Ich will nicht sagen, meine Arbeit wäre gut, aber von allem, was ich machen kann, ist sie noch am wenigsten schlecht. Das Übrige, Beziehungen zu Menschen, ist recht zweiten Ranges, denn dazu habe ich kein Talent. Das lässt sich nun mal nicht ändern.

Sein Bruder Theo, ohne dessen finanzielle Unterstützung Vincent nichts hätte malen können, starb nur ein Jahr nach ihm. Dass wir heute van Goghs Gemälde in den Museen der Welt bewundern können, verdanken wir ganz wesentlich seiner Schwägerin und seinem Neffen und Sammlern wie Helene Kröller-Müller.

Und wer mag, hört jetzt noch ein bisschen Don McLean.

Linda Lear: Beatrix Potter (2007)

It was a cold, wet November day in 1918. The frosty air had settled just above the lake. Soon it would be dark. Through the gloom the figure of a woman could just be made out. She was on her hands and knees scrabbling about in the stubble of the harvested cornfield, searching for something. Close up she was a handsome woman with noticeably high colour in her cheeks, deep-set brilliant blue eyes and unruly brown hair pulled back haphazardly from her face.

Mit diesen Sätzen beginnt Linda Lear die bisher umfangreichste und leider auch denkbar dröge Biografie zu Beatrix Potter, einer der bekanntesten Kinderbuchautorinnen Großbritanniens.

Beatrix Potter (1866-1943) entstammte einer wohlhabenden Unitarier-Familie. Ihr Großvater väterlicherseits, Edmund Potter, war ein erfolgreicher Unternehmer und späteres Parlamentsmitglied.

As an enlightened employer, Edmund was concerned for the welfare and education of his employees, many of whom were children under the age of 13. He built a large dining room in the mill which could serve a hot meal to three hundred and fifty people at one time. He converted part of a nearby mill into the Logwood School, where the children of his workers, as well as the child labourers, could learn reading, writing and basic hygiene. He also built a reading room and library which was kept well stocked with books and newspapers. Edmund Potter believed in the necessity of educating the working classes […] but he had no sympathy for trade unionism. (S. 12)

Auch ihr Großvater mütterlicherseits, John Leech, schuf mit seinen Tuchfabriken die Grundlage für einen Generationen überdauernden Wohlstand.

Beatrix und ihr Bruder Bertram wachsen folglich in einem behüteten und finanziell privilegierten Umfeld auf. Beatrix besucht als Mädchen keine Schule, sondern wird zu Hause von einer Reihe von Gouvernanten unterrichtet. Ihr zeichnerisches Talent wird früh von der Familie gefördert. Sie bekommt Zeichenunterricht und ihr Vater schenkt ihr teure Bücher und alles, was sie für ihr „Hobby“ benötigt. Die Kinder dürfen eine Reihe von Haustieren, wie z. B. Mäuse, halten, die dann von Beatrix hingebungsvoll gezeichnet werden.

Rabbits were also favourite subjects. […] Both rabbits were drawn in every imaginable position and attitude. She observed how they rested, how they nested or hibernated, and the characteristics of their play. (S. 44)

Nach dem Tod der Mäuse, Kaninchen oder Fledermäuse interessieren sich die Kinder aber auch für deren genaue Anatomie, kochen die Knochen aus und stellen Skelettstudien an. Beatrix beginnt mit Begeisterung zu mikroskopieren.

Man verbringt monatelange Ferien in gemieteten Landhäusern in Schottland und später auch im Lake District. Hier dürfte die Liebe Beatrix zum Landleben ihren Ursprung haben, genießt sie auf dem Land doch mehr Freiheiten als in der Stadt und kann sich leichter ihren naturwissenschaftlichen Interessen widmen.

Gleichzeitig ist es aber auch ein sehr eingeschränktes Leben. Denn die Eltern von Beatrix waren – man kann es nicht anders nennen – unglaubliche Snobs. Niemand ist – gerade ihrer Mutter – gut genug für den gesellschaftlichen Umgang mit ihrer Tochter , sodass Beatrix keine gleichaltrigen Spielkameraden oder Freundinnen hat. Noch als erwachsene Frau wird ihr das Recht abgesprochen, selbst über die Kutsche zu verfügen, ihre Cousinen einzuladen oder ihre Bekannten selbst zu wählen. Ihr späterer Verleger Norman Wayne, mit dem sie sich als 39-Jährige verlobt, wird ebenfalls als nicht ebenbürtig akzeptiert und als potentieller Schwiegersohn abgelehnt.

Mit 24 veröffentlicht sie erste Zeichnungen, die als Grußkarten auf den Markt kommen. Gleichzeitig vertieft sich ihr Interesse an Pilzen und Fossilien.

By the early 1890s Beatrix’s interests as an artist and naturalist had converged on fungi and, to a lesser degree, on fossils. Such enthusiasms were typical of the Victorian craze for natural history which, […] affected everyone from aristocrat to artisan. Women in particular were drawn to the study of insects, shells, ferns, fossils and fungi, and to their naming, classification, collection and frequently their illustration. Like many of her contempories, Beatrix was first drawn to natural history as a way to relieve the boredom that beset affluent Victorians, and for the measure of personal freedom it brought. (S. 76)

Dazu gehören auch häufige Besuche im Natural History Museum, wo Beatrix Spinnen, Insekten und Schmetterlinge zeichnet.

1892 lernt sie den Briefträger und begeisterten Naturkundler Charlie McIntosh kennen, der sie bei ihren Pilzforschungen tatkräftig unterstützt, indem er ihr immer wieder Pilze schickt und ihre Zeichnungen kommentiert. In ihrem Tagebuch hält sie die erste Begegnung fest:

He was quite painfully shy and uncouth at first, as though he was trying to swallow a muffin, and rolling his eyes about and mumbling. […] I would not make fun of him for worlds but he reminded me so much of a damaged lamp post. He warmed up to his favourite subject, his comments terse and to the point, and conscientiously accurate. (S. 82)

1893 schickt sie einen illustrierten Brief an den kleinen Sohn ihrer ehemaligen Gouvernante Annie Moore. In dieser Urfassung ihrer später weltberühmten Kaninchen-Geschichten erzählt sie von den Abenteuern ihren neuen Kaninchens Peter Piper.

Im gleichen Jahr wird sie gebeten, zwölf Lithografien für eine naturwissenschaftliche Vorlesungsreihe anzufertigen. Dank ihres einflussreichen Onkels erhält sie eine Eintrittskarte, die sie berechtigt, ihre Pilzstudien im berühmten Kew Gardens fortzusetzen, der damals für die Allgemeinheit nur eingeschränkt zugänglich war. Allerdings trifft sie dort als Amateurin, die vielleicht auch ein bisschen undiplomatisch vorgeht, auf wenig Gegenliebe.

Ihre Forschung, was die Keimung von Sporen anbelangt, wird stark von ihrem Onkel, der selbst Chemiker ist, unterstützt. 1897 werden ihre Erkenntnisse, vermutlich von einem Mitarbeiter von Kew Gardens, der Linnean Society in London präsentiert, denn Frauen hatten dort keinen Zutritt. Die Linnean Society hatte darüber zu befinden, ob eingereichte Artikel veröffentlichenswert waren. Potters Arbeit On the Germination of the Spores of Agaricineae wird freundlich ignoriert. 1997 hat sich die Linnean Society übrigens für den „sexism displayed in its handling of her research“ entschuldigt.

Darüber hinaus widmet sich Beatrix Potter mit großer Akribie der Frage, ob es sich bei Flechten nicht um ein symbiotisches System zwischen Algen und Pilzen handele. Ihre Hoffnung, von den Mitarbeitern des Natural History Museum in ihren Forschungen unterstützt zu werden, erfüllen sich nicht. Zum einen ist sie eine Frau, zum anderen weiß sie zu viel und zum dritten wird sie vom Direktor des Museums ignoriert, u. a. deshalb weil sie nicht begreift, wie sehr sie Mr Fowler dadurch verärgert hat, dass sie – wie alle Frauen ihrer Gesellschaftsschicht – Vogelfedern als Hutschmuck verwendet.

Die nächste große Etappe in Potters Leben wird bestimmt von den Veröffentlichungen ihrer Kinderbücher, von denen eine ganze Reihe auf die illustrierten Briefe zurückgehen, die sie an Kinder ihrer Freunde und Verwandten schickt.

Most of her picture letters describe her holiday activities: the weather, the pets she has with her, the animals she sees, farming practises, family gossip and local lore. Each letter was suited to the age and interests of the child, revealing her instinctive ability to match story to audience. (S. 132)

1901 lässt sie auf eigene Kosten eine Schwarz-Weiß-Ausgabe von 250 Exemplaren von The Tale of Peter Rabbit drucken. 1902 folgt dann die farbige Ausgabe im Frederick Warne & Co Verlag. Sie besteht darauf, dass die Bücher in einem kleinen Format erscheinen, sodass auch Kinder die Bücher mühelos halten können. Obwohl sie 35 Jahre alt ist, muss ihr Vater seine Erlaubnis zu den entsprechenden Verträgen geben. Bereits ein Jahr nach der Veröffentlichung hat das Buch eine Auflage von über 56.000 erreicht und Beatrix schreibt:

The public must be fond of rabbits! what an appalling quantity of Peter. (S. 152)

Lear erklärt den durchschlagenden Erfolg folgendermaßen:

Beatrix Potter had in fact created a new form of animal fable: one in which anthropomorphized animals behave always as real animals with true animal instincts and are accurately drawn by a scientific illustrator. (S. 153)

1902 heiratet ihr Bruder Bertram seine geliebte Mary, doch aus Angst vor der Ablehnung seiner Eltern hält er die Ehe elf Jahre geheim.

1903 folgen die Bände The Tale of Squirrel Nutkin und The Tailor of Gloucester. 1904 erscheinen The Tale of Benjamin Bunny und The Tale of Two Bad Mice. Überhaupt erweist sich Beatrix als begabte Geschäftsfrau, die schon rasch erkennt, dass sich auch Merchandise-Produkte wie Puppen, Malbücher oder Tapetenbordüren hervorragend vermarkten lassen. Dabei hat sie ständig gegen Produktpiraterie und unautorisierte Nachdrucke etc. zu kämpfen.

Beatrix gewinnt mit ihrer Autorentätigkeit zunehmend finanzielle Unabhängigkeit von ihren Eltern, denen das überhaupt nicht recht ist, fürchten sie doch, dass ihre Tochter ihre familiären Verpflichtungen vernachlässigen und insgesamt zu unabhängig werden könnte. Auch die ständigen Kontakte mit Norman Wayne, ihrem Hauptansprechpartner im Verlag, sind den Eltern ein Dorn im Auge.

1905 verloben sich Beatrix und Norman. Ihre Eltern untersagen ihr, die Verlobung öffentlich bekanntzugeben. Der plötzliche Tod Normans – einen Monat nach der Verlobung – dürfte den Eltern als eine glückliche Fügung erschienen sein.

Im Verlag ist nun Harold, der Bruder Normans, ihr neuer Ansprechpartner. Jahre später wird sich herausstellen, dass er große Summen aus dem Verlag veruntreut hat, Beatrix und andere um viel Geld betrogen und den Verlag an den Rand des Ruins gebracht hat. Als Harold zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wird, übernimmt der dritte Bruder Fruing die Geschäfte.

Mit den Erlösen aus ihren Büchern kauft Beatrix Hill Top Farm, ihre erste Farm im Lake District. Vermutlich hatte sie dort zusammen mit Norman leben wollen. Doch noch mehrere Jahre nach dem Kauf der Farm kann sie nur tageweise dort sein, da ihre Eltern von ihr erwarten, dass sie weiterhin bei ihnen in London wohnt und sie ihre Eltern auch weiterhin auf ausgedehnten Ferienaufenthalten begleitet.

The happy challenge provided by Hill Top Farm – the necessity of overcoming her grief and getting on with her life – inspired a remarkable outburst of creativity. She produced thirteen stories over the next eight years, including some of her best work. In the course of this creative outburst, Beatrix Potter was transformed into a countrywoman. (S. 207)

Und so beginnt der dritte große Abschnitt im Leben dieser bemerkenswerten Frau, der gekennzeichnet ist von ihrer Liebe zum Lake District. Mit Hingabe und zunehmendem Sachverstand widmet sie sich dem Fell Farming. Sie entwickelt sich zu einer angesehenen Expertin im Hinblick auf ihre geliebten Herdwick Sheep. Vor allem der Schutz der einzigartigen Landschaft liegt ihr am Herzen. Sie kämpft gegen die Errichtung einer Flugzeugfabrik, gegen Wasserflugzeuge auf den Seen und gegen Zersiedelung und Bauprojekte, die den Charakter dieses Landstriches zerstören würden. Schon 1909 erwirbt sie die zweite Farm, der noch viele weitere folgen sollten. Sie arbeitet dabei eng mit dem National Trust zusammen und schon früh ist klar, dass sie nach ihrem Tod ihre ausgedehnten Ländereien dieser Organisation vermachen will.

Gleichzeitig setzt sie sich für die Verbesserung der Gesundheitsversorgung auf dem Land ein und ist die treibende Kraft, als es darum geht, eine gut ausgebildete Krankenschwester einzustellen, denn viele der Farmer und Landarbeiter können es sich nicht leisten, bei Krankheiten einen Arzt kommen zu lassen. Sie lässt die Schwester mietfrei in einem ihrer Häuser wohnen und kauft ihr schließlich sogar ein Auto für die Wege, die mit dem Fahrrad dann doch zu beschwerlich wären.

Sie unterstützt die Pfadfinder, die jedes Jahr auf ihren Feldern zelten dürfen, und unterhält rege Brieffreundschaften mit Lesern aus aller Welt, vor allem aus Amerika, von denen etliche sie und ihren Mann im Lake District besuchen und um Autogramme bitten.

Unterstützt wird sie in allem von ihrem Mann William Heelis, den sie – natürlich gegen den erklärten Willen der Eltern – 1913 heiratet. Überraschenderweise bekommt sie Rückendeckung von ihrem Bruder, der den konsternierten Eltern erklärt, dass er schon seit Jahren verheiratet sei und auch Beatrix heiraten solle, wen sie wolle.

William Heelis ist Anwalt und teilt ihre Interessen. Die beiden führen bis zu Beatrix Tod im Jahr 1943 eine glückliche Ehe.

Fazit

Beatrix Potter war ein faszinierende Frau mit vielfältigen Interessen und einem eigenwilligen Lebenslauf. Dennoch musste ich mich manchmal zum Weiterlesen zwingen – gerade in Beatrix‘ Pilzphase wurde das Buch arg anstrengend. Linda Lears Stil ist nicht gerade prickelnd und Fragen, die mich stärker interessiert hätten, wie z. B. die Ehe mit William oder wie sie auf Nachbarn und Verwandte wirkte oder wie genau die Dynamik zwischen Beatrix und ihrer Mutter war, wurden eher kurz abgehandelt. Dafür wurden andere Dinge, zweifellos akribisch recherchiert, sehr in die Länge gezogen. Ich fürchte, Lear hat die Frage, wie umfangreich über bestimmte Themen berichtet wird, ausschließlich von der Recherchelage abhängig gemacht.

Und manchmal hat es den Eindruck, als ob Lear nur ungern über die unsympathischen, auch herrischen Seiten dieser ungewöhnlichen Frau berichtet. Nur en passant erfahren wir dann, dass sie ihren Pächtern keine WCs im Haus oder Elektrizität in den Farmhäusern erlaubt hat, während sie in ihren zwei Häusern natürlich Toiletten mit Wasserspülung hatte.

Kathryn Hughes bringt es im Guardian auf den Punkt, wenn sie schreibt:

This is the first full-length biography that has been written of Potter, so it is a shame that it should be such a dull one. Where Potter had an exquisite sense of how language works, Lear has none.

Anmerkungen

Ihre Portfolios mit den naturkundlichen Zeichnungen hat Beatrix Potter übrigens dem Armitt Museum in Ambleside vermacht, dessen Homepage einen schönen Eindruck von ihren Zeichnungen vermittelt, die auch heute noch von Pilzkundlern zur Bestimmung benutzt werden.

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Helene und Wolfgang Beltracchi: Selbstporträt (2014)

‚Du musst das verstehen: Sonst haben wir hier bald mehr Katzen als Ratten, und wer soll dann die Katzen jagen?‘ So wollte meine Mutter es mir erklären. Und nach einer Pause fügte sie hinzu: ‚Außerdem haben die Bauern bei uns das schon immer so gemacht.‘

Ich war fünf Jahre alt, und sommers wie winters saß ich vor dem Katzenloch im Deelentor unseres Vierständerhofes, meinem Beobachtungsposten. Von hier aus hatte ich einen geschützten Blick auf meine Welt: ein winziges Dorf im Weserbergland am Rande des Teutoburger Waldes. Den Rücken gegen das warme raue Holz gelehnt, wartete ich auf meine Katze Minke, die jeden Moment durch die Klappe kommen konnte, schaute auf den lehmigen Weg, der vom Wald in den Ort hinaufführte, und auf den Dorfanger. Dort also wurden all die kleinen Kätzchen ertränkt.

Mit dieser Kindheitserinnerung beginnt die fast 600 Seiten starke Autobiografie Selbstporträt des wohl bekanntesten Kunstfälschers Wolfgang Fischer, der später den Namen seiner Frau angenommen hat: Wolfgang Beltracchi.

Beltracchi (*1951) schildert seinen Weg, der in eher ärmlichen und provinziellen Verhältnissen begann – der Vater war Kirchenmaler, die Mutter Lehrerin – über Marokko bis nach Frankreich, wo er als reicher Mann und glücklicher Familienvater heimlich seiner kriminellen Tätigkeit nachgeht.

Seine ersten Zeichnungen sind Aktzeichnungen, die er aus den Büchern des Vaters kopiert und anschließend seinen Kameraden verkauft. Mit 15 gaukelt er den Eltern vor, er wolle zu Beginn der Sommerferien ein paar Tage mit seinen Freunden verbringen, in Wahrheit trampt er nach Barcelona – war doch Picasso dort kurze Zeit Schüler an der Kunstschule gewesen – und verdient sich zwischendurch mit Pflastermalerei das nötige Kleingeld. Erst zweieinhalb Monate später kehrt er zurück. Danach kann er dem Leben in Geilenkirchen nun gar nichts mehr abgewinnen.

1967 versucht ein alkoholkranker Cousin, den die Mutter aufgenommen hatte, ihn umzubringen. 1968 fliegt er vom Gymnasium. Er bewirbt sich an der Aachener Werkkunstschule, die ihn zunächst ablehnt, weil sie glaubt, dass die Bilder, die er zur Aufnahmeprüfung einreicht, nicht von ihm seien. Sie seien zu gut. Erst als ein ehemaliger Kunstlehrer die Echtheit bestätigt, wird er aufgenommen. Doch auch diese Ausbildung bricht er ab.

Es folgen Wanderjahre durch Wohngemeinschaften, zahlreiche Frauenbetten und Länder – oft ziemlich vom Drogenrausch benebelt. Als Hippie testet er die Grenzen des gesellschaftlich Erlaubten immer wieder aus und glaubt, die Regeln und Einschränkungen des Spießerlebens hinter sich gelassen zu haben.

… das Leben war ein großes Experiment. Es wurde diskutiert, gekifft, getanzt und gevögelt. Wir wollten bewusster leben, der Konsum von Drogen […] sollte der Bewusstseinserweiterung dienen. […] Meine Leidenschaften tendierten in jenen Jahren etwa zu dieser Reihenfolge: Frauen, Kiffen, Kunst, Kuchen, Musik, LSD.  (S. 64 und 65)

Nach zehn Monaten im Amsterdamer Drogensumpf kommt er zurück nach Deutschland. Der Kontakt zu seinem wesentlich älteren belgischen Schwager André, einem Zigaretten- und Kaffeeschmuggler, intensiviert sich. Die beiden klappern alle Trödel- und Antikmärkte ab, da Wolfgang offensichtlich Talent darin besitzt, Gemälde zu entdecken, die man mit Gewinn weiterverkaufen kann.

Von da ist es nur noch ein kleiner Schritt, Bilder mit Details aufzuhübschen, die ihren Marktwert steigern. Irgendwann kommen sie auf die Idee, dass Wolfgang auf alt getrimmte Bilder gleich selbst herstellen könne. Er wird keine Kopien malen, sondern Bilder im Stile der Künstler, beispielsweise Bilder, die als verschollen galten. Er selbst gibt die Anzahl der von ihm gefälschten Bilder mit ungefähr 300 an. André wird dann sein erster Hehler, der ihn auch darin unterstützt, eine umfangreiche Kunstbibliothek aufzubauen. Im Vor-Internet-Zeitalter unabdingbar für einen erfolgreichen Kunstfälscher.

Ein Jahr zuvor hatte ich ‚Die Kuh‘ für 5000 Mark nach Berlin an Heinz gegeben. Nun steigerte sich ihr Wert auf über 100.000 Dollar. 1987 wurde sie in München in der Galerie Harald Wolf ausgestellt und im selben Jahr bei Christie’s in London anonym versteigert; erst 2006 wurde sie, abermals bei Christie’s, wieder angeboten; inzwischen kostete sie etwa 650.000 Dollar. (S. 228)

Er konzentriert sich in seiner Tätigkeit vor allem auf Maler der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wie Campendonk und Max Ernst.

Ohne mit der Wimper zu zucken, rechtfertigt Beltracchi noch im Nachhinein seine Entscheidung, Anfragen von Galeristen, die an echten Beltracchis interessiert waren, abzulehnen, mit seinem moralischen Empfinden:

Die Daseinsform eines werktätigen Malers, die damit verbunden gewesen wäre, stieß mich ab. An öffentlichem Erfolg war ich nicht sonderlich interessiert […] Warum hatte ich all die Jahre gegen gesellschaftliche Normen gelebt? Nur um mich jetzt für ein bisschen Erfolg und Anerkennung dem Mief zu unterwerfen? Ich kannte doch die Erfolgreichen, die bei jeder Vernissage ihre Show abzogen, den ‚Künstler‘ mimten, auf donnernden Applaus hofften; wenn sie einmal mit einer Rolle begonnen hatten, mussten sie sie immer weiterspielen. […] Für mich war es eine Frage der Moral, mich diesen Verlockungen zu widersetzen. Meine Ablehnung gründete auf einen Anarchismus, der vor allem gegen die Kunst-Gesellschaft und ihr Regelwerk gerichtet war. […] Mein Terror zielte darauf, die Aufrichtigkeitsillusion eines Publikums zu zerstören, das die Akteure dieses Kunstmarkt genannten Schmierentheaters würdigt. (S. 142 und 143)

So nimmt eine beispiellose Jahrzehnte lange und finanziell immer einträglichere Fälscher- und Betrügerkarriere ihren Anfang, die erst mit der Entlarvung 2010 und dem Prozess 2011 an ihr Ende kommt.

Daneben ist es der Rückblick eines Hippies, der von sich selbst sagt, dass die Geburt seines Sohnes Manuel alles verändert habe:

Nachdem ich fast zwei Jahrzehnte wie ein psychedelisches Karnickel durch Europa gehoppelt war, reiste ich jetzt seltener, verzichtete auf meine nächtlichen Abenteuer und lebte zurückgezogen auf dem Lande.

Und 1992 trifft er seine große Liebe Helene Beltracchi, die er ein Jahr später heiratet und die, wie auch der Komplize Otto Schulte-Kellinghaus, dafür zuständig war, Gutachten von Sachverständigen zu besorgen, um anschließend die Gemälde in den Kunstmarkt einzuschleusen zu können. In mehreren Kapiteln schildert sie die Geschichte aus ihrer Sicht.

Ich habe schon lange keine Autobiografie mit solchem Interesse gelesen. Stellte sich mir am Anfang noch die Frage, ob denn wenigstens hier alles seine Richtigkeit habe, war mir das überraschend schnell völlig egal. Schon allein die Schilderung der Jugendjahre hätte für mich die Lektüre gelohnt. Die Freude am Schlittschuhlaufen, die Langeweile in der Schule, der Unsinn, den man mit den Freunden macht. Beltracchi ist ein großartiger Erzähler.

Anfang der Sechziger spielt die folgende Szene:

Und es kam noch schlimmer: In diesem Sommer fiel uns auch die Kuh eines Bauern zum Opfer. Mein Freund Rainer hatte uns gesteckt, dass sein Vater eine Handfeuerwaffe besaß. Äußerst fasziniert, überredeten wir ihn, die Pistole zu einem unserer Treffen im Wald mitzubringen. Wir waren zu dritt; jeder wollte einmal auf die am Waldrand aufgestellten Flaschen zielen; in unserem Eifer war uns freilich nicht aufgefallen, dass sich dahinter eine Kuhweide befand. Erst als eine der Kühe laut muhend umfiel, merkten wir, was wir angestellt hatten. Die Kuh lag noch im Sterben, als der Bauer mit seinem Trecker über die Wiesen auf uns zugerast kam. Er hatte die Schüsse gehört. Wir: entgeistert vor der toten Kuh. Er: vom Sattel springend und mit der Mistgabel in der Hand auf uns zurennend. (S. 35/36)

Die Ausbruchversuche aus der Provinz, die Sehnsucht nach der weiten Welt. Die Verbitterung, die Wut, die man als Jugendlicher erlebt, wenn man – weil man in abgetragener Kleidung zum Tanzunterricht kommt – gedemütigt wird.

Mal hier, mal dort zupfte er (der Tanzlehrer) an den Probanden herum. Dann stand er vor mir. Verächtlich, vielleicht sogar leicht angewidert, als müsste er einen Misthaufen begutachten, wanderte sein Blick betont langsam von den zu großen Schuhen über den speckig glänzenden Anzugstoff an mir hoch und blieb schließlich an meinem Schlips hängen. Mit zielgerichtetem Griff riss er ihn nach unten und ließ ihn mir ins Gesicht zurückflitschen. Sekunden später lag er mit blutiger Nase auf dem Rücken, und der Tanzunterricht war für mich beendet. Bis heute kann ich keinen Walzer tanzen, und nie mehr in meinem Leben habe ich einen Schlips getragen. (S. 39)

Es ist ein tolles Buch mit dem Blick für die entscheidenden Szenen, mit natürlich wirkenden Dialogen, witzigen Passagen und vielen, vielen Geschichten; selbstverständlich auch inszeniert, welche Autobiografie wäre das nicht? Außerdem eine anrührende Liebesgeschichte. Er sieht Helene und weiß, diese Frau will er heiraten.

Heute liebe ich ihre grauen Strähnen genauso wie damals ihre blonden Haare, ihre dünner gewordene Haut, die mich ihr Inneres besser sehen lässt, ihre Augen, jetzt etwas müder, aber noch immer voll Liebe für mich, ihre Falten und Fältchen, die mich daran erinnern, dass unsere Liebe im Lauf der Zeit zwar größer geworden ist, die Zeit selbst aber kürzer wird, weil wir im Herbst unseres Lebens angekommen sind. (S. 276)

Da sich der Erzähler als Mensch zu erkennen gibt, zieht er natürlich meine Sympathie auf sich, sei es beim Tod seiner Mutter oder wenn er sich Sorgen um die Gesundheit seiner kleinen Tochter macht oder als er verrückt vor Sorge ist, als seine Frau an Brustkrebs erkrankt.

Genau diese Ich-Perspektive ist aber auch die – reizvolle – Falle, in die man als Leserin hineinzutappen droht. Leicht könnte man der Gefahr erliegen, mit dem Betrüger zu zittern, ob er wohl die Schmuggelware unentdeckt über die Grenze bringt, ob ein geplanter Coup gelingt oder nicht.

So ist das Buch auf altmodische Weise spannend und gleichzeitig lehrreich, sowohl was einzelne Künstler als auch den Kunstmarkt angeht. Ich weiß jetzt nicht nur, was es mit dem Loplop, Manzonis Künstlerscheiße und der Frage, wie man dem toten Hasen die Bilder erklärt, auf sich hat, sondern auch, dass jemand in manchmal nur wenigen Stunden ein Bild malen kann, für das er dann Hunderttausende Euro bekommt. Und dabei völlig ausblendet, dass er seinen gepflegten Lebensstil auf einem Weingut in Frankreich dadurch finanziert, dass er Menschen etwas andreht, was die nie im Leben hätten haben wollen.

Ein kreatives, manchmal dämliches, bis 1985 von Drogen vernebeltes und betrügerisches Leben mit vielen Reisen und Begegnungen. Eine schillernde Hauptfigur, ein Zocker, ein Liebender, außerordentlich begabt, intelligent, auch handwerklich unglaublich geschickt, gleichzeitig auch mit außerordentlich krimineller Energie und einem erstaunlich gering entwickelten Unrechtsbewusstsein ausgestattet.

Als einige Fachleute mehr über die Herkunft einzelner Bilder wissen wollten, beschließt er kurzerhand, der Legende, dass die Bilder aus der Sammlung der Großeltern seiner Frau stammten, Leben einzuhauchen. Sie besorgen sich Fotoapparate, Papier, Kleidung und Möbel aus den dreißiger Jahren und lichten Helene Beltracchi als ihre eigene Großmutter vor gefälschten Bildern ab.

Kein schlechtes Gewissen, sondern nachvollziehbarer Stolz auf die eigene Leistung erfüllte ihn, wenn sogar Angehörige von verstorbenen Malern seine Bilder als echt, ja als das beste Werk des Künstlers lobten. Noch während des Gerichtsprozesses 2011 macht er keinen Hehl daraus, dass sich sein schlechtes Gewissen, die Bilder gemalt zu haben, doch sehr in Grenzen halte. Das Einzige, was ihm vermutlich wirklich in Bezug auf seine Gesetzesübertretungen leid tut, dürfte die Tatsache sein, dass er sich und vor allem seine Frau damit ins Gefängnis gebracht hat.

Er gibt zu, dass er an seiner Fälschertätigkeit den Nervenkitzel genossen habe. Das Abenteuer. Den Reiz des Risikos, der sein Leben in einer dauernden Spannung hielt, die er heute durchaus vermisse. Auch die Gier der Händler hätte – zum Beispiel in den achtziger Jahren – sein Tun doch sehr erleichtert.

Die Händler gierten damals nach frischer Ware. Der Markt boomte. Alles, was ich produzierte, riss man mir praktisch aus den Händen. Die Händler trugen ihre Gemäldewünsche an Otto heran, als ob sie ein unerschöpfliches Reservoir witterten … (S. 229)

Er und seine Frau werden in dem Buch nicht müde, die Liebe zu ihrer gemeinsamen Tochter und zu dem Sohn Wolfgangs aus einer anderen Beziehung zu beschwören – das will ich auch gar nicht in Abrede stellen -, aber gab es nie einen Gedanken daran, was mit den Kindern passieren würde, wenn sie auffliegen? Dass der ganze Luxus, den man ihnen über die Jahre geboten hat, doch auf mehr als tönernen Füßen beruhte?

Also, ich höre schon Hollywood.

Anmerkungen

Liest man Zeitungsartikel zu dem weltweit Aufsehen erregenden Prozess, Interviews mit Beltracchi oder auch Rezensionen zu dieser Autobiografie, dann fällt auf, dass diese oft in Schwarzweiß-Malerei verfallen und überraschend emotional daherkommen. Gorris und Röbel beschimpfen ihn im Spiegel als größenwahnsinnigen Hippie-Arsch, der zur Reue ganz unfähig sei.

Andere werfen ihm vor, dass er immer noch nur seine eigene Vermarktung im Kopf habe – nicht nur die Autobiografie, nein auch noch die Briefe, die er sich mit seiner Frau im Gefängnis geschrieben hat, werfe dieser geschäftstüchtige Gauner nun auf den Markt. Und eine weichgespülte Dokumentation – pikanterweise vom Sohn des Verteidigers – gibt es auch schon.

Manchmal ist da der Neid auf die von den Beltracchis fröhlich genutzten Millionen und den edlen Lebensstil und eine heuchlerische Empörung deutlich herauszuhören. Ich bezweifle, dass sehr viele Menschen standhaft bleiben würden, wenn sie die Möglichkeit hätten, auf illegale und persönlich befriedigende Weise steinreich zu werden.

Andere wiederum sehen in ihm trotz allem einen langhaarigen Sympathieträger, einen Schlawiner in Jeans, der es den geldgierigen Spekulanten am Kunstmarkt mal so richtig gezeigt habe, indem er die ganzen Sachverständigen, die seine Bilder als echt deklarierten, ziemlich alt aussehen ließ. Was auch erklärt, dass diverse Gutachter und Galeristen keinerlei Interesse daran hatten, im Prozess auszusagen.

Eine dritte Gruppe mäkelt und nörgelt, er sei doch gar kein Künstler und im Grunde völlig unkreativ, er habe nur Stile kopiert und nie etwas Eigenes und Originelles geschaffen. Beltracchi sagt allerdings, dass ihn die „verzweifelte Suche nach Originalität“ nie interessiert habe, er habe alles, was er habe ausdrücken wollen, in seinen Bildern mitteilen können.

Genau diese Widersprüchlichkeiten zeigen, wie facettenreich, begabt, spannend und frech dieser Mann ist. Das ändert nichts daran, dass seine Betrügereien illegal waren und der finanzielle Schaden, den er und seine Komplizen angerichtet haben, enorm ist.

Sicherlich hat Beltracchi auch recht, wenn er süffisant darauf hinweist, dass es wohl kaum sein könne, dass viele seiner Bilder eine von Fachleuten attestierte „Aura“ innehatten, von dieser nach seiner Entlarvung aber plötzlich nichts mehr zu spüren sei. Da habe die Aura wohl doch eher am Preisschild gehangen.