Nele Pollatschek: Kleine Probleme (2023)

Alle Kritiker und Kritikerinnen sind voll des Lobes und ich stimme da umstandslos und ohne Umwege einfach mit ein. Sollte also jemand Kleine Probleme von Nele Pollatschek noch nicht kennen, so möge er – im Gegensatz zu Pollatscheks Hauptfigur Lars – nicht länger herumtrödeln und die Lektüre des Romans unverzüglich in Angriff nehmen.

Lars Messerschmitt ist 49 und lebt mit Johanna zusammen, die beiden haben zwei Kinder, Lina und Yannis. Johanna ist Lehrerin, allerdings für ein paar Monate in den Auslandschuldienst gewechselt, weil sie nicht weiß, ob sie ein Zusammenleben mit dem ewigen Prokrastinierer, Haushaltsmuffel und Möchtegern-Autor Lars noch länger aushält.

Es ist Lars, der uns in einem ununterbrochenen und ausgesprochen unterhaltsamen Gedankenstrom die Geschichte erzählt. Er ist der total verpeilte Typ, der, wenn es gut lief, seine Kinder zu irgendwelchen Terminen brachte, dann aber garantiert vergaß, sie auch wieder abzuholen. Er hofft seit Jahren (vergeblich) auf die Inspiration für sein Meisterwerk. Haushalt, Spülmaschine, Einkaufen und Saubermachen sind auch eher nicht so sein Ding, weil immer irgendetwas dazwischenkommt oder schlicht dagegen spricht. Dass er in seiner Lage als privilegierter Westeuropäer ohne existenzielle Sorgen da natürlich auf sehr hohem Niveau jammert, ist ihm bewusst, hilft ihm aber auch nicht weiter.

Wie beschissen ist es bitte, wenn einem alle Türen offenstehen und man trotzdem stehen bleibt. Wenn man keinen Grund dafür hat, so zu sein, aber man ist halt trotzdem so. Wenn alles einfach ist und einfach ist viel zu schwer. Das ist doch wirklich schlimm, grundlos scheitern ist doch wirklich scheitern, und dafür bemitleidet einen keiner. Ach, egal. (S. 20)

Alle behaupten immer, sie wollen einem helfen, aber einfach mal zur Handfeuerwaffe greifen, das will dann wieder keiner. Und dabei könnte es doch so einfach sein, wenn es nur viel schwerer wäre. Wenn es hart auf hart kommt, kann man alles schaffen, aber meistens kommt es weich auf weich, und da bleibt man besser liegen. (S. 63)

Seit einigen Monaten lebt er allein im Haus – Johanna im Ausland, Sohn Yannis ausgezogen und Tochter Lina im Schüleraustausch -, doch jetzt an Silvester will sich die gesamte Familie bei Yannis treffen und feiern. Eigentlich toll, gäbe es da nicht das kleine Problem, dass Lars in der letzten Woche des Jahres eigentlich seine To-do-Liste hätte abarbeiten wollen. Da er das natürlich auch wieder aufgeschoben hat, bleibt ihm jetzt nur noch der 31. Dezember, um alles zu erledigen. Denn er will Johanna nicht verlieren und er befürchtet, dass wenn er sich nicht endlich etwas Mühe gibt, sie vielleicht nicht mehr zu ihm zurückkommen wird.

Es war Freitag, der 31. Dezember, und ich musste noch was erledigen. Also alles. Und wenn ich das so schreibe, habe ich gleich Linas Papa, übertreib nicht immer so im Kopf und wie sie dann nachdrücklich nicht mit den Augen rollt, weil das pubertär sei, und mit sechzehn findet sich das Kind zu alt für pubertär. Ohne zu übertreiben, war es natürlich nicht wirklich alles, was ich noch erledigen musste. Ukraine zum Beispiel, eindeutig nicht meine Aufgabe. Geldpolitik des Europäischen Wirtschaftsraums. Kohleausstieg. Seenotrettung. Wobei Yannis sagen würde, das sei sehr wohl meine Aufgabe, weil es unser aller Aufgabe sei, und damit hat er irgendwie recht, wie man mit zwanzig immer irgendwie recht hat, aber halt nur irgendwie.

Also musste ich vielleicht nicht wirklich alles erledigen, aber eben doch alles, was nicht nur irgendwie meine Aufgabe war, sondern eben auch wirklich. Alles, was ich in dieser Woche nicht geschafft hatte, oder in diesem Monat, in diesem Winter, in diesem Jahr, in diesem ganzen verdammten Leben. In neunundvierzig Jahren sammelt sich eine ganze Menge alles an. (S. 13)

Hier sehen wir schon, wie Lars von Hölzchen auf Stöckchen kommt, witzig, sympathisch, vom Oberflächlichen zum Grundsätzlichen, vom Kleinen bis ins Unendliche und wieder zurück. Kein Wunder, dass er da – stellvertretend für uns – immer wieder an den alltäglichen Aufgaben scheitert bzw. sie alle auf morgen verschiebt.

Doch nun ist die Lage ernst und tapfer erstellt Lars eine Liste, die er bis um Mitternacht abgearbeitet haben will. Darauf stehen Dinge, wie ein IKEA-Bett für seine Tochter aufzubauen, das Haus putzen, die Steuererklärung (nein, nicht die vom letzten Jahr), Geschenke einpacken, Vater anrufen, das Feuerwerk einpacken und einen Nudelsalat machen (durchaus schwierig, wenn man die Zutaten dafür nicht eingekauft hat), die Regenrinne reinigen, sein Lebenswerk schreiben und last but not least „Es gut machen“.

Das klingt alles erst mal unspektakulär, aber bei Pollatschek wird das Abarbeiten dieser Liste zum ganz großen Kino. Die Überforderung, die der moderne Alltag für jemanden bedeuten kann, der lieber mit Sprache umgeht, diskutiert, die Sinnfrage stellt und der so furchtbar ungern öde Dinge tut, dann aber unter seinem eigenen Zaudern und Prokrastinieren leidet, spätestens wenn es einen die geliebte Frau kosten könnte.

Lars, konzentrier dich. Ich würde mich ja gerne konzentrieren, ich vergesse es nur immer. Eigentlich bräuchte man jemanden, der den ganzen Tag mit einer Klangschale hinter einem herläuft und einen immer, wenn man das Konzentrieren vergisst, lautstark daran erinnert. Dong. (S. 89)

Das ist so witzig, spannend und unfassbar sympathisch; ich würde sofort mit Lars ein Bierchen trinken gehen und seinem klugen, abgedrehten Sprachwitz lauschen. Und natürlich will ich wissen, wie er so mit seiner Liste zurande kommt.

Jedenfalls werde ich mich die nächste Zeit immer freuen, falls jemand Nudelsalat erwähnen sollte (Nachkochen nicht zu empfehlen). Gleichzeitig erkenne ich mich in ihm wieder und am liebsten hätte ich sofort auch alles erledigt, aufgeräumt, das Arbeitszimmer tipptopp und alle Schubladen und Schränke, alle Mails beantwortet und Sport und die Sinnfrage sowieso … ihr wisst schon.

ich muss mich noch bei allen melden, zu denen ich mal ich melde mich dann gesagt habe, ich muss noch aus der Kirche austreten, ich muss Gott finden, ich muss verdammt nochmal endlich den Müll runterbringen, ich muss noch herausfinden, warum mein Knie seit einigen Jahren so komisch klackert und ob der Schmerz in der Brust vielleicht doch nur Angina ist, ich muss den Kindern noch ein Erbe erarbeiten, die Regenrinne muss ich noch vom Vorjahresherbst befreien […], ich muss noch mein Lebenswerk verfassen. Die meisten meiner guten Taten muss ich noch vollbringen, ich muss noch schnell mein Potenzial ausschöpfen, […] ich muss so vieles noch erledigen, Dringendes, Unangenehmes, eigentlich Schönes, ein paar Lappalien, sehr viel Entscheidendes, diesen ganzen Kram, dieses ganze Alles, dieses einzige Leben. Ich habe es noch nicht mal richtig angefangen, und es ist doch schon so spät. (S. 14/15)

Ich könnte mich jetzt schon wieder in diesem Buch mit dem so schön geprägten Schutzumschlag festlesen.

und eh man es sich versieht, sieht man, wenn man jetzt tatsächlich hinsähe, dann müsste man das ganze Leben aufräumen. Also sieht man besser nicht hin. Und die Welt denkt dann vielleicht, man sei faul, dabei ist man den ganzen Tag schwer damit beschäftigt, nicht hinzusehen. Und das wissen die wenigsten, wie anstrengend es ist, nicht hinzusehen … (S. 53)

Hier geht es lang zu einem Interview mit der Autorin in der ARD Audiothek.

Und wer dann immer noch Lust auf To-do-Listen und Leben-Aufräumen hat, dem sei das Buch The To-Do List von Mike Gayle von 2009 empfohlen.

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Robert Cedric Sherriff: The Fortnight in September (1931)

Anlässlich der neuen deutschen Übersetzung des Romans von R. C. Sherriff (1896 – 1975) von Karl-Heinz Ott, die im Juni 2023 unter dem Titel Zwei Wochen am Meer im Unionsverlag erschienen ist, gibt’s heute mal einen Post aus dem Archiv:

The Fortnight in September ist eines dieser nur auf den ersten Blick unspektakulären, ja fast biederen Bücher, die sich dann auf leisen Sohlen zu ihrem Platz im Regal der Lieblingsromane schleichen. Doch von vorn:

On rainy days, when the clouds drove across on a westerly wind, the signs of fine weather came from over the Railway Embankment at the bottom of the garden. Many a time, when Mrs. Stevens specially wanted it to clear up, she would look round the corner of the side door and search along the horizon of Railway Embankment for a streak of lighter sky.

Schon seit 20 Jahren – immer im September – fahren Mr und Mrs Stevens mit ihren drei Kindern für 14 Tage in die gleiche Pension ins britische Seebad Bognor. Also tägliche Spaziergänge auf der Strandpromenade, Musikpavillions, Jahrmarktsrummel, vormittägliches Baden, gutes Essen, das ganze Programm.

Und bei einem dieser Familienurlaube und den dazu notwendigen Vorbereitungen – schließlich muss der Kanarienvogel bei der Nachbarin untergebracht, die Versorgung der Katze sichergestellt und der Gepäcktransport zum Bahnhof organisiert werden – begleiten die Leserinnen und Leser die Familie.

Die ängstliche Mrs Stevens, schon eine belebte U-Bahn-Station ist ihr ein Graus, gewinnt im Laufe des Buches am wenigsten Kontur. Noch nicht einmal ihre Familie weiß, dass ihr die abendliche Stunde im Urlaub die liebste ist, die sie nach dem Abendessen allein mit ihrem – natürlich rein medizinischen – Glas Portwein und einer Handarbeit verbringt.

Und während der zehnjährige Ernie nach einem langen Strandtag schon tief und fest schläft, bummeln die beiden wesentlich älteren Geschwister Dick und Mary noch ein wenig durch den Küstenort. Die beiden sind seit kurzem berufstätig, wohnen aber noch zu Hause, doch alle ahnen, dass die Zeit der gemeinsamen Familienurlaube sich allmählich dem Ende zuneigt.

Mr Stevens, der sich vom Laufburschen zum Angestellten hochgearbeitet hat, ist ein liebevoller Familienvater, zwar ein wenig pedantisch und alles akribisch planend, dabei aber immer darauf bedacht, dass jedes Familienmitglied im Urlaub seinen Interessen nachgehen kann, und so verfügt er, dass alle zwei Tage jeder seinem eigenen Tagesprogramm folgt, damit man sich nicht gegenseitig auf die Nerven fällt und, wenn die Familie wieder zusammenkommt, auch etwas zu erzählen hat. Die Abende beschließt er mit einem Bier in seinem Lieblingspub.

Klingt das unspektakulär? Fast ein wenig hausbacken? Ja, sicherlich, und doch hat das Buch – neu aufgelegt in der elegant-grauen Reihe der Persephone Books – einen ganz eigenen Reiz.

Der Erzähler lässt seinen Figuren ihre Durchschnittlichkeit, ihre Begrenzung und manchmal ist es auch des Auktorialen ein wenig zu viel. Dennoch mochte ich sehr, wie die unbändige, fast naive Freude an 14 Tagen Urlaubsfreiheit spürbar und nachvollziehbar wurde. Wie sehr die fünf diese Zeit als Familie genossen und alle kleinen und großen Aufregungen gemeinsam gemeistert und besprochen haben.

Mr Stevens hat beispielsweise das Ritual, einen Tag im Urlaub ganz allein eine lange Wanderung zu unternehmen, in der er seine Vergangenheit, seine Ehe und im Besonderen das vergangene Jahr Revue passieren lässt. Das richtet ihn wieder aus und versöhnt ihn mit Enttäuschungen und geplatzten Hoffnungen.

Der Horizont der „kleinen Leute“ mag eng sein, so wie metaphorisch schon der Eisenbahndamm am Ende des Gartens die Sicht versperrt, und die Stevens mögen sich durchaus durch Reichtum und selbstsicheres Auftreten anderer beeindrucken und auch einschüchtern lassen; dennoch wird deutlich, dass sie Arroganz und moralische Leere durchschauen und stolz auf ihre Familie sind.

Der Haupteindruck, der von der Lektüre zurückbleibt, ist der, dass Sherriff ein freundliches Buch geschrieben hat. Das ist weder platt noch Heile-Welt-Idylle, aber ein freundliches, ein menschenfreundliches Buch.

Und letztendlich gilt es doch für uns alle, was Mr. Stevens am letzten Abend  durch den Kopf geht:

The first evening came back to him very clearly as he sat in the armchair to finish his pipe before going up to bed. He had known on that first night how quickly the holiday would slip away, and had pictured himself as he would be sitting on the last evening, looking back with mingled pleasure and sadness. (S. 319)

Das Buch war damals ein unglaublicher Überraschungserfolg, wurde auch von der Kritik begeistert aufgenommen, in mehrere Sprachen übersetzt und erschien 1933 in einer deutschen Übersetzung unter dem Titel Badereise im September.

Walter Benjamin hat damals den Roman besprochen und sah in ihm besonders die Fähigkeit der „kleinen Leute“ verkörpert, sich ihren Alltag durch kleine Fluchten und Tagträumereien erträglich zu machen, eine recht herablassende Haltung, wie  mir scheint.

Fast 90 Jahre nach der Ersterscheinung, im Frühjahr 2020, bat der Guardian renommierte Schriftsteller und Schriftstellerinnen um Lektüretipps, mit denen man sich die Pandemie ein wenig erträglicher machen könne. Kazuo Ishiguro empfahl – wie schön – A Fortnight in September.

Hier lang zu einem Interview mit Karl-Heinz Ott, der das Buch ins Deutsche übersetzt hat, auch wenn sich darin leider kein Hinweis auf die alte deutsche Übersetzung von 1933 findet.

Hier gibt es eine Besprechung von Meike Albath auf der Seite des Deutschlandfunks.

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Nita Prose: The Maid (2022)

The Maid, das bereits millionenfach verkaufte Debüt der Lektorin Nita Prose, ist nicht der erste Krimi, der aus der Sicht einer leicht autistischen Hauptfigur erzählt wird, aber mal wieder einer, den ich kaum aus den Händen legen mochte und der inzwischen auch auf Deutsch erhältlich ist.

Die junge Molly, 25, sagt selbst über sich:

I think it‘s because I have difficulty interpreting expressions that I‘m the last person anyone invites to a party, even though I rather like parties. Apparently, I make awkward conversation, and if you believe the whispers, I have no friends my age. To be fair, this is one hundred percent accurate. I have no friends my age, few friends of any age, for that matter. (S. 9)

Molly ist bei ihrer Großmutter aufgewachsen, an der sie sehr gehangen hat. Gran hat alles dafür getan, dass Molly ein weitgehend normales und selbstbestimmtes Leben führen kann, hat ihr einen intakten moralischen Kompass mitgegeben und erklärt, was verschiedene Gesichtsausdrücke und Reaktionsweisen der Mitmenschen bedeuten können und ihr auch den Job im Hotel besorgt. Doch vor neun Monaten ist Gran gestorben und die junge Frau muss sich nun allein in ihrer kleinen Welt zurechtfinden. Einziger Halt dabei ist ihre Arbeit als Zimmermädchen im edlen Regency Grand Hotel. Sie liebt diese Arbeit innig, kommt sie doch ihrem schon manchmal zwanghaften Bedürfnis nach Ordnung, Sauberkeit, Routinen und klaren Abläufen entgegen. Außerdem werden Zimmermädchen quasi nie wahrgenommen und das enthebt Molly von dem Problem, dass sie selten weiß, ob ihre Reaktionen  und Kommentare angemessen wären. Gleichzeitig ist sie eine gute Beobachterin, kein Detail – und sei es eine schiefe Franse – entgeht ihr.

Doch dann passiert etwas ganz und gar Unvorhergesehenes: Molly entdeckt den unsympathischen und schwerreichen Hotelgast Mr Black, mit dessen wesentlich jüngerer Frau sie ab und an gesprochen hat, mausetot in seiner Suite. Ein weiterer Handlungsstrang dreht sich um den attraktiven Barkeeper, dessen oberflächlichem Charme Molly zunächst wenig entgegenzusetzen hat und der keinerlei Skrupel zeigt, Mollys Anständigkeit für seine Zwecke einzuspannen. Und wie könnte es anders sein; die Kommissarin findet Mollys Verhalten ausgesprochen verdächtig. Doch so allein in der Welt, wie Molly dachte, steht sie dann gar nicht, und mit Hilfe dieser unerwarteten Freunde geht sie daran, ihre Unschuld zu beweisen und die Grenzen ihrer Welt auszuweiten.

Manchmal möchte man gern mit und auch über Molly lachen, wenn sie anderen in ihrer ganz eigenen und unverwechselbaren Art die Leviten liest, und dann wieder bleibt einem das Lachen im Halse stecken, zum Beispiel wenn Molly sich daran erinnert, wie sie als Kind lieb und voller Vertrauen der Welt gegenüber, in der Schule gequält wurde.

Das Ganze liest sich charmant und ausgesprochen menschenfreundlich und dennoch nicht oberflächlich oder hohl. Und spannend ist es obendrein. Man könnte sagen, Molly putzt und schleicht sich unauffällig, aber unaufhaltsam in die Leser*innenherzen. Hier ein paar begeisterte Auszüge aus renommierten Rezensionen.

Und überhaupt: Wie oft nehmen wir eigentlich andere Menschen wirklich wahr?

I am your maid. I‘m the one who cleans your hotel room, who enters like a phantom when you‘re out gallivanting for the day, no care at all about what you‘ve left behind, the mess, or what I might see when you‘re gone. […] When I‘m done with my work, I leave your room pristine. Your bed is made perfectly, with four plump pillows, as though no one had ever lain there. The dust and grime you left behind has been vacuumed into oblivion. Your polished mirror reflects your face of innocence back at you. It‘s as though you were never here. It‘s as though all of your filth, all of your lies and deceits, have been erased. I am your maid. I know so much about you. But when it comes down to it: what is it that you know about me? (S. 1)

Der zweite Band um Molly soll 2023 unter dem Titel The Mystery Guest erscheinen und die Verfilmung von The Maid ist bereits geplant.

Helga Schubert: Vom Aufstehen – Ein Leben in Geschichten (2021)

Allein schon die wenigen Zeilen aus den ersten Seiten von Vom Aufstehen – Ein Leben in Geschichten -, die zeigen, wie klein, wie unscheinbar, aber doch überlebenswichtig unsere Kraftquellen sein können, und die mich darüber hinaus an meinen Opa erinnerten, haben mich für das Buch gewonnen:

Mein idealer Ort ist eine Erinnerung: An das Aufwachen nach dem Mittagsschlaf im Garten meiner Großmutter und ihres Freundes […] in der Greifswalder Obstbausiedlung am ersten Tag der Sommerferien. Immer am ersten Tag der langen wunderbaren Sommerferien. Neben mich auf einen extra dorthin geschleppten Holztisch hatte dann ihr alter Freund […] ein großes Stück warmen Streuselkuchen auf einen Porzellanteller gelegt, den er zu meiner Begrüßung gebacken hatte. (S. 7)

Und an den übrigen Ferientagen:

Nach dem Essen wusch sie alles gleich ab, ich dagegen musste nicht abtrocknen, sondern durfte mich in die Hängematte legen und lesen, bis ich einschlief und wieder aufwachte: Am gedeckten Kaffeetisch. Bis zum Ende des Sommers. So konnte ich alle Kälte überleben. Jeden Tag. Bis heute. (S. 10)

Mit den hier versammelten 29 „Geschichten“ verdichtet die 1940 geborene Autorin und Psychotherapeutin Helga Schubert wesentliche Stationen ihres Lebens auf den Kern hin. Sodass das Geschriebene durchlässig wird, das Menschliche sichtbar wird, das für uns alle gilt.

Ich bin sicher, das ist ein Buch, das ich immer mal wieder durchstöbern werde, manches geht mir näher als anderes, manches bleibt mir auch fern. Aber so viele Sätze, so viele Stellen, die ich markiert habe, die ich abschreiben und zitieren möchte. Schade nur, dass es keine Geschichte aus ihrer Tätigkeit als Psychotherapeutin gibt.

In einem Erzählstrang beschäftigt sich die Erzählerin mit der – freundlich ausgedrückt – problematischen Beziehung zu ihrer Mutter und den lebenslangen Verletzungen, die aus dem Verhalten der Mutter resultieren. An anderer Stelle reflektiert Schubert ihr Schreiben, die Bedeutung von Geschichten und erinnert sich an das Grausame, das Menschen tun, an Verbrechen.

Weitere Stellen drehen sich um den Winter, die Natur, ihre familiäre Herkunft, Heimat, den zu pflegenden Mann oder das Problem, als Studentin in der DDR an Bücher von Uwe Johnson zu kommen. Genauso geht es aber auch um das ihr gewährte Privileg der Reisefreiheit, das sie nicht nur im Westen verdächtig machte, sondern auch den Mitbürgern gegenüber, die nicht reisen durften. 

Andere mussten beim Fluchtversuch sterben oder nach ihrem Ausreiseantrag Demütigungen hinnehmen, wir Schriftsteller durften uns Gründe für unsere Anträge auf ein Dienstvisum mit Rückkehrerlaubnis am selben Abend ausdenken. (S. 28)

Dann das schreckliche Fernweh und das Lebensgefühl, sich im Osten immer schon eingemauert gefühlt zu haben, sich von der Stasi bespitzelt zu wissen und im Kopf völlig absurde Konstellationen verarbeiten zu müssen:

Ohne Aussicht auf Änderung: 1980: Ziehen Sie Ihren Antrag auf Ausreise zurück: Sie werden der Einladung zum Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt nicht folgen, wollen Sie etwa Reich-Ranicki vortanzen? […] ‚Durch den Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb soll das derzeitig von feindlichen Kräften betriebene Weiterbestehen einer einheitlichen deutschsprachigen Literatur weiter hochgespielt werden.‘ Ich zog den Antrag nicht zurück – sie mussten es mir verbieten.

1983: Wenn Sie den Fallada-Preis annehmen, und dann noch ein Jahr nach Erich Loest, für Ihr Buch, das nur im Westen gedruckt wird, verschaffen Sie diesem Buch Aufmerksamkeit und schaden damit dem Ansehen der Kulturpolitik der DDR in den Augen fortschrittlicher Intellektueller im Westen, die dann schlussfolgern könnten, bei uns gebe es eine Zensur, denn warum durfte das Buch nicht in der DDR erscheinen, darum müssen Sie ihn ablehnen …(S. 28-29)

Die Verzweiflung 1987 nach einer Amerika-Reise, als sie sich eingesteht, sich nicht länger mit dem Leben in einem so eng begrenzten Raum zufriedengeben zu wollen.

Ich habe weder die Reife noch die Bescheidenheit, dachte ich, um die Schöpfung nur in diesem engen Umkreis zu bewundern, ich will mir mein Maß nicht vorschreiben und meine Sehnsucht nicht nehmen lassen. (S. 41)

Ein bedeutsamer Baustein für die Biografie der Autorin ist der Fall der Mauer, ein Prozess, den die Erzählerin als protestantische Zeitzeugin bewegt und aufmerksam verfolgt, wobei sie sich fragt, ob sie überhaupt literarisch vom 9. November 1989, als sie schon fast fünfzig Jahre alt war, erzählen könne. Wünschenswert wäre:

Mit Selbstironie, aus verschiedenen Blickwinkeln, mit einem ersten Satz, der die Pointe unmerklich vorbereitet, denn sie muss überraschend kommen, den Leser verblüffen, heimlich sentimental machen, aber in seine Gegenwart entlassen. Nichts Eindeutiges, Belehrendes, Aufklärerisches. Vor allem ohne Pathos. (S. 25)

Mit der letzten Geschichte, die dem Buch seinen Namen gab, gewann die 1940 geborene Autorin und Psychotherapeutin 2020 den Ingeborg-Bachmann-Preis.

Was hier ist, ist überall, was nicht hier ist, ist nirgends, soll Buddha gelehrt haben. Dieser Satz macht auch beim Schreiben Hoffnung, denn wenn er stimmt, ist nichts unwichtig, wenn ich es nur genau genug betrachte. (S. 129)

Schubert spannt den Bogen von der Kindheit bis ins hohe Alter, und da würde ich am liebsten ganze Seiten zitieren. 

Habe ich die Vorhänge nicht eben zugezogen, frage  ich mich, wenn ich sie aufziehe. Und erst das Frühstück. Hab ich es nicht eben abgeräumt – und nun kommt schon die Tagesschau. Sich der Zeit demütig ergeben, las ich kürzlich. Das ist das Gute, das Sanfte, das Glückbringende am Alter: Ich muss gar nichts. Mir kann niemand etwas befehlen. Wenn ich sage, ich bin achtzig, dann habe ich sofort mildernde Umstände bei der Hotline der Nordwestmecklen-burgischen Sparkasse, nachdem mein Online-Zugang zum Push-TAN-Verfahren gesperrt wurde. (S. 166)

Ich komme beim Älterwerden auch langsam aus der Zukunft an, ich nehme Abschied von den Aussichtstürmen, die ich nie besteigen, den warmen Meeren, in denen ich nie baden werde, den Opernhäusern, den Museen in fernen Hauptstädten, der Transsibirischen Eisenbahn, in der ich nicht schlafen werde. Denn ich habe mir in meinem langen Leben alles einverleibt, was ich wollte an Liebe, Wärme, Bildern, Erinnerungen, Fantasien, Sonaten. Es ist alles in diesem Moment in mir. Und wenn ich ganz alt bin, vielleicht gelähmt und vielleicht blind, und vielleicht sehr hilfsbedürftig, dann wird das alles auch noch in mir sein. Das ist nämlich mein Schatz. Mein unveräußerlicher. Ich habe wie jeder Mensch meinen Schatz in mir vergraben. (S. 170)

Ein weises, freundliches, manchmal ironisches Buch, das ich eigentlich gleich wieder von vorn beginnen möchte. 

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David M. Wallace: The Little Brudders of Miséricorde (2022)

Was schreibt man zu dem wahnsinnig guten Romandebüt The Little Brudders of Miséricorde des Kanadiers David M. Wallace, wenn man ihm viele Leser*innen wünscht, aber gleichzeitig nur wenig zum Plot sagen will, weil man unbedingt selbst die Geschichte von Lyle Spencer nachlesen und mitverfolgen muss? Vielleicht dies: Es ist ein Buch, dessen Titel alles Notwendige über uns sagt – und in dem sicherlich viel von der Biografie des Autors steckt.

There are times when we drift peacefully through life, Spence thought, and times when the daily dread of life‘s hardships makes each moment feel unbearable. And there are times when lightning strikes. A single spark sets your world ablaze and the flames consume everything in their path. (S. 124)

Lyle Spencer, von allen nur Spence genannt, 62 und ehemaliger Schauspiellehrer, ist vor kurzem von Vancouver nach Montréal gezogen. Doch der Neuanfang dort fällt ihm schwer. Einmal die Woche gießt er die Pflanzen in der Wohnung seiner Tochter, die gerade mit ihrem Verlobten in Paris weilt. Seine Fortschritte im täglichen Französischkurs sind überschaubar und da die anderen Kursteilnehmer wesentlich jünger sind als er, findet er dort keinen Anschluss. Er geht hin und wieder zur Messe und bemüht sich, mit der französischen Ausgabe des Kleinen Prinzen seine Sprachkenntnisse zu verbessern. 

Perhaps we never understand other people, at all. We simply inspect the emblems of their lives – their clothes, the books on their shelves and the pictures on their walls. We drop clues for one another and pray we will be understood. Some days, even language seems like some elaborate deception. (S. 186)

Als er eines Tages lautstark eine Maus, die sich bei ihm in der Wohnung häuslich niedergelassen hat, beschuldigt, die Josephsfigur aus seiner Weihnachtskrippe gestohlen zu haben, zetert die zurück, dass ein bisschen Rücksichtnahme ja doch nett wäre, er habe sie aufgeweckt.

His name is Thierry. After my initial shock, I feel surprisingly calm. Almost relieved. […] I understand that no one is going to believe me. I know that. But perfectly sane people believe crazier things than this. Moses talked to a burning bush, after all. (S. 34)

Der zweite Erzählstrang nimmt uns mit in Spences Vergangenheit; seine Lebensgeschichte fügt sich allmählich wie ein Puzzle zusammen, und irgendwann erkennen wir den Kern und Urgrund seiner Isolation. Seine Kindheit, seine katastrophale Ehe, seine Arbeit als Lehrer, bei der er zwar versucht hat, seinen Schülerinnen und Schülern einen sicheren Raum zu bieten, in dem sie sich entfalten und Verletzungen heilen konnten. Doch spätestens nach dem Suizid einer Schülerin weiß er, dass ihm das nicht bei allen gelungen ist. 

Spence had known Sam for five years. […] Since he had been Samantha. He had watched the boy slowly and confidently transform himself from Samantha into Sam until, now, he could not remember ever thinking of him as a girl. […] Many of the teenagers in the room had some similar story of transformation. Big or small. Not from the very beginning – and not all at once – Spence‘s studio had begun to gather in the misfits. The broken kids. The boys without fathers. The girls with stories they had been forbidden to tell. […] Spence smiled at Melody […] Last year she had written and performed a powerful monologue about dealing with her mental illness. Her honesty disabused the notion that self-harm was some new fad. No one mocked Amy‘s stutter here. Or told Craig to remove his mascara and eyeliner. (S. 27-28)

Manche dieser Rückblicke wirken streckenweise wie protokolliert und emotional eingefroren, während die Kapitel in der Gegenwart, in der ihm Thierry ein guter, wenn zunächst auch rüpelhafter, Haschisch rauchender, fluchender und kleinkrimineller Macho-Hausgenosse ist, viel unmittelbarer und farbiger erscheinen.

Thierry is on the kitchen counter having a bath. His first, as far as I am aware. He is reclining in a wide mouth coffee cup. The sort you might use for a latte. The soapy water splashes over the lip of the cup and into the saucer as I add a little more hot water from the kettle. ‚Take it easy, brudder! I jes wanna bath not a scuba lesson.‘ I hand him a Q-Tip and he uses it to scratch his back. (S. 174)

Dabei geht es weder um Klamauk, Unterhaltung oder Eskapismus, auch wenn ich bei der ein oder anderen Szene überlege, mit wem man das Buch am besten verfilmen sollte.

He [Thierry] points to the illustration [bei der man den kleinen Prinzen auf seinem Asteroiden sieht]. ‚C‘est impossible. I like de lil guy an‘ all. But dat planet-‘

‚Asteroid.‘

‚-dat asteroid no bigger den dis appartement. Dat not really believable, man. You sure dis book is famous?‘ […]

‚I agree. It‘s not a very plausible premise.‘ I put the book aside and go to the kitchen. Thierry is still on my shoulder. ‚Maintenant, mon petit bonhomme, what shall we have for dinner?‘ (S. 113)

Die Existenz Thierrys wird nicht hinterfragt, er ist irgendwann da, die beiden arrangieren sich. Thierry verbessert Spences Französisch und berichtet ihm, was sonst so im Haus passiert und was der üble Vermieter Nick auf dem Kerbholz hat, während Spence dafür sorgt, dass Thierry die Toilette benutzt und schließlich sogar Lesen lernt.

Alles andere muss die Leserin, der Leser selbst entdecken. Am Ende fügt sich in diesem feinen und leisen Roman alles stimmig ineinander und man verabschiedet sich schließlich nur ungern von Spence und Thierry mit seinem losen Mundwerk. Zu beanstanden wäre nur, dass der Erzähler Spence auf seinem Weg gar zu viele Katastrophen aufgebürdet hat. Da hätte es auch weniger getan. 

I suppose we all keep much of who we truly are hidden from ourselves. We bury gifts that we secretly fear are unworthy of being offered. Efface transgressions that we cannot confess; attenuate our own suffering.  Perhaps Thierry is right, though, when he observed we are all thieves. In every transgression there is a kind of theft. Truth goes missing. Trust disappears. Innocence is lost. (S. 111)

Mariana Leky: Kummer aller Art (2022)

Da mich die Drolligkeit samt Okapi in Mariana Lekys Bestseller Was man von hier aus sehen kann (2017) eher verschreckt hatte, war ich zunächst skeptisch ob all der begeisterten Stimmen zu ihrem neuesten Buch.

Doch was soll ich sagen: Nachdem ich Lekys gesammelte und bearbeitete Kolumnen aus Psychologie Heute, die jetzt unter dem Titel Kummer aller Art erschienen sind, gelesen habe, gelobe ich, auch alle eventuellen Folgebände unverzüglich anzuschaffen und zu lesen.

Hier werden unsere alltäglichen Kümmernisse und Freuden in kurzen Geschichten liebevoll aufgefächert, wir haben Flugangst, der Nachbar ist ein Scheusal, der geliebte Onkel wird irgendwann sterben. Aber – selten genug –  kann es auch passieren, dass wir plötzlich jemanden treffen, von dem wir gar nicht wussten, dass wir schon immer nach ihm gesucht haben, und dann denken wir:

‚Da bist du ja wieder‘ (S. 157)

Weitere Kümmernisse, die mit Lekys Buch ein wenig kleiner werden: Wir haben eine mittelprächtige Phobie, der Teenager hat den ersten weltgroßen Liebeskummer oder wir fragen uns, was wohl ein verpasstes Leben sein könnte. Manchmal können wir auch einfach nicht einschlafen und die richtigen Antworten auf Grobheiten und Unhöflichkeit fallen uns natürlich erst Stunden oder Tage später ein.

Die unangenehmste Phase [der schlaflosen Nächte], auch da sind sich Frau Wiese und ich einig, ist die, in der die Sorgen zuschlagen. Sorgen haben in durchwachten Nächten bekanntlich sehr, sehr leichtes Spiel, wie Halbstarke, die auf dem Schulhof einen Erstklässler vermöbeln. Bei Übermüdung kommt einem die Verhältnismäßigkeit abhanden: Alles ist plötzlich gleich furchtbar, die Weltlage genauso wie die unbeglichene Rechnung der GEZ. (S. 17)

In den Texten begegnen uns Menschen, die uns lieb und wert werden, wie Onkel Ulrich, ehemals Psychoanalytiker und Onkel der Ich-Erzählerin. Die reizenden Nachbarn Frau Wiese oder Herr Pohl mit seiner ständig zitternden Zwergpinschermischung Lori. Überhaupt tummeln sich im Familienkreis der Erzählerin so einige Psychologen und Therapeut*innen.

Als ich ein Kind war, sind wir oft mit dem Auto in den Urlaub gefahren. Wenn mein Bruder und ich auf dem Rücksitz zu quengeln anfingen und meine Eltern die ewigen Benjamin-Blümchen-Kassetten nicht mehr hören konnten, sagte mein Vater oft: ‚Macht einfach die Augen zu und unterhaltet euch mit Bruder Innerlich.‘ Wir hatten keine Ahnung, wer Bruder Innerlich war, aber wir hatten sehr guten Kontakt zu ihm. (S. 19)

Der ein oder die andere Leserin mag die Geschichten möglicherweise als zu harmlos und betulich empfunden haben; Themen wie Gewalt, Krieg, Armut oder Menschenfeindlichkeit spielen hier allesamt keine Rolle. Doch es darf auch mal eine Nummer kleiner sein. Denn Leky schreibt so wunderbar emphatisch, freundlich, witzig, liebevoll, tröstlich und mit wunderschön schrägen Bildern, dass ich drohe, komplett im Kitsch zu versinken, wenn ich hier auch nur einen Satz mehr schreibe.

In der Ruhe liegt die Kraft, da liegt sie momentan nicht besonders günstig, denn die Ruhe habe ich offenbar zu Hause gelassen, deshalb habe ich auf die darin befindliche Kraft keinen Zugriff. (S. 69)

Aus aktuellem Anlass hier ein letztes Zitat:

Er [Onkel Ulrich] erzählt, dass früher, als er noch Psychoanalytiker war, die Friseurbesuche seiner Patientinnen oft mindestens eine Therapiesitzung in Anspruch nahmen. […] Für Frauen, erzählte Ulrich, spiele sich beim Friseur mitunter das Drama ihres Lebens nach. Man hat dem Friseur genau gesagt, wie man sein Haar haben möchte, aber er hat nicht zugehört oder einen nicht verstanden und hat einem etwas ganz anderes  an den Kopf geschnitten, und dann läuft man unverstanden und entstellt und wie mit Pech begossen nach Hause. (S. 59)

Das Fazit von Annemarie Stoltenberg auf NDR:

Das alles ohne Kitsch, liebenswürdig, fragil. Mariana Leky hat die Gabe, uns zu vermitteln, wie es gelingen kann, jeden Menschen so wahrzunehmen, wie er ist, ohne Besserwisserei, ohne „Ich würde doch nie“-Gemurmel. Das ist schön.

L. M. Montgomery: Anne of Green Gables (1908)

‚I‘m so sorry for people who live in lands where there are no Mayflowers,‘ said Anne. ‚Diane says perhaps they have something better, but there couldn‘t be anything better than Mayflowers, could there, Marilla? And Diana says if they don‘t know what they are like they don‘t miss them. But I think that is the saddest thing of all. …‘ (S. 132)

Die Erstausgabe dieses kanadischen (Jugendbuch-)Klassikers von Lucy Maud Montgomery (1874 – 1942) erschien 1908.

Montgomery, deren eigenes Leben leider keineswegs so sonnig verlief wie das ihrer berühmten Protagonistin, hatte schon als ungefähr Zwanzigjährige die Grundidee zu  Anne of Green Gables:

Elderly couple apply to orphan  asylum for a boy. By mistake a girl is sent them. (Montgomery in einem Tagebucheintrag vom 16. August 1907, S. 284)

1906 war der Roman fertig, doch kein Verlag wollte ihn veröffentlichen. Es hagelte Absagen von vier wichtigen amerikanischen Verlagen und das Buch verschwand zunächst in der Schublade. Erst Page Co. nahm das Manuskript an und knebelte die unerfahrene Montgomery mit unrechtmäßigen Verträgen und verkaufte sogar Rechte, die ihnen die Autorin nie überlassen hatte. Die Keimzelle für spätere, lange Rechtsstreitigkeiten vor Gericht.

Zurück zum Roman: Im Mittelpunkt steht die liebenswerte, elfjährige Vollwaise Anne Shirley, die von einem älteren Geschwisterpaar, der herben Marilla und dem schüchternen und stillen Matthew Cuthbert, adoptiert wird, das auf dem Bauernhof Green Gables. Eigentlich hatten sie einen Jungen aus dem Waisenhaus haben wollen, der später dann auch auf dem Hof ordentlich hätte mit anpacken können.

Stattdessen landet aufgrund eines Missverständnisses Anne Shirley bei ihnen, ein zerstreuter Wildfang, naturverbunden, klug, lerneifrig und zur Freundschaft begabt. Aufgrund ihrer Verträumtheit und Impulsivität gerät Anne immer wieder in arge Schwierigkeiten und die arme Marilla weiß sich angesichts Annes quasi nie versiegenden Redeflusses manchmal nicht anders zu helfen, als ihr ein strenges Redeverbot zu erteilen. Nebenbei bemerkt: Die Figur der Marilla macht für Margaret Atwood das Buch gerade auch für erwachsene LeserInnen interessant.

I cast ‚moral‘ and ‚Sunday school‘ ideals to the winds and made my ‚Anne‘ a real human girl. Many of my own childhood experiences and dreams were worked up into its chapters. […] There is plenty of incident in it but after all it must stand or fall by ‚Anne‘. She is the book. (Montgomery in einem Tagebucheintrag vom 16. August 1907, S. 284)

Und es ist Montgomery wirklich wunderbar gelungen, „a real human girl“ zu schildern. Nichts Süßliches, kein didaktischer Zeigefinger, stattdessen sagt Anne ehrlich, was sie denkt und empfindet, und ihr kindliches Leiden an peinlicher oder altmodischer Kleidung, ihre Loyalität, die Aufregungen in der Schule, ihr Sinn für Natur und für Schönheit, alles wird mit einem so unverstellten Blick auf das Empfinden eines sensiblen Mädchens erzählt, dass das Buch auch nach über 100 Jahren unglaublich frisch wirkt.

I did not write Green Gables for children. (S. 293)

Das Buch machte Montgomery auf einen Schlag bekannt. Es dauerte nicht lange, bis Folgebände und erste Übersetzungen erschienen. Verfilmt wurde das Buch natürlich auch. Die Schauplätze ihrer Romane auf P.E.I (Prince Edward Island), der kleinsten der kanadischen Provinzen, wurden zu literarischen (und touristisch ausgeschlachteten) Pilgerstätten, die besonders bei japanischen Touristen beliebt sind.

‘… I wouldn‘t want to be [a Christian] like Mr. Superintendent Bell.‘ ‚It‘s very naughty of you to speak so about Mr. Bell,‘ said Marilla severely. ‚Mr. Bell is a real good man.‘ ‚Oh, of course he‘s good,‘ agreed Anne, ‚but he doesn‘t seem to get any comfort out of it….‘ (S. 140)

Fußnote: Die ausgezeichnete und umfangreiche Norton Critical Edition gibt nicht nur einen guten Überblick zu diversen Aspekten der Entstehung, Wirkung und Rezeption, sondern bietet auch reichhaltiges Quellenmaterial, zum Beispiel Ausschnitte aus L. M. Montgomerys Tagebüchern, in denen sie beispielsweise einander komplett widersprüchliche Kritiken auflistet, was doch sehr hübsch zeigt, dass eben auch professionelle Kritiker oftmals nicht viel mehr als Geschmacksurteile abgeben.

One of the most charming girls in modern fiction.

Anne is overdrawn and something of a bore. (S. 293)

Halten wir uns also an Mark Twain, der Montgomery’s Anne als „the dearest and most moving and delightful child since the immortal Alice“ bezeichnet haben soll.

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Axel Hacke: Ein Haus für viele Sommer (2022)

Ohne die begeisterte Besprechung auf Kulturbowle wäre Ein Haus für viele Sommer von Axel Hacke vermutlich unbemerkt an mir vorbeigezogen und das wäre jammerschade gewesen.

Obwohl ich nicht einmal zu dem Kreis enthusiastischer Italien-Fans gehöre, ist dieses liebenswürdige und rundherum menschenfreundliche Buch wie ein kleiner Urlaub im Geiste, entschleunigend, sonnig, aber auch berührend, poetisch, informativ, respektvoll dem Gastort gegenüber und dabei herrlich selbstironisch und wunderbar reich an Menschen mit ihren Geschichten. Worum geht‘s?

Der Schwiegervater Axel Hackes (*1956) hat vor 50 Jahren einen alten, schiefen und ständig pflegebedürftigen ehemaligen Wehrturm, den torre, auf der italienischen Insel Elba gekauft und eigenhändig renoviert. Seit ca. 30 Jahren verbringt nun Familie Hacke dort mehrmals im Jahr kürzere und längere Urlaube.

Die Insel ist nicht groß, aber sie hat alles, was eine Insel braucht. (S. 16)

Und wir verfolgen nun, wie das ist, wenn der Ich-Erzähler lernen möchte, nichts zu tun, oder bestimmte Mentalitätsunterschiede navigieren muss, Handwerker braucht oder einem Ziegenhalter klarmachen will, dass dessen Ziegen nicht noch einmal den kompletten Hackeschen Garten kahlfressen dürfen, und ihm gerade noch rechtzeitig einfällt, dass man das Gespräch vielleicht nicht auf konfrontativ-deutsche Art angehen sollte.

Ein paar Tage, nachdem Ziegenhalter Dante tatsächlich bereit gewesen war, den Zaun höher zu machen – wenn auch immer noch nicht hoch genug für Ziegen – steht Hacke dem Ziegenbock gegenüber.

Zwei Tage später bin ich wieder oben und krame in der Hütte herum. Als ich herauskomme, steht auf einmal der Ziegenbock vor mir (…) Ein Ziegenbock ist eine imposante Erscheinung. Große Hörner. Ich bin Städter, ich bin Ziegenböcke nicht so gewöhnt. Ich bin also angemessen beeindruckt und trete den geordneten Rückzug an. Ab in die Hütte, Tür zu. Ja, nun, aber so kann das nicht bleiben. Ich muss etwas unternehmen. Ich schnappe mir den Schrubber, der an der Wand lehnt, öffne die Tür wieder und gehe mit dem erhobenen Putzgerät auf die versammelten Tiere zu. (…) der Bock glotzt mich ungerührt an, als hätte er noch nie einen Deutschen mit einem Schrubber in der Hand gesehen. (S. 93)

Hacke möchte sich aber auch ein Beispiel an den stets hilfsbereiten Nachbarn nehmen, die immer Zeit für ein Schwätzchen haben, egal, ob der Deutsche gerade meint, zu ach so wichtigen Besorgungen unterwegs zu sein.

Dieser Raum ist ein Lager für alte, unverbrauchte Zeit. Und von dieser alten, unverbrauchten Zeit verbrauche ich jetzt ein Viertelstündchen mit Pietro. Wenn dir dieser kleine, überaus freundliche Mann auf die Nerven geht, dann stimmt was mit deinen Nerven nicht, denke ich. (S. 10)

Die Idylle wird geerdet durch alltägliche Widrigkeiten. Wildschweine plündern den Schrebergarten der Familie. Das Haus hat immer mal wieder einen Wasserschaden und die Familie muss ins nächste Hotel flüchten, während die Handwerker dem Problem auf den Grund gehen.

Die Straßen im Dorf sind schmal, die Garage liegt in einem arg ungünstigen Winkel, der einem keinen Platz zum Rangieren lässt, und ist ohnehin nur 8 cm breiter als der Fiat 500. Die Möwen hingegen scheinen die Schutzhülle des Schlauchboots zu lieben und dementsprechend vollgekleckert ist sie am nächsten Morgen. Was aber der Freude an den vielen auf dem Wasser verbrachten Tagen keinen Abbruch tut.

Hier, in diesem kleinen Dorf, lässt sich trefflich nachdenken über das Leben.

Aber mir gefällt der Gedanke, dass alles noch da ist, was hier mal war, und dass nur keiner genau weiß, wo. Auch die Zeit des wuchernden Tourismus wird bestimmt eines Tages vorbei sein. Und was dann? (…) Tausende von Jahren. Und jetzt ist das unser Moment hier: die vielen Geschichten, die überall beginnen, vor meinen Augen, aber sie gehen irgendwohin, und ich habe keine Ahnung, wohin. (S. 123)

Genauso lernen wir aber auch etwas über die Geschichte der Insel, über Hippies und Künstler, Dichter, Forscher und Einzelgänger, über Erzabbau und die Entwicklung des Tourismus. Selbst auf die nervtötend lange Autofahrt von Deutschland nach Elba nimmt Hacke uns mit und wir freuen uns mit ihm, wenn alles wieder gut gegangen ist und er wie stets am ersten Urlaubsmorgen übermüdet mit einem Glas Wein am Küchentisch im Torre sitzt.

Was hat mich von anderen Reisen abgehalten? Bequemlichkeit? Lust an der Gewohnheit? Sparsamkeit? Angst vor dem Unbekannten? Vor der Welt? Provinzialität? Spießigkeit? (S. 33)

Am Ende hat sich für mich die Frage geklärt, warum er in den 30 Jahren, in denen er doch auch die Welt hätte bereisen können, immer wieder „nur“ zu seinem Torre in einem Dorf auf Elba gefahren ist.  

Die Antwort hat nichts oder nur sehr wenig mit Gewohnheit oder gar Spießigkeit zu tun. Wir alle kehrten gern in so ein Dorf zurück, wo man ein – hoffentlich – wohlgelittener Gast ist, der zwar das Stadium des Touristen hinter sich gelassen hat, aber dennoch weiß, was er dem Gastgeber schuldig ist. An einen hellen und warmen Ort, an dem man weder fremdbestimmt ist noch irgendwelchen Zielen hinterherrennt, sondern einfach den lieben langen Tag das tut, was man mag. Ein Ort, der dabei genügend Raum für Alleinsein, Familie, Alltag, Begegnungen, Geschichten und Ausgedachtes bietet.

Vorausgesetzt, man hört sich und den Menschen und ihren Geschichten so aufmerksam zu, wie Axel Hacke das hier getan hat. 

So mache ich es jetzt. Ich lege mich aus. Lasse anbeißen, was immer zum Anbeißen vorbeikommt. Vergeude ein paar Stunden. (S. 146)

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Stella Gibbons: The Swiss Summer (1951)

Das eskapistisch-lockerfluffige The Swiss Summer stand – wie auch die übrigen Werke von Stella Gibbons (1902 – 1989) – immer im Schatten ihres bekanntesten Buches The Cold Comfort Farm. Umso besser vielleicht, dass ich das noch gar nicht kenne. The Swiss Summer jedenfalls macht auch nach über 70 Jahren noch Spaß. Oder wie der Guardian schrieb:

For holiday reading it would be hard to find anything better.

Die 43-jährige Lucy Cottrell lernt zufällig die betagte Lady Dagleish kennen. Deren Gesellschafterin Freda Blandish soll im Auftrag der alten Dame in die Schweiz reisen, um sich dort vor Ort um ein Chalet ihres verstorbenen Mannes zu kümmern. Das hatte die Schweiz vor Jahrzehnten Sir Burton Dagleish in Anerkennung seiner Dienste um die Bergsteigerei geschenkt. Im Grunde soll alles vorbereitet werden, um das Berghaus verkaufen zu können, das nun schon seit Jahren kaum genutzt wird. Nur die alte Utta aus dem Dorf schaut einmal die Woche nach dem Rechten.

Freda wurden von Lady Dagleish Hoffnungen gemacht, dass sie Chalet und Grundstück eines Tages erben werde und sie somit ihren langgehegten Wunsch, dort eine Pension zu eröffnen und dann für immer finanziell unabhängig zu sein, in die Tat umsetzen kann.

Verständlich, dass Freda alles andere als entzückt ist, als Lady Dagleish aus einer Laune heraus und weil sie Lucy Cottrell sympathisch findet, Lucy anbietet, Freda zu begleiten. Lucy ist begeistert, dem schmutzigen und hässlichen London für drei Monate zu entkommen und Urlaub in der bezaubernden Schweizer Bergwelt machen zu dürfen. Auch ihr geliebter Mann gönnt ihr den Aufenthalt von Herzen. Als Gegenleistung soll sie Freda bei der Inventur ein wenig zur Hand gehen, doch diese wittert in ihr eine Nebenbuhlerin auf das erhoffte Erbe.

Die Situation wird nicht einfacher, als Fredas gesellschaftlich unbeholfene Tochter Astra und noch weitere Freunde von Freda im Schweizer Bergdomizil auftauchen und Lucy gebeten wird, in ihren Briefen an Lady Dagleish darüber Stillschweigen zu bewahren. Lucy möchte die alte Dame nicht hintergehen, gleichzeitig mag sie’s harmonisch und geht gern den Weg des geringsten Widerstandes.

Und so nehmen drei erlebnisreiche Monate ihren Lauf, in denen Lucy sich nicht nur mit den halbseidenen Bekannten von Freda herumärgern, sondern sich auch um ihren eigenen Neffen und dessen Freund kümmern muss, die ebenfalls für kurze Zeit auf dem Berghof zu Gast sind. Und über allem wacht Utta, die alte Haushälterin, die sich dem Erbe des verstorbenen Bergsteigers Dagleish verpflichtet fühlt und spürt, dass dort nicht alles mit rechten Dingen zugeht.

Doch Lucy wäre nicht Lucy, wenn sie trotz der Unbill diese Wochen nicht aus tiefstem Herzen – und die LeserInnen mit ihr – genießen würde. Sie ist in den Bergen am rechten Platz, genießt die Natur auf ihren Wanderungen in vollen Zügen, kann dem oberflächlichen Touristentreiben in den Städten wenig abgewinnen und ist immer froh, wenn es wieder zurück auf den Berg geht. Trotz ihrer scheinbaren Passivität geht Lucy ihren Weg und nutzt ihre Spielräume, selbst wenn die zunächst recht begrenzt erscheinen.

The Swiss Summer ist ohne Frage ein Wohlfühlbuch; bereits bei seiner Erstveröffentlichung konnten sich die britischen LeserInnen damit aus den oft noch schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen nach dem Zweiten Weltkrieg wegträumen. Am Ende ist man/frau mit der Auflösung aller Handlungsfäden einverstanden. Gleichzeitig sorgen Ironie, ein unbestechlicher Blick auf menschliche Eigenheiten – allein wie Utta geschildert wird, ist unvergesslich – und Empathie für die verschiedenen Charaktere dafür, dass das Buch nicht in den Kitsch abstürzt.

So muss sich beispielsweise Astra, gerade weil sie nicht hübsch ist, besonders mit der Frage auseinandersetzen, inwieweit sie den gesellschaftlichen Erwartungen und Rollenbildern überhaupt entsprechen will. Nach dem Blättern in den entsprechenden amerikanischen Frauen-Zeitschriften fragt sie sich, ob eine Frau überhaupt noch Zeit für sich habe:

The difficulty of Love: first, with lipstick and foundation cream, permanent wave and nail paint, exercises and hair-brushing, scent and perfectly chosen clothes, you must prepare your body. Next, with a gay, sweet, friendly manner, never showing jealousy or possessiveness, never intruding upon a man‘s private life yet never withdrawing yourself from him so far as to appear cold, and never, oh never, dreaming of hinting that you would welcome the opportunity to perform that task for which Nature had endowed you, you must prepare your personality. And finally, when you had secured a man of your own (but it was quite fatal to believe that you had secured him permanently) you must exercise infinite tolerance, charity, good sportsmanship, intelligence, submission, self-reliance (but not too much of the latter), and tender familiarity combined with wild sweetness in being his wife. It would also help if you could listen, sew, and cook. (S. 95)

Alle menschlichen Wirrungen und kleinen Intrigen sind eingebettet in die beeindruckende Landschaft des Berner Oberlands und nach der Lektüre möchte man – trotz des Kinderbuchcovers der Dean Street Press-Ausgabe – unverzüglich den Koffer packen.

Nachtrag

Bei allem Unterhaltungswert ihrer Werke sollte man nicht übersehen, dass Stella Gibbons in ihren Romanen gesellschaftliche Veränderungen in Großbritannien nachzeichnet und dabei Standesdünkel, Egoismus und Ressentiments, sei es gegen Ausländer oder Angehörige der „niederen Klassen“ mit Witz und Verve aufs Korn nimmt.

Vor allem aber werden Möglichkeiten weiblicher Selbstbestimmung erkundet. Manchmal „nur“ in der Schilderung interessanter Nebenfiguren wie Katy aus A Pink Front Door (1959), einer begabten Chemikerin, die aber nach ihrer Heirat rasch hintereinander drei Kinder bekommen hat und die sich nun wohl alles weitere wissenschaftliche Arbeiten abschminken kann. Als sie sich an ihre Studienzeit erinnert, heißt es:

How they had theorised! Every contemporary problem and every timeless one had been brought out, dissected and prescribed for by herself and the young men whom she had known. Yes, every problem except one – What does a young woman with brains do when she gets caught in a trap? […]

She drank some beer and tried to control this despairing desire for revenge on something or someone. […] she ought to be thankful. She was thankful … only, she didn‘t feel it. She only felt the unceasing aching in her limbs and the unending procession through her tired mind of minute domestic details, and she thirsted for solitude and the pleasures of the intellect. (S. 162)

Angela hingegen, eine Figur aus The Woods in Winter (1970), hat ihren Verlobten im Ersten Weltkrieg verloren und alle gehen wie selbstverständlich davon aus, dass sie ihr restliches Leben nun selbstlos ihrer dominanten Mutter widmen wird. Als ihr ein nicht „standesgemäßer“ Farmarbeiter den Hof macht, wird ihr klar:

It occurred to her that all her life she had been taught to be truthful, but never to be truthful to herself about what she felt and wanted. (S. 170)

In The Woods in Winter (1970), Gibbons letztem zu Lebzeiten veröffentlichten Roman, spielt Ivy Gover, eine fast fünfzigjährige Witwe, die Hauptrolle. Trotz diverser Anträge will sie nicht mehr heiraten und kommt nach der Erbschaft eines kleinen Häuschens auf dem Land so recht in ihr Element. Sie hat schwarze Augen und eine ungewöhnlich enge Beziehung zu Tieren, das wird auf einen Großvater zurückgeführt, der angeblich den Roma angehörte. Gleich zu Beginn des Buches erfahren wir, wie sie einen Collie stiehlt, der von seinen Besitzern nur an der Kette gehalten wurde.

Häusliche Sauberkeit, Smalltalk, regelmäßige Mahlzeiten und gute Manieren werden ihr zunehmend unwichtig und eigentlich will sie nur ihre Ruhe haben und wirkt doch immer wieder, vielleicht gerade deshalb, positiv auf ihre Nachbarn und Nachbarinnen ein.

for the first time in her life, she was living as she had always unknowingly wanted to live: in freedom and solitude, with an animal for close companion. (S. 72)

Heather Lende: If you lived here, I’d know your name (2005)

If you lived here, I’d know your name ist ein unvergleichliches Buch, das mir nicht nur die Stadt Haines in Alaska mit ihren ca. 2500 EinwohnerInnen auf die innere Landkarte geschrieben hat.

Lende, die ursprünglich aus New York stammt, aber mit ihrem Mann und zwei Hunden nach dem College irgendwie in Alaska hängengeblieben ist und seit 1984 in Haines lebt, hat in der dort einmal wöchentlich erscheinenden Lokalzeitung inzwischen über 400 Nachrufe geschrieben und war ebenfalls verantwortlich für die Duly Noted-Rubrik, wo so dies und das gesammelt wird, was in einer Kleinstadt erwähnenswert erscheint. Beispiele dieser Duly Noted-Kurznachrichten finden sich zu Beginn eines jeden Kapitels.

Die Autorin hat mit ihrem Mann Chip fünf Kinder großgezogen, inzwischen vier Bücher geschrieben und in diversen Publikationen veröffentlicht. Und das, obwohl sie immer nur „around the edges of a busy life“ geschrieben hat. 2021 wurde sie zum Alaska State Writer Laureate ernannt.

Und nun zum Problem dieses hinreißenden Buches: Wie soll man den Inhalt beschreiben? Es geht in großen Kapiteln, die eher locker durch eine jeweilige Überschrift zusammengehalten werden, assoziativ, ziemlich unchronologisch und herrlich chaotisch mäandernd um das Leben in Haines, sehr nah dran an der eigenen Biografie, den Freunden und Nachbarn, aber auch an den Familien, die gerade einen geliebten Menschen verloren haben, die die Autorin dann besucht, um die Nachrufe schreiben zu können.

Überhaupt ist das Leben in Alaska nicht ungefährlich, Menschen sterben auf der Straße, die kleinen Segelflugzeuge zerschellen am Berg; eine befreundete Familie ruft mitten in der Nacht an, das Fischerboot ihres Sohnes ist in einen Sturm geraten. Man möge bitte beten. Drei Menschen können gerettet werden, doch die Leiche des Sohnes wird nie gefunden.  Der Weg durch die Trauer, den die Mutter des jungen Mannes geht, wird auf nur einer halben, aber sehr eindrücklichen Seite erzählt.

Es geht darum, wie man die politischen Querelen zwischen strammen Republikanern und Liberalen aushält, die auch vor einem kleinen Ort wie Haines nicht Halt machen, um Umweltzerstörung und die Frage, ob die Schule nach miesen Mobbingvorfällen einen Workshop zu Homosexualität abhalten sollte, genauso aber auch um die Wunden und Traumata des indigenen Volkes der Tlingit, ihre Bemühungen, ihre Kultur zu leben, sie manchmal sogar erst wieder zu lernen.

Paul tells me he’s learning the Tlingit language so he can believe the stories of his people, not just know the plots. When he was young, missionaries and the government prohibited Alaskan natives from speaking their language and living traditionally. They often took Tlingit children from their homes and families, placing them in boarding schools as far away as Washington and Oregon. Now Paul is a grandfather and is committed to relearning  a way of living that he says is not lost but rather hiding, just below the skin. (S. 38)

Lende liebt ihre neue Heimat, die oft gefährliche und atemberaubend schöne Natur, das Joggen mit ihrem Hund, ihre Familie, das Räuchern der Fische, das Beerensammeln mit den anderen Frauen, bei dem man laute Musik spielt, um die Bären zu vertreiben, das Engagement von so vielen Menschen für das Gemeinwohl und unzählige Aktivitäten, die man hier vermutlich mit dem Etikett Ehrenamt versehen würde, dort aber wohl eher unter normaler Nachbarschaftshilfe verbucht. Sogar die Aufgaben des Bestatters werden von einem Ehepaar unentgeltlich übernommen. Man muss die beiden nur fragen.

Die Haustür wird nicht abgeschlossen, die Autoschlüssel bleiben stecken, die Tageszeitung ist nie aktuell, da sie erst eingeflogen werden muss. Eine Entbindungstation gibt es schon seit Jahren nicht mehr und ein entzündeter Blinddarm kann lebensbedrohlich sein, je nachdem, ob der Pass über die kanadische Grenze aufgrund der Schneefälle noch passiert werden kann.

Ihre zweite Tochter bekommt Lende während eines entsetzlichen Schneesturms. Die zukünftige Großmutter kommt extra angereist.

Mom had arrived from New York a few days earlier on a ferry coated with ice. The usual four-and-a-half-hour trip had taken nearly eight as northern gales kept the boat from moving at full speed. Mom was one of the few passengers who didn’t get sick. She also didn’t know it was dangerous at all. She’d never been on the ferry before and assumed it was always like that.

Nach nur fünf Stunden in der damaligen Krankenstation können Heather und Baby Sarah zurück nach Hause. Am nächsten Morgen moderieren Freunde von Heather eine Radiosendung.

… and they talked on air about the new Lende baby, telling listeners that her name was Sarah […] and her weight was eight pounds, two ounces. As for the state of the mother’s health: „I saw Heather shoveling the driveway today on my way to work,“ Steve said.

I thought my mother woud kill me. „He’s kidding, Mom,“ I told her. „It’s a joke.“ She was not amused. (S. 14)

Ebenso erfahren wir von Wohltätigkeitsbuffets, bei denen jeder mit Begeisterung viel mehr ausgibt, als er eigentlich wollte, um einer Familie finanziell unter die Arme zu greifen, die die teure medizinische Behandlung des Kindes nicht mehr allein stemmen kann. Und die Aufführungen der Laienspielgruppe, bei denen man wirklich alle Mitwirkenden kennt, bleiben Lende länger in Erinnerung als der Besuch des Musicals Cats in New York.

Lendes Arbeit als Verfasserin der Nachrufe, die auch mal zwei Zeitungsseiten lang sein können, bringt sie nicht nur mit den unterschiedlichsten Charakterern, Lebensentwürfen und Schicksalen zusammen, sondern konfrontiert sie natürlich auch mit Frage, wie Menschen auf den Verlust reagieren, worin sie Trost und Halt finden.

Aber genauso sinniert sie darüber, was es bedeutet, wenn ihr zehnjähriger Sohn zum ersten Mal mit seinem Vater auf die Jagd geht, und warum es ihr wichtig ist, dass ihre Töchter als Deckhands auf einem Fischerboot jobben, auch wenn sie weiß, dass das keine ungefährliche Aufgabe ist.

Das Besondere an diesem Buch ist neben der schieren Fülle an Geschichten aber vor allem der Blick der Erzählerin auf die Welt. Zurückgenommen, dezent selbstironisch und humorvoll. Warmherzig, dankbar, im Glauben geerdet, den Menschen zugewandt, bescheiden. Zupackend und hoffnungsvoll.

Da wird mit der gleichen Selbstverständlichkeit davon erzählt, dass man ein Roma-Waisenmädchen adoptiert, wie davon, dass es gar nicht so einfach sei, zu Hause mal in Ruhe ein schönes Ei-Sandwich zu essen, da einem ständig Anrufe, spontane Gespräche und Aufgaben dazwischenkommen.

Wer wissen will, was ein Drache mit einem Feuerlöscher, der mit 25 Kilo Mehl gefüllt ist, mit Weihnachtsstimmung zu tun hat, muss das Buch nun trotz meiner wie immer ausufernden Inhaltsangabe doch noch selbst lesen. Ich jedenfalls, am Ende der 281 Seiten angekommen, könnte gleich wieder von vorn beginnen. Eine Wundertüte von Buch, das sowohl Kritiker als auch LeserInnen beglückt hat und dazu einlädt, unter anderem darüber nachzudenken, wo sich unser Leben fundamental von dem der Einwohner Haines‘ unterscheidet. Vermutlich ist das bei uns oft viel zersplitterter, vereinzelter und ego-bezogener.

Lende hingegen ist sich sicher:

It’s as if we are all moving through this world on a big old ship, holding on to one another as we cruise up the generous river of life. The water that floats us is always new, yet it flows in the same direction, over the same old sand. (S. 44)

Oder wie es an anderer Stelle heißt, an der Lende die Schriftstellerin Annie Dillard zitiert:

How we spend our days, of course, is how we spend our lives. (S. 85)

Einzig das Cover fand ich etwas dürftig, aber gut, das sollte niemanden abhalten.

Wer noch ein bisschen weiterstöbern möchte, könnte beispielsweise dem Hinweis zu Elisabeth Peratrovich nachgehen oder sich gleich auf dem Blog Lendes festlesen.

Rónán Hession: Leonard and Hungry Paul (2019)

Was für ein feines, außergewöhnliches Buch. Ein klarer Fall für meine Kategorie der freundlichen Bücher.

Das Debüt des irischen Musikers Rónán Hession, der bisher nur Erzählungen veröffentlicht hatte, handelt von Leonhard und Hungry Paul, zwei ledigen Freunden in den Dreißigern, die so ziemlich das Gegenteil dessen verkörpern, was als momentan angesagt gelten könnte. Sie posen nicht auf Instagram – Hungry Paul hat noch nicht einmal ein Handy -, sie hatten weder eine traumatische Kindheit noch hatten sie je eine Freundin. Sie sind im menschlichen Miteinander ein wenig unbeholfen bzw. ungeübt und mögen weder größere Menschenansammlungen noch Smalltalk mit Fremden. Sie sind weder schlagfertig noch in irgendeiner Weise herausragend und im Grunde die, die normalerweise übersehen und überhört, bestenfalls etwas mitleidig belächelt werden. Genau deshalb sind sie aber auch unverbogen, verschwenden keine Energie auf Selbstdarstellung, sondern haben Zeit, sich ihren eigenen Interessen zu widmen und sich ihre eigenen Gedanken zu machen.

Leonhard, der beruflich Nachschlagewerke für Kinder schreibt und langsam die Nase voll hat von den seelenlos wie am Fließband entwickelten Büchern, hat gerade seine Mutter verloren, mit der er zusammengewohnt hat. Über sie heißt es:

She was a person for whom kindness was a very ordinary thing, who believed that the only acceptable excuse for not having a bird feeder in the back garden was that you had one in the front garden. (S. 2)

In der Trauer wird ihm bewusst, wie ruhig und einsam sein Leben ist.

He found book shops to be comforting places and book buying a comforting activity, but he was an absent-minded reader these days, the act of reading that much more solitary without his mother pottering around the house in the background. (S. 4)

Hungry Paul wohnt ebenfalls noch bei seinen Eltern  und ist – abgesehen von seinen Einsätzen als Ersatzbriefträger – im Grunde arbeitslos.

In truth, he never left home because his family was a happy one, and maybe it’s rarer than it ought to be that a person appreciates such things. (S. 6)

Abends besucht Leonhard oft seinen Freund und dessen Familie, dann wird geredet, ferngesehen und es werden Brettspiele gespielt.

Hungry Paul lived on a knife edge between a passion for board games and an aversion to instruction booklets. (S. 14)

Pauls Schwester Grace, die ein klein wenig zur Besserwisserei und zum Helfersysndrom neigt, steht kurz vor der Hochzeit mit Andrew und macht sich Sorgen, dass ihre Eltern sich durch die Fürsorge um Paul vielleicht um die Freiheit bringen, endlich ihren verdienten Ruhestand zu genießen. Hungry Paul wird derweil von seiner Mutter verdonnert, sie in Zukunft bei ihren ehrenamtlichen Besuchen im Krankenhaus zu begleiten. Da würde ich am liebsten gleich spoilern, wie das weitergeht. Aber nein, tue ich nicht.

Heimlich nimmt Paul außerdem an einem Wettbewerb teil, der ausgerufen wurde, um eine zeitgemäßere Schlussformel für die allgegenwärtigen E-Mails zu finden. Das wiederum führt zu einigen unvorhersehbaren Turbulenzen und Bekanntschaften.

Leonhard hingegen lernt zufällig in seinem Großraumbüro eine junge Frau kennen, was allerdings ebenfalls mit diversen Tücken und Fallstricken behaftet ist und ihn mehr als einmal heftig in die Bredouille bringt.

Diesen beiden bedächtigen freiwillig-unfreiwilligen Eigenbrötlern in ihrem unspektakulären Dasein folgen wir nun. Dass das streckenweise eher kunstlos und etwas spröde runtererzählt wird, hat nur selten gestört, da der Autor es durch freundlichen Humor, die Balance zwischen ernsten, leichten und schrägen Szenen und reizende Zwischenbemerkungen schafft, dass ich mir mehr Stellen angestrichen habe, als ich hier zitieren kann. Und vielleicht muss man diese Geschichte ja auch genau so erzählen, da der Stil zu den beiden Männern passt wie der Deckel auf die Dose.

Die beiden Freunde Leonhard und Hungry Paul werden dabei nicht als Freaks vorgeführt, sondern als rundherum glaubwürdige und würdige Charaktere geschildert, die man sofort in seinen Freundeskreis adoptieren möchte.

Paul sagt an einer Stelle über sich:

As you know, I have always been modestly Hippocratic in my instincts: I wish to do no harm. My preference has always been to stand back from the world. Much like the Green Cross Code, I like to stop, look and listen before getting involved in things. It has stood me well and kept me on peaceful terms with my fellow man. […] the trick is to know how much of the world to let in, without becoming overwhelmed. (S. 18/19)

Und dann könnte man sich abends mit ihnen die Zeit vertreiben bei Brettspielen und anregenden Gesprächen über den „Schrei“ von Munch, die Ausdehnung des Universum und den ganzen Rest. Und von ihnen lernen. Mit angemessenen Schweigepausen, versteht sich.

For the two friends, the bleaching of the coral reefs was as current as the latest general election; the discovery of new dwarf planets was as relevant as last night’s penalty shoot-out; and Marco Polo was discussed as others might gossip about the latest red carpet ingénue. (S. 15)

Mary Whipple fasst es auf ihrem Blog treffend zusammen, wenn sie schreibt:

With two main characters who have little to suggest that their stories will become the charming, funny, insightful, and un-put-down-able chronicles that eventually evolve, Irish author Rónán Hession demonstrates his own creativity and his own ideas regarding communication and its importance or lack of it in our lives.  He ignores the generations-old traditions of boisterous Irish writing and non-stop action in favor of a quiet, kindly, and highly original analysis of his characters and their unpretentious and self-contained lives.  In this way, he draws in his readers and makes them identify, however impossible that may seem, with two young men whose enjoyment of the small moments makes them less needful of communicating, especially with more worldly, socially active, and often less thoughtful people.

Hier geht’s lang zur Besprechung von Carrie O’Grady im Guardian.

Miss Read: Village School (1955)

Mit großem Vergnügen schmökere ich mich gerade durch die Reihe um die Erlebnisse einer englischen Dorfschullehrerin, geschrieben von Dora Jessie Saint (1913 – 2013), deren Künstlername auf dem Geburtsnamen ihrer Mutter beruht. In den Neunzigern wurde diese charmante Reihe auch ins Deutsche übertragen. Der erste Band erschien unter dem Titel Dorfschule.

Saint hat selbst Jahrzehnte lang unterrichtet, was man den Büchern anmerkt. Sie bieten Entspannung, viel Idylle, eine sehr überschaubare und (fast) heile Welt, wobei das Unschöne und menschlich Verwerfliche allerdings nicht völlig ausgespart werden. Es gibt vernachlässigte Kinder, untreue Ehemänner und den Vater, der seine Familie verprügelt und dem Nachbarn die Hühner stiehlt.

Doch meist ist das Aufregendste, dass jemand neu ins Dorf zieht, der Kirchenchor einen Ausflug unternimmt oder sich ein Junge auf dem Schulhof verletzt und die anderen brüllen, er sei bestimmt tot, ganz bestimmt, sich die Verletzung aber glücklicherweise nur als oberflächlicher Kratzer herausstellt. Oder wenn die Katze eine Ratte mit ins Haus bringt, die im Gegensatz dazu leider doch noch nicht tot ist.

Gleichzeitig hat Miss Read aber einen klaren Blick auf eine Gesellschaft im Umbruch: Viele können sich die Reparaturen ihrer Strohdächer, bei denen die Städter immer ins ahnungslose Schwärmen geraten, nicht mehr leisten. Die ersten kleinen Dorfschulen werden bereits geschlossen, mehr und mehr Leute ziehen in die Stadt, wollen keine „schmutzige“ Arbeit mehr verrichten und verlieren so den Bezug zu ihrer Herkunft und ihrer Hände Arbeit.

Und es liest sich durchaus interessant, wie doch vor gar nicht langer Zeit der Unterricht in so einer Dorfschule aussah. Was für ein Rundumpaket die Lehrerinnen liefern mussten, um für ihre Klasse – die ja immer mehrere Jahrgänge umfasste – die Grundlagen im Lesen, Schreiben, Rechnen, Naturkunde, Religion, Musik und Sport zu legen, und zwar so ganz ohne mediale Unterstützung.

Dazu erledigten sie die komplette Bürokratie, teilten das angelieferte Mittagessen aus und schlugen sich mit Beamten der Schulaufsichtsbehörde herum, die nun ganz dem neuen Zeitgeist folgend der Meinung waren, dass es nicht gut sein könne, wenn einige Kinder schon mit fünf Jahren fließend lesen könnten. Und da erstaunt es dann doch, wie miserabel die Bezahlung und die spätere Höhe der Rente war. Zwischenduch war ich verblüfft, wie aktuell sich manches las.

There has been much discussion recently on the methods of marking compositions. Some hold that the child should be allowed to pour out its thoughts without bothering overmuch about spelling and puntctuation. Others are as vehement in their assurances that each word misspelt and incorrectly used should be put right immediately. (S. 117)

Las sich der erste Band streckenweise noch zu sehr nach sozialem Kommentar, hat sich die Autorin ab dem zweiten Band freigeschrieben. Es macht Spaß, ihre Kämpfe mit der grimmigen Putzfrau der Schule, ihrer dominanten Freundin oder mit der neuen Hilfslehrerin mitzuverfolgen, die sehr theoretische Ideen zur Kindererziehung mitbringt. Neben den Vorkommnissen in der Schule sind der Wechsel der Jahreszeiten, die Dorfgemeinschaft mit ihrem allgegenwärtigen Tratsch und Klatsch und das Eingebettetsein in Traditionen und Feste wichtige Themen.

Die Ich-Erzählerin zeichnet ein bodenständiger, liebevoller, oft auch ironischer und sehr genauer Blick auf sich, die ihr anvertrauten Kinder und ihre Mitmenschen aus, der viel Vergnügen macht. Ihre Bücher sind keine Axt für das angeblich gefrorene Meer in uns, sondern eher eine Einladung zum Innehalten, Teetrinken und Pausemachen. Zum gelasseneren und entspannteren Blick.

Miss Gray and I had spent a long singing lesson picking our choir. This was not an easy task, as all the children were bursting to take part, but Miss Gray, with considerable tact, managed to weed out the real growlers, with no tears shed.

‚A little louder,‘ she said to Eric, ’now once again,‘ and Eric would honk again, in his tuneless, timeless way, while Miss Gray listened solemnly and with the utmost attention. Then, ‚Yes,‘ she said in a considering way, ‚it’s certainly a strong voice, Eric dear, and you do try: but I’m afraid we must leave you out this time. We must have voices that blend well together.‘

‚He really is the Tuneless Wonder!‘ she said to me later, with awe in her voice. ‚I’ve never known a child quite so tone-deaf.‘ I told her that Eric was also quite incapable of keeping in step to music; the two things often going together. Miss Gray had not come across this before and was suitably impressed. (S. 109)

Und wenn die ersten warmen Sommertage kommen, dann ist es ausnahmsweise auch in Ordnung, wenn man den Kindern am Nachmittag The Wind in the Willows vorliest oder Schüler und Lehrerin mal viel mehr tagträumen, als ganz fürchterlich viel zu schaffen. Falls man nicht ohnehin gleich eine spontane Wanderung durch die Felder und Wälder der Umgebung unternimmt, bei der man so schon wieder Anschauungsmaterial für die nächste Naturkundestunde sammeln kann.

Wem das zu viel Schule ist: Die Autorin hat noch eine zweite Reihe um die Bewohner des fiktiven Dorfes Thrushcross Grange geschrieben. Auch die eher nostalgisch geprägt und ziemlich weit weg von den modernen Tendenzen der Literatur nach dem Zweiten Weltkrieg. Aber niemals süßlich, niemals platt, dafür konnte Miss Read viel zu gut, zu witzig und zu anschaulich schreiben. Die Leserinnen danken es ihr bis heute.

The book, of which I had read such glowing reports, I hurled from my bed of pain about 11 a.m., when the heroine – as unpleasant a nymphomaniac as it has been my misfortune to come across – hopped into the seventh man’s bed, under the delusion that this would finally make her (a) happy, (b) noble and altruistic, and (c) interesting to her readers. Could have told the wretched creature by page 6, that, spinster though I am, this is not the recipe for happiness. (Village Diary, S. 22)

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Katja Oskamp: Marzahn Mon Amour – Geschichten einer Fußpflegerin (2019)

Den ZEIT-LeserInnen dürften Katja Oskamps wunderbare Texte, die sie über ihre Kundschaft in einem Berliner Fußpflegesalon schreibt, bereits bekannt sein. Die waren ein wenig an mir vorbeigegangen, doch das Buch dazu lag zufällig bei Freunden auf dem Küchentisch. Zum Glück.

Die Autorin (*1970 in Leipzig) beschließt mit 45 Jahren, als der Partner erkrankt, die Tochter aus dem Haus und die Schriftstellerinnenkarriere gerade etwas unbefriedigend dahindümpelt, noch mal etwas ganz Neues zu beginnen. Auf den Rat einer Freundin belegt sie einen achtwöchigen Kurs für Fußpflege.

Zu Hause lernte ich die Namen der achtundzwanzig Fußknochen auswendig, den Aufbau des Nagels, die Fußdeformitäten und wie eine Thrombose entsteht. Ich prägte mir die Materialien für Fräserknöpfe ein, die Wirkungen pflanzlicher Stoffe, die Hautkrebsarten, den Unterschied zwischen Viren, Bakterien und Pilzsporen. Die Besonderheiten des diabetischen Fußes und die Definition von Fissuren, Rhagaden und Krampfadern. Mein Mann fragte mich ab, wenn wir abends im Bett lagen, begraben unter Zetteln voller Mitschriften und Fußskizzen. (S. 11)

Seitdem arbeitet sie zweimal die Woche in einem Marzahner Salon, hört ihren KundInnen zu, lacht und schäkert mit ihnen und erfährt so im Laufe der Zeit viel über deren Leben. Und all den Witz, die Stille, Einsamkeit und Liebe, die Erinnerungen, das Unsentimentale der meist älteren und oft gebrechlichen Menschen, die da zu ihr, der Kollegin und der Chefin kommen, wird von Oskamp in berührenden, komischen, peppigen, erschreckenden und sehr anschaulichen Kurzporträts verdichtet. Mal schnoddrigaufdenpunkt, mal poetisch und ruhig.

Der Parkfriedhof Marzahn abends um acht, fern des Lärms der Stadt. Am Ende eines heißen, staubigen Tages singen die Vögel ihr Abendlied. Die Sonne steht schräg, letzte Strahlen streichen wie Flügel über einzelne Namen auf Steinen. Geharkte Wege. Gegossene Gräber. Brennende Kerzen. Lärchen, Eichen, Kiefern. Ich streife durch Farne, über Wiesen im Schatten. Kühle, Ruhe und Platz. Eine Birke. Eine Bank. Es ist schön, den Tag auf einem menschenleeren Friedhof zu beenden. (S. 136)

Unglaublich gern gelesen. So mit großzügiger Menschenfreundlichkeit betrachtet, quasi von den Füßen her, wird jedes Leben gewürdigt, wahrgenommen. Und die Tätigkeit der Fußpflegerin ist für mich ab sofort gesellschaftlich bedeutsam, was sich nicht nur in Anerkennung, sondern auch in entsprechender Vergütung niederzuschlagen hätte.

Zwei Fragen, deren Widersprüchlichkeit mir bewusst ist, bleiben:

Ist es eigentlich in Ordnung, so aus den Geschichten, die einem ja im Vertrauen und der Abgeschlossenheit eines Behandlungszimmers erzählt werden, ein Buch zu machen?

Wann erscheint die Fortsetzung? Ich möchte weiterlesen.

Ach, und gegen die Midlifecrisis der Autorin hat die Arbeit als Fußpflegerin übrigens auch geholfen.

Du bist fast fünfzig und hast begriffen, dass du Dinge, die du tun willst, jetzt tun solltest, nicht später. Alte Ratgeber-Binse, stimmt aber wirklich. Du bist fast fünfzig und noch unsichtbarer geworden, die beste Voraussetzung, diese Dinge zu tun, seien sie schrecklich, wundervoll oder abseitig. (S. 137)

Hier noch ein Interview mit Oskamp aus der Berliner Morgenpost und hier eins auf der Seite des Deutschlandfunk.

James Runcie: Sidney Chambers and the Shadow of Death (2012)

In den letzten Wochen, in denen ich mich vorzugsweise am „Korrekturrand der Gesellschaft“ (Herr Schröder) aufgehalten habe, kamen Lesen und Bloggen naturgemäß zu kurz. Doch ganz ohne Bücher ging’s natürlich trotzdem nicht. So habe ich mich beispielsweise erneut mit Vergnügen durch alle sechs Bände um den sympathischen Pfarrer und Hobby-Ermittler Sidney Chambers geschmökert, die inzwischen verfilmt und ins Deutsche übersetzt worden sind und die ich heute noch einmal in überarbeiteter Fassung vorstellen möchte.

Canon Sidney Chambers had never intended to become a detective. Indeed, it came about quite by chance, after a funeral, when a handsome woman of indeterminate age voiced her suspicion that the recent death of a Cambridge solicitor was not suicide, as had been widely reported, but murder. It was a weekday morning in October 1953 and the pale rays of a low autumn sun were falling over the village of Grantchester.

Zum Inhalt

In Sidney Chambers and the Shadows of Death – auf Deutsch unter Die Schatten des Todes erschienen – sind die sechs ersten Geschichten um Sidney Chambers versammelt, der seinen Dienst an der Kirche St Andrew and St Mary im – real existierenden – Dorf Grantchester ganz in der Nähe zu Cambridge versieht. Im ersten Fall, dem das Buch auch seinen Titel verdankt, kommt im Oktober 1953 nach der Beerdigung eines Anwalts dessen Geliebte zu Sidney und bittet ihn, sich einmal umzuhören. Sie ist sicher, dass ihr Geliebter keinen Selbstmord begangen hat, sondern ermordet wurde. Zur Polizei möchte sie nicht, da sie ihre Affäre vor ihrem Mann geheim halten will.

Und so löst Sidney, zusammen mit seinem guten Freund, Inspector Keating, mit dem er jeden Donnerstag ein paar Bierchen trinkt und Backgammon spielt, seinen ersten Fall, dem – sehr zu Sidneys Leidwesen – rasch weitere folgen sollen.

Nun muss er seine Nase in Dinge hineinstecken, die ihn eigentlich gar nichts angehen, und mehr als einmal lenken ihn seine inoffiziellen Gespräche, die er im Laufe der Ermittlungen führen muss, auch über Gebühr von seinen eigentlichen Gemeindeaufgaben und Familienpflichten ab.

Hier noch ein paar Worte zur Hauptperson:

Sidney was a tall, slender man in his early thirties. A lover of warm beer and hot jazz, a keen cricketer and an avid reader, he was known for his understated clerical elegance. His high forehead, aqualine nose and longish chin were softened by nutbrown eyes and a gentle smile, one that suggested he was always prepared to think the best of people. He had had the priestly good fortune to be born on a Sabbath day and was ordained soon after the war. After a brief curacy in Coventry, and a short spell as domestic chaplain to the Bishop of Ely, he had been appointed to the church of St Andrew and St Mary in 1952.

Zuerst war ich enttäuscht, dass das Buch gar kein ausgewachsener Kriminalroman war, sondern eine Sammlung von sechs Erzählungen, die immer so um die 60 bis 70 Seiten umfassen. Aber diese bauen aufeinander auf und in den Folgegeschichten treffen wir immer wieder Personal, das wir schon kennen. So entsteht allmählich ein Kosmos, in dem man immer wieder gute alte Bekannte trifft, sich auskennt und doch stets auf Neue überrascht wird.

So kann es passieren, dass Sidney mit der Witwe aus der ersten Geschichte später einen regen Briefwechsel unterhält, seine Dauerfreundin Amanda in einem Fall kräftig zur Aufklärung beiträgt, um dann im nächsten selbst ins Visier des Täters zu rücken. Ebenfalls zum Stammpersonal gehört die rabiate Haushälterin Mrs Maguire, deren Herrschaftsanspruch später durch den Einzug eines Vikars und einen Labrador immer wieder an seine Grenzen stößt.

Da Sidney nur 20 Minuten mit dem Fahrrad nach Cambridge braucht und London nur eine Stunde Zugfahrt entfernt ist, können die Fälle abwechslungsreich und mit liebevoll gezeichnetem Zeitkolorit gestaltet werden. Schön auch, wenn sich plötzlich literarische Spiegelungen ergeben. In einer Geschichte im zweiten Band wird Sidney als Laienschauspieler für die Verfilmung eines Dorothy Sayers-Krimis engagiert, in einer anderen nimmt er teil an der Trauerfeier von C. S. Lewis. Die Bandbreite der Themen reicht dabei – wenn man alle Bände miteinbezieht – vom Kunstraub, Gewalt in der Ehe, dem Diebstahl einer kostbaren Bibelhandschrift, Missbrauch, einem Mord in einem Londoner Jazz-Lokal über die Spionageaffäre in den Fünfzigern an der University of Cambridge bis hin zu der repressiven Haltung gegenüber Homosexuellen und einem plötzlich verschwundenen Verlobungsring. Manchmal kann sich der geerdete Kirchenmann nur wundern:

‚What a mess people make of their lives,‘ he thought. (S. 13)

Sidneys Beruf, seine Berufung als Pfarrer, ist dabei keine bloße Staffage. Oft erfahren wir sogar, zu welchen Predigtthemen ihn seine Detektivarbeit anregt oder welche Fragen er sich im Bezug auf seinen Glauben stellt. Gerade in diesen Fragen und scheinbar beiläufigen Gedanken liegt ein großer Reiz der Geschichten.

Als er am 7. Mai 1954 im Radio vom Rekord Roger Bannisters hört, philosophiert er darüber, was alles in dieser kurzen Zeitspanne möglich ist. Man könne ein Ei kochen, einen Rekord aufstellen oder wie Sidney Bechet Summertime auf dem Saxofon spielen.

Runcie weiß selbst:

I have to confess there is perhaps an element of preachiness to it all. My editor once said to me: “These are disguised sermons, aren’t they?” I am not ashamed of that and I am hopeful that the television series, as well as being dramatic, consists of thoughtful and moral meditations on subjects such as loyalty, friendship, deceit, cruelty and generosity. There are all the usual human fallibilities and they are taken seriously; but they are also viewed, wherever possible, with a kindly eye. (Hate the sin, but love the sinner.) (Telegraph, 5. Oktober 2014)

Darüber hinaus ist Sidney belesen und kann in einem Gespräch mit seinem Vikar, in dem es darum geht, welche Schriftsteller auf eher seltsamem Weg den Tod fanden, locker mithalten.

And didn’t the Chinese poet Li Po drown while trying to kiss the reflection of the moon in water? (S. 119)

Das Ganze ist hin und wieder von dezentem Humor untermalt. Als sein Freund Inspector Keating ihn dazu bringen möchte, einem verlobten Paar etwas genauer auf den Zahn zu fühlen, entspinnt sich folgender Dialog.

‚When people come to you to be married, you tend to put the couple through their paces beforehand, don’t you?‘
‚I give them pastoral advice.‘
‚You tell them what marriage is all about; warn them that it’s not all lovey-dovey and that as soon as you have children it’s a different kettle of fish altogether… […] There’s the money worries, and the job worries and you start to grow old. Then you realise that you’ve married someone with whom you have nothing in common. You have nothing left to say to each other. That’s the kind of thing you tell them, isn’t it?’
‚I wouldn’t put it exactly like that …‘
‚But that’s the gist?‘
‚I do like it to make it a bit more optimistic, Geordie. How friendship sometimes matters more than passion. The importance of kindness…‘
‚Yes, yes, but you know what I’m getting at.‘ (S. 153)

Kurzum: Ideal für LeserInnen wie mich, die keinen Wert auf ausgedehnte Schilderungen von Brutalität in ihren Krimis legen, die Krimis eher zur Entspannung lesen und dabei trotzdem nicht für blöd verkauft werden wollen.

Gleichzeitig bieten die sechs Bände viele Anregungen und Informationen, denen man nachgehen kann. Ist Sidneys spätere Ehefrau doch Pianistin, sein erster Vikar großer Dostojewski-Fan und seine beste Freundin Amanda Kunsthistorikerin.

Runcie hat einmal gesagt, dass er mit der Reihe „a moral history of post-war Britain“ habe schaffen wollen. Und tatsächlich hat Runcie hier ein Sittengemälde der fünfziger bis siebziger Jahre geschaffen, das sich eher ruhig und mäandernd entwickelt. Und in allen Geschichten geht es nicht nur um die Auflösung, um den Täter, sondern immer auch darum, wie es den Opfern geht.

Manchmal gibt es auch gar keine eigentliche Krimi-Handlung, sondern Sidney holt einfach den von zu Hause abgehauenen Neffen zurück, der sich von seinen Eltern nicht verstanden gefühlt hat.

Überhaupt spielen Beziehungen und Loyalität gegenüber seinen Freunden eine wichtige Rolle, genauso wie die Frage nach dem angemessenen Verhalten, nach der persönlichen Moral, nach Anstand. Und Sidney ist dabei ein geduldiger und aufmerksamer Zuhörer, der den Menschen helfen möchte, sich für das jeweils Richtige zu entscheiden.

Dachte ich zwischendurch, dass die Tiefe der Charakterisierungen vielleicht nicht gerade die Stärke dieser Bücher sei, holt Runcie im sechsten Band noch einmal aus und ich bin beeindruckt, wie feinfühlig und treffend er das Wesen der Trauer beschreibt. Ein sehr würdiger Abschluss der Reihe, obwohl ich trotzdem hoffe, dass sich Runcie das doch noch mal überlegt und der menschenfreundliche Sidney, der inzwischen Archdeacon von Ely ist, weitere Fälle lösen darf.

Perhaps the rest of his life should be like this? he thought. It would involve a concentration on things close to the heart; a dedicated care of friends and family; a quieter existence, one that depended on listening harder and loving better; never resting in complacency; acknowledging faults, doubts and insecurities; the balance between solitude and company, the wish to escape and the need to come home: a loving attention. (James Runcie: Sidney Chambers and the Persistence of Love, S. 266)

Anmerkungen

Der Autor James Runcie scheint ein umtriebiger, kluger und kreativer Kopf zu sein. Hier lohnt ein Blick auf den Wikipedia-Eintrag. Auch die Rezensenten waren angetan. Hier geht’s lang zur Besprechung im Independent.

Mai 2019 erschien der Prequel-Band The Road to Grantchester.

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Winifred Watson: Miss Pettigrew lives for a day (1938)

Miss Pettigrew pushed open the door of the employment agency and went in as the clock struck a quarter past nine. She had, as usual, very little hope, but today the Principal greeted her with a more cheerful smile.

So beginnt der hinreißende Roman Miss Pettigrew lives for a day (1938) von Winifred Watson, den ich ursprünglich nur gelesen hatte, weil momentan Lesezeit und Konzentration für Anspruchsvolleres fehlt. Aber nun wird Miss Pettigrew dieses Jahr eines der Bücher sein, das meine Erwartungen weit übertroffen hat und das ich richtig gern gelesen habe. Die deutsche Übersetzung von Martina Tichy erschien übrigens unter dem Titel Miss Pettigrews großer Tag (2009).

2008 kam die Verfilmung in die Kinos. Zwar wurden schon 1939 die Filmrechte an Universal Pictures verkauft, doch der Zweite Weltkrieg brachte damals das Projekt zum Erliegen. Doch worum geht es eigentlich?

Die vierzigjährige mausgraue Guinevere Pettigrew sucht verzweifelt nach einer neuen Arbeitsstelle als Kindermädchen oder Gouvernante, doch es wird immer schwieriger, Arbeit zu finden, denn eigentlich hasst sie es, sich um ungezogene Kinder zu kümmern, denen sie ohnehin keinen Respekt einflößen kann.

Outside on the pavement Miss Pettigrew shivered slightly. It was a cold, grey, foggy November day with a drizzle of rain in the air. Her coat, of a nondescript, ugly brown, was not very thick. It was five years old. London traffic roared about her. Pedestrians hastened to reach their destinations and get out of the depressing atmosphere as quickly as possible. Miss Pettigrew joined the throng, a middle-aged, rather angular lady, of medium height, thin through lack of good food, with a timid, defeated expression and terror quite discernible in her eyes, if any one cared to look. But there was no personal friend or relation in the whole world who knew or cared whether Miss Pettigrew was alive or dead. (S. 2)

Sie weiß, das Stellenangebot als Kindermädchen bei Miss LaFosse ist nach Wochen der Arbeitslosigkeit ihre letzte Chance, dem Arbeitshaus zu entgehen. Doch bevor sie dazu kommt, mit ihrer potentiellen Arbeitgeberin Einzelheiten der Stelle zu besprechen, hilft sie zunächst einmal der reizenden, wenn auch etwas chaotischen Miss LaFosse deren Liebhaber Phil aus der Wohnung zu scheuchen. Das ist auch dringend notwendig, denn schon steht der Eigentümer der Wohnung, der brutal attraktive Nachtclubbesitzer Phil, auf der Matte, der seine Rückkehr erst für den nächsten Tag angekündigt hatte.

Und so nehmen äußerst turbulente 24 Stunden ihren Lauf, in denen die verarmt-verhärmte Pfarrerstochter Guinevere Pettigrew das Leben kennenlernt, das sie nur aus dem Kino kennt: das Leben der Reichen und Schönen. Mit wachsender Begeisterung hilft sie nicht nur der bildhübschen, aber ziemlich planlosen Nachtclubsängerin LaFosse, Ordnung in deren Leben mit drei Liebhabern zu bringen.

Gleichzeitig bestehen LaFosse und ihre Freundin Edythe, Besitzerin eines Schönheitssalons, darauf, dass Guinevere sich für die zwei für den Tag geplanten Partys schminken lässt. Diese erkennt sich in den von LaFosse geliehenen traumschönen Kleidern kaum wieder.

Und so trinkt Miss Pettigrew zum ersten Mal ihr ganz unbekannte Spirituosen, lernt unerwartete Seiten an sich kennen, entwickelt einen starken Beschützerinstinkt gegenüber ihrer jungen neuen Freundin LaFosse und vor allem: Sie entwickelt einen ganz neuen Hunger auf Leben und nach den 24 Stunden ist für die beiden so unterschiedlichen Frauen nichts mehr so, wie es war.

Klingt das zunächst trivial? Klingt das nach einer Aschenputtel-Version? Ja, ist es. Aber gleichzeitig ist das Buch viel mehr: Es ist warmherzig und witzig; in den Dialogen erinnert es an die Screwball-Comedies der fünfziger und sechziger Jahre.

Guineveres klarer Blick auf sich selbst, ihre Angst vor dem endgültigen gesellschaftlichen Absturz, ihr bisher so freudloses und einsames Dasein werden in wenigen Strichen ganz und gar glaubwürdig gezeichnet.

Ihre erwachende Lebenslust, ihre geradezu kindliche Bereitschaft, sich auf neue Erfahrungen einzulassen, ihren strengen protestantischen Hintergrund hinter sich zu lassen, sind so positiv, so voller Lebensfreude und Abenteuerlust.

She gambolled after Miss LaFosse, natural colour deepening the artificial, eyes shining, breath excited. She was bound for adventure, the Spanish Main a night club. The very name filled her with a glorious sense of exhileration. What would her dear mother say if life came back to her body? To what depths of depravity her daughter was sinking? What did Miss Pettigrew care? Nothing. Freely, frankly, joyously, she acknowledged the fact. She was out for a wild night. She was out to paint the town red. She was out to taste another of Tony’s cocktails. She was a gentlewoman ranker out on the spree, and, oh shades of a monotonous past, would she spree! She was out to enjoy herself as she had never enjoyed herself before … (S. 167)

Kurzum, das Buch macht Spaß und am Ende sind – dank Miss Pettigrew – trotz Kokain, Nachtclubbesuchen und Liebeswirrungen Ordnung und Anstand wieder hergestellt.

Henrietta Twycross-Martin schreibt in ihrem Vorwort:

… what astonishes is the sheer fun, the light-heartedness and enchanting fantasy of an hour-by-hour plot that feels closer to a Fred Astaire film than anything else I can think of. Sophisticated and naive by turns, Miss Pettigrews lives for a Day is also charmingly daring…

Die Autorin Winifred Eileen Watson (1906-2002) hatte beim Schreiben – abgesehen von einer judenfeindlich-dämlichen Stelle – wohl einfach ein richtig gutes Händchen, denn sie gibt 2000 als über Neunzigjährige – als das Buch neu aufgelegt wurde – fröhlich zu:

„I didn’t know anyone like Miss Pettigrew. I just made it all up. I haven’t the faintest idea what governesses really do. I’ve never been to a nightclub and I certainly didn’t know anyone who took cocaine,” she says with a laugh. The dialogue, she insists, just came into her head as she was drying the dishes and she typed it out only after she had finished at the sink. (Anne Sebba)

Zum geschichtlichen Hintergrund

Miss Pettigrews Angst, ins Armenhaus zu müssen, ist ganz realistisch. Noch 1939 gab es ca. 100.000 Menschen, die in den inzwischen umbenannten Arbeitshäusern ihr Dasein fristeten. Die englischsprachige Wikipedia schreibt dazu:

The Local Government Act of 1929 gave local authorities the power to take over workhouse infirmaries as municipal hospitals, although outside London few did so.The workhouse system was abolished in the UK by the same Act on 1 April 1930, but many workhouses, renamed Public Assistance Institutions, continued under the control of local county councils. Even as late as the outbreak of the Second World War in 1939 there were still almost 100,000 people accommodated in the former workhouses, 5,629 of whom were children. It was not until the 1948 National Assistance Act that the last vestiges of the Poor Law disappeared, and with them the workhouses.

Sie gehörte zur Generation der sogenannten Superfluous Women, die aufgrund des zahlenmäßigen „Frauenüberschusses“ keinen Ehepartner fanden und deshalb ihren Lebensunterhalt selbst bestreiten mussten, obwohl sie darauf meist nicht vorbereitet waren. Ein Problem, das noch dadurch verstärkt wurde, dass mehr als 700.000 britische Männer im Ersten Weltkrieg gefallen waren.

… the imbalance of population in Britain was not a new phenomenon arising with World War One. The 1851 census showed that 30 per cent of English women aged 20 to 40 were unmarried. By the late 19th century, around a third of British women between the ages of 25 to 35 were unmarried, and census records show that an imbalance of men and women continued in the Edwardian years. (‘Surplus Women’: a legacy of World War One?)

Anmerkungen

Hier ein Text von Anne Sebba aus der Times 2000.

 Auf der Seite des Persephone Verlages sieht man u. a. das gelungene Cover, das das Gemälde Blondes and Brunettes von Charles Mozley zeigt, welches – wie auch die Illustrationen von Mary Thomson – aus dem Jahr 1938 stammt.

James Herriot: All Creatures Great and Small (1970)

They didn’t say anything about this in the books, I thought, as the snow blew in through the gaping doorway and settled on my naked back. I lay face down on the cobbled floor in a pool of nameless muck, my arm deep inside the straining cow, my feet scrabbling for a toe hold between the stones. I was stripped to the waist and the snow mingled with the dirt and the dried blood on my body. I could see nothing outside the circle of flickering light thrown by the smoky oil lamp which the farmer held over me.

Mit diesen Sätzen beginnt die Reihe um den britischen Tierarzt James Herriot, der im wahren Leben James Alfred Wight hieß.

Das hätte sich Wight (1916 – 1995) am Anfang wohl auch nicht träumen lassen, dass er unter dem Pseudonym James Herriot – Tierärzten war jegliche Eigenwerbung verboten, deshalb ein Pseudonym – mit seinen halb fiktiven Erinnerungen und Erlebnissen aus seinem Arbeitsleben einmal weltberühmt werden würde, die dann auch noch verfilmt wurden. Dabei hatte er zuvor jahrelang nach einem Verleger suchen müssen. Er begann erst mit 50 zu schreiben und trotz des Erfolges, der sich dann einstellte, hat er bis zu seiner regulären Pensionierung  in der gemeinsamen Praxis gearbeitet.

Durch einen Umweg bin ich wieder auf ihn aufmerksam geworden. Zwar hatte ich als Kind wie vermutlich viele andere die Verfilmungen gesehen, doch als ich Jahrzehnte später den ersten Band seiner Erinnerungen geschenkt bekam, wanderte der ungelesen ins Regal nach dem Motto: Irgendwann mal oder auch nicht. Nachdem ich dann eher zufällig über die englischen Originalfolgen der Fernsehserie „All Creatures Great and Small“ gestolpert bin, kramte ich das Buch wieder aus dem Regal.

Das war für mich der Beginn eines wochenlangen Abtauchens. Und die Folgebände mussten auch noch her. Da geht es dann leider nicht immer chronologisch weiter: Vieles wirkt lieblos zusammengestoppelt, so als seien Verlag und Autor vom Erfolg überrannt worden, dem dann rasch etwas nachgeworfen werden musste.

Der Leser, der Zuschauer lernt das Leben als Tierarzt in Yorkshire ab den vierziger Jahren kennen. Die Menschen lebten auf kleinen Farmen, arbeiteten hart und waren viel unmittelbarer von der Natur und dem Lauf der Jahreszeiten abhängig. Die Tierärzte sahen sich auf der einen Seite mit damals noch unheilbaren Tierseuchen konfrontiert, die dem einzelnen Bauern die gesamte Existenzgrundlage innerhalb von Tagen zertrümmern konnten, und auf der anderen Seite gab es allmählich Veränderungen und Fortschritte in der Tiermedizin. Die Arbeit als Tierarzt ist dabei keineswegs immer ungefährlich. Einmal wäre James auf dem Weg zu einem kranken Tier beinahe ums Leben gekommen, weil er im Schneesturm den Weg verloren hatte.

Die drei Kollegen, zunächst ohne weibliche Unterstützung, sieht man von der wunderbaren, immer leicht genervten Haushälterin Mrs Hall einmal ab, ergänzen einander auf Feinste: James‘ Chef Siegfried Farnon ist aufbrausend, unberechenbar und dabei gutherzig und großzügig, während sein jüngerer Bruder Tristan das Leben in vollen Zügen genießt, frühes Aufstehen verabscheut, sich wo immer möglich, der Arbeit entzieht und ein gutes Bier und weibliche Gesellschaft zu schätzen weiß. Am pflichtbewussten James bleibt dagegen mehr als einmal der Löwenanteil der unangenehmeren Arbeiten hängen und am Anfang hat er, der zugezogene Schotte, seine liebe Not mit den einheimischen Bauern, die ihn erst gar nicht recht ernstnehmen wollen, besonders wenn er mit so neumodischen Behandlungsmethoden um die Ecke kommt.

Und im Sprechzimmer tummeln sich bizarre Patienten und ihre manchmal noch bizarreren Herrchen und Frauchen. Aber spätestens bei den Fahrten über Land ist meist aller Ärger vergessen, wenn James sich an der herbschönen Landschaft Yorkshires erfreut.

Ich mag die Geschichten mit ihrem Witz und ihrer Situationskomik noch immer, wobei auch traurige und ernsthafte Ereignisse ihren Platz haben. Und natürlich findet James auch seine Herzdame. Kurzum: eine (fiktive) Welt, in der Anstand, Menschlichkeit und Freundschaft ganz wesentliche Bestandteile sind.

Für mich also Geschichten mit einem riesengroßen Entspannungsfaktor, bei denen es gleichermaßen um die Tiere wie um die Menschen mit all ihren Eigenheiten, Kümmernissen und Freuden geht.

Und im letzten Urlaub habe ich mir ein Loch in den Regenschirm gefreut, als ich in einem richtig schönen Secondhand-Bookshop den Bildband „James Herriot’s Yorkshire, with photographs by Derry Brabbs“ von 1979 entdeckt habe.

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Natürlich musste ich dann auch die Biografie seines Sohnes lesen: 1999 erschien The Real James Herriot: A Memoir of my Father von Jim Wight.

Das Buch des Sohnes über seinen erfolgreichen Vater liest sich interessant und durchaus erhellend, selbst wenn es an der ein oder anderen Stelle etwas verklärend geraten ist. Es ermöglicht den Vergleich zwischen Fiktion und dem Tatsächlichen, ohne dass dadurch der Charme und das Liebenswerte der Bücher von Alf Wight verloren gehen.

Ernüchternd war allerdings zu erfahren, dass das Verhältnis der drei Kollegen keineswegs immer so rein freundschaftlich war, wie es die Erzählungen von „James Herriot“ vermuten lassen. „Siegfried“ drohte als älterer Herr sogar mit dem Anwalt und der Beendigung der jahrzehntelangen Freundschaft, sollte Alf die Bücher veröffentlichen.

Für Wights Humor und seine Freundlichkeit findet man in dem Buch weitere schöne Beispiele: Meine Lieblingsstelle schildert, wie seine zukünftige Schwiegertochter ihm einen Entschuldigungsbrief schreibt, nachdem sie am Abend vorher auf der „first publication party“ die Auswirkungen des Alkohols unterschätzt und den Abend dann wohl überwiegend auf der Damentoilette verbracht hatte. Wight antwortet ihr ganz reizend:

My dear girl, I hasten to assure you that your feelings of remorse are entirely unnecessary and, in fact, there is something ludicrous in apologising to me, the veteran of a thousand untimely disappearances and as many black and hopeless dawns. I see you describe yourself as a ‘sordid little heap in the Ladies’. Well that’s a good description of me but for ‘Ladies’ read ‘Gents’ or ‘Friend’s back room’, or ‘Back seat of car’ or, in one case, ‘Corner of tennis court’.
Let me further assure you that your ‘awful behaviour’ was probably not even noticed by a roomful of people who had punished the champers for a couple of hours, then waded into the vino for a similar period. It remains rather a blur to me.
I dimly remember the two Michael Joseph men making rather incoherent speeches of thanks to which, they tell me, I made a slurring twelve-word reply. I honestly don’t remember and that goes for a very drunken Tristan and most of the others.
But I do remember meeting you right at the start and that was lovely.

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Das es dieses alte Schätzchen auf meinen Blog geschafft hat, ist die Schuld von Birgit, die auf ihrem ehemaligen Blog in ihrer Reihe #Verschämte Lektüren dazu aufgerufen hatte, im heimischen Buchregal auf die Suche nach “literarisch unterirdischen Werken“ zu gehen, „die man verschämt in der hintersten Ecke des Regals versteckt und von denen man sich dennoch nicht trennen mag“. Das fand ich zunächst wirklich schwierig, denn Bücher, die ich verschämt etwas diskreter lagere, gibt es nicht. Die Bücher, die ich mag, stehen sichtbar da, wo sie nach der Lesechronologie halt hingehören.

Also, was tun? Nach ein bisschen Grübelei bin ich doch noch fündig geworden. Es gibt so einen Leseschatz, von dem ich bisher wirklich niemanden überzeugen konnte. Literarisch „unterirdisch“ ist er zwar nicht, allerdings von den englischsprachigen Verlagen grottenschlecht betreut. Eigentlich ist es ein Dreiklang aus den Büchern, der Fernsehserie und einer wunderbaren Landschaft, der mich nach wie vor entzückt. Es geht natürlich um Den Doktor und das liebe Vieh.

Und: Liebe Birgit, das hat jetzt richtig Spaß gemacht. Nicht zuletzt auch wegen der herrlichen Kommentare, die sich inzwischen bei dir tummeln. Da kann man dann auch mitverfolgen, wie man von James Herriot zu Männern mit schönem Haar und zu John Boy von den Waltons kommt. Ganz zu schweigen von Winnetou, der durch die Lateinstunden ritt…

Einer meiner Favoriten kommt von Drittgedanke:

Jaaaa! 🙂 Ein Traum aus Tweed und Fünf-Uhr-Tee-Plüschigkeit. Endlich, endlich eine Gelegenheit um mich ganz un-verschämt zu outen: DEN hätte ich sofort geheiratet – damals, als Zehnjährige. (Jaja, die Episode mit dem Ehering habe auch ich gerade vor Augen…) Ich brauche sofort meinen Strick-Pollunder mit Zopfmuster – herrje, wo ist mein Strick-Pollunder?!

Mary Chase: Harvey (1944)

Diejenigen, denen der Name James Stewart noch etwas sagt, kennen das Theaterstück um den großen weißen Hasen Harvey wohl vor allem durch die Verfilmung (1950) mit Stewart, der mit weltverlorenem Charme den stets liebenswürdigen, möglicherweise verrückten Elwood P. Dowd verkörpert. Zu verdanken haben wir den Hasen Mary McDonough Coyle Chase. Die deutsche Fassung erschien unter dem Titel Mein Freund Harvey.

Für das Stück Harvey hat die Autorin 1945 den Pulitzer-Preis für Theater bekommen. Die Geschichte selbst ist rasch erzählt:

Veta Louise Simmons möchte ihren Bruder Elwood P. Dowd in ‚Chumley’s Rest‘, einem Sanatorium für Geisteskranke, einweisen lassen. Zwar lebt sie mit ihrer Tochter Myrtle May bei ihm, da er das elterliche Haus geerbt hat, aber die Tatsache, dass der 47-jährige Elwood konsequent behauptet, sein bester Freund sei ein fast zwei Meter großer weißer Hase namens Harvey, sorgt ständig für peinliche Situationen und macht soziale Kontakte schwierig.

Veta und die geldgierige Myrtle befürchten, dass Myrtle mit einem ‚verrückten‘ Onkel niemals einen Ehemann finden wird. Also soll er mit Hilfe des Anwalts der Familie ins Heim abgeschoben werden, obwohl Elwood herzensgut ist und sich im Laufe der Handlung die Hinweise mehren, dass Harvey womöglich doch existiert. Elwood bezeichnet ihn als Pooka, was im Stück erklärt wird:

From old Celtic mythology. A fairy spirit in animal form. Always very large. The pooka appears here and there, now and then, to this one and that one, at his own caprice. A wise but mis-chie-vi-ous creature. Very fond of rum-pots…

Martin Schulze bezeichnet in seiner Geschichte der amerikanischen Literatur von 1999 das Stück als unterhaltsame Komödie um einen gutmütigen, aber verrückten Trunkenbold. Das greift meines Erachtens aber zu kurz, und auch die Verwechslung innerhalb des Sanatoriums, bei der für kurze Zeit Veta für die Geisteskranke gehalten wird und gegen ihren Willen den ersten Wasseranwendungen unterzogen wird, hat durchaus auch dunkle Untertöne. Rabiat wird sie von einem Pfleger entkleidet, denn gilt man erst einmal als verrückt, hat man das Recht auf Würde und Selbstbestimmung verspielt.

Veta will zwar das Beste für ihre Tochter, aber aus Angst vor gesellschaftlicher Ächtung will sie jemanden einweisen lassen, der niemandem etwas zu Leide tut und im Gegenteil seinen Mitmenschen ausnahmslos freundlich und wohlwollend begegnet. Er freut sich wie ein Kind, Menschen kennenzulernen (am liebsten im Pub), bietet ihnen seine und Harveys Freundschaft an und er nimmt sich die Zeit, ihnen zuzuhören und ihnen Komplimente zu machen. Ein einziges Mal ist er ungehalten, und zwar, als er von Mr Wilson, einem Pfleger in Chumley’s Rest, körperlich bedroht wird:

Mr Wilson – haven’t you some old friends you can go and play with?

Als Krankenschwester Kelly Mr Dowd fragt, ob Doktor Sanderson das Fenster öffnen soll, weil es so warm sei, gibt Elwood die bezeichnende Antwort:

Well, that’s up to him, isn’t it? I wouldn’t presume to live his life for him.

Er ist von entwaffnender Unschuld und kann nur Gutes in seinen Mitmenschen sehen. Als er erfährt, dass seine eigene Schwester innerhalb eines Nachmittages alles getan und geregelt hat, um ihn einweisen zu lassen, ist er voll des Staunens:

And Veta did all that in one afternoon? My, she certainly is a whirlwind!

Dem leitenden Arzt verrät er sein Lebensmotto:

Doctor, when I was a little boy, my mother used to say to me, „Elwood“ – she always called me „Elwood“ – „as you go through life you must be either ‚oh, so smart,‘ or ‚oh, so pleasant.'“  For years – I was smart. I recommend pleasant. You may quote me.

Für mich ist das Stück (und die kongeniale Verfilmung) keineswegs eine triviale Komödie, die den braven Geschmack der fünfziger Jahre bedient, sondern vielmehr ein Märchen über unsere Sehnsucht nach grundloser Menschenfreundlichkeit, die selbst Argwohn, Missgunst und Eigennutz überwindet.