Alle Kritiker und Kritikerinnen sind voll des Lobes und ich stimme da umstandslos und ohne Umwege einfach mit ein. Sollte also jemand Kleine Probleme von Nele Pollatschek noch nicht kennen, so möge er – im Gegensatz zu Pollatscheks Hauptfigur Lars – nicht länger herumtrödeln und die Lektüre des Romans unverzüglich in Angriff nehmen.
Lars Messerschmitt ist 49 und lebt mit Johanna zusammen, die beiden haben zwei Kinder, Lina und Yannis. Johanna ist Lehrerin, allerdings für ein paar Monate in den Auslandschuldienst gewechselt, weil sie nicht weiß, ob sie ein Zusammenleben mit dem ewigen Prokrastinierer, Haushaltsmuffel und Möchtegern-Autor Lars noch länger aushält.
Es ist Lars, der uns in einem ununterbrochenen und ausgesprochen unterhaltsamen Gedankenstrom die Geschichte erzählt. Er ist der total verpeilte Typ, der, wenn es gut lief, seine Kinder zu irgendwelchen Terminen brachte, dann aber garantiert vergaß, sie auch wieder abzuholen. Er hofft seit Jahren (vergeblich) auf die Inspiration für sein Meisterwerk. Haushalt, Spülmaschine, Einkaufen und Saubermachen sind auch eher nicht so sein Ding, weil immer irgendetwas dazwischenkommt oder schlicht dagegen spricht. Dass er in seiner Lage als privilegierter Westeuropäer ohne existenzielle Sorgen da natürlich auf sehr hohem Niveau jammert, ist ihm bewusst, hilft ihm aber auch nicht weiter.
Wie beschissen ist es bitte, wenn einem alle Türen offenstehen und man trotzdem stehen bleibt. Wenn man keinen Grund dafür hat, so zu sein, aber man ist halt trotzdem so. Wenn alles einfach ist und einfach ist viel zu schwer. Das ist doch wirklich schlimm, grundlos scheitern ist doch wirklich scheitern, und dafür bemitleidet einen keiner. Ach, egal. (S. 20)
Alle behaupten immer, sie wollen einem helfen, aber einfach mal zur Handfeuerwaffe greifen, das will dann wieder keiner. Und dabei könnte es doch so einfach sein, wenn es nur viel schwerer wäre. Wenn es hart auf hart kommt, kann man alles schaffen, aber meistens kommt es weich auf weich, und da bleibt man besser liegen. (S. 63)
Seit einigen Monaten lebt er allein im Haus – Johanna im Ausland, Sohn Yannis ausgezogen und Tochter Lina im Schüleraustausch -, doch jetzt an Silvester will sich die gesamte Familie bei Yannis treffen und feiern. Eigentlich toll, gäbe es da nicht das kleine Problem, dass Lars in der letzten Woche des Jahres eigentlich seine To-do-Liste hätte abarbeiten wollen. Da er das natürlich auch wieder aufgeschoben hat, bleibt ihm jetzt nur noch der 31. Dezember, um alles zu erledigen. Denn er will Johanna nicht verlieren und er befürchtet, dass wenn er sich nicht endlich etwas Mühe gibt, sie vielleicht nicht mehr zu ihm zurückkommen wird.
Es war Freitag, der 31. Dezember, und ich musste noch was erledigen. Also alles. Und wenn ich das so schreibe, habe ich gleich Linas Papa, übertreib nicht immer so im Kopf und wie sie dann nachdrücklich nicht mit den Augen rollt, weil das pubertär sei, und mit sechzehn findet sich das Kind zu alt für pubertär. Ohne zu übertreiben, war es natürlich nicht wirklich alles, was ich noch erledigen musste. Ukraine zum Beispiel, eindeutig nicht meine Aufgabe. Geldpolitik des Europäischen Wirtschaftsraums. Kohleausstieg. Seenotrettung. Wobei Yannis sagen würde, das sei sehr wohl meine Aufgabe, weil es unser aller Aufgabe sei, und damit hat er irgendwie recht, wie man mit zwanzig immer irgendwie recht hat, aber halt nur irgendwie.
Also musste ich vielleicht nicht wirklich alles erledigen, aber eben doch alles, was nicht nur irgendwie meine Aufgabe war, sondern eben auch wirklich. Alles, was ich in dieser Woche nicht geschafft hatte, oder in diesem Monat, in diesem Winter, in diesem Jahr, in diesem ganzen verdammten Leben. In neunundvierzig Jahren sammelt sich eine ganze Menge alles an. (S. 13)
Hier sehen wir schon, wie Lars von Hölzchen auf Stöckchen kommt, witzig, sympathisch, vom Oberflächlichen zum Grundsätzlichen, vom Kleinen bis ins Unendliche und wieder zurück. Kein Wunder, dass er da – stellvertretend für uns – immer wieder an den alltäglichen Aufgaben scheitert bzw. sie alle auf morgen verschiebt.
Doch nun ist die Lage ernst und tapfer erstellt Lars eine Liste, die er bis um Mitternacht abgearbeitet haben will. Darauf stehen Dinge, wie ein IKEA-Bett für seine Tochter aufzubauen, das Haus putzen, die Steuererklärung (nein, nicht die vom letzten Jahr), Geschenke einpacken, Vater anrufen, das Feuerwerk einpacken und einen Nudelsalat machen (durchaus schwierig, wenn man die Zutaten dafür nicht eingekauft hat), die Regenrinne reinigen, sein Lebenswerk schreiben und last but not least „Es gut machen“.
Das klingt alles erst mal unspektakulär, aber bei Pollatschek wird das Abarbeiten dieser Liste zum ganz großen Kino. Die Überforderung, die der moderne Alltag für jemanden bedeuten kann, der lieber mit Sprache umgeht, diskutiert, die Sinnfrage stellt und der so furchtbar ungern öde Dinge tut, dann aber unter seinem eigenen Zaudern und Prokrastinieren leidet, spätestens wenn es einen die geliebte Frau kosten könnte.
Lars, konzentrier dich. Ich würde mich ja gerne konzentrieren, ich vergesse es nur immer. Eigentlich bräuchte man jemanden, der den ganzen Tag mit einer Klangschale hinter einem herläuft und einen immer, wenn man das Konzentrieren vergisst, lautstark daran erinnert. Dong. (S. 89)
Das ist so witzig, spannend und unfassbar sympathisch; ich würde sofort mit Lars ein Bierchen trinken gehen und seinem klugen, abgedrehten Sprachwitz lauschen. Und natürlich will ich wissen, wie er so mit seiner Liste zurande kommt.
Jedenfalls werde ich mich die nächste Zeit immer freuen, falls jemand Nudelsalat erwähnen sollte (Nachkochen nicht zu empfehlen). Gleichzeitig erkenne ich mich in ihm wieder und am liebsten hätte ich sofort auch alles erledigt, aufgeräumt, das Arbeitszimmer tipptopp und alle Schubladen und Schränke, alle Mails beantwortet und Sport und die Sinnfrage sowieso … ihr wisst schon.
ich muss mich noch bei allen melden, zu denen ich mal ich melde mich dann gesagt habe, ich muss noch aus der Kirche austreten, ich muss Gott finden, ich muss verdammt nochmal endlich den Müll runterbringen, ich muss noch herausfinden, warum mein Knie seit einigen Jahren so komisch klackert und ob der Schmerz in der Brust vielleicht doch nur Angina ist, ich muss den Kindern noch ein Erbe erarbeiten, die Regenrinne muss ich noch vom Vorjahresherbst befreien […], ich muss noch mein Lebenswerk verfassen. Die meisten meiner guten Taten muss ich noch vollbringen, ich muss noch schnell mein Potenzial ausschöpfen, […] ich muss so vieles noch erledigen, Dringendes, Unangenehmes, eigentlich Schönes, ein paar Lappalien, sehr viel Entscheidendes, diesen ganzen Kram, dieses ganze Alles, dieses einzige Leben. Ich habe es noch nicht mal richtig angefangen, und es ist doch schon so spät. (S. 14/15)
Ich könnte mich jetzt schon wieder in diesem Buch mit dem so schön geprägten Schutzumschlag festlesen.
und eh man es sich versieht, sieht man, wenn man jetzt tatsächlich hinsähe, dann müsste man das ganze Leben aufräumen. Also sieht man besser nicht hin. Und die Welt denkt dann vielleicht, man sei faul, dabei ist man den ganzen Tag schwer damit beschäftigt, nicht hinzusehen. Und das wissen die wenigsten, wie anstrengend es ist, nicht hinzusehen … (S. 53)
Hier geht es lang zu einem Interview mit der Autorin in der ARD Audiothek.
Und wer dann immer noch Lust auf To-do-Listen und Leben-Aufräumen hat, dem sei das Buch The To-Do List von Mike Gayle von 2009 empfohlen.