Peter Hunt: Die Erfindung von Alice im Wunderland – Wie alles begann (OA 2020)

Schon 1932, als sich der Geburtstag des Erfinders der Alice-Bücher zum hundertsten Male jährte, stöhnte Gilbert K. Chesterton, dass die Alice-Bücher von Lewis Carroll, inzwischen von Kritikern und Gelehrten übernommen, vereinnahmt, befragt, gedeutet und auseindergenommen wurden.

Poor, poor, little Alice […] she has not only been caught and made to do lessons; she has been forced to inflict lessons on others. Alice is now not only a schoolgirl but a schoolmistress. The holiday is over and Dodgson is again a don. There will be lots and lots of examination papers, with questions like: (1) What do you know of the following; mimsy, gimble, haddocks‘ eyes, treacle-wells, beautiful soup? (2) Record all the moves in the chess game in Through the Looking-Glass, and give diagram. […] Distinguish between Tweedledum and Tweededee. (The Annotated Alice; hrsg. von Martin Gardner, erweiterte Ausgabe von Mark Burstein, 2015, W. W. Norton & Company, New York, S. xiii)

Das hat Peter Hunt (*1945), emeritierter Professor für Kinderliteratur, nicht davon abgehalten, der inzwischen unüberschaubaren Menge an Büchern und Artikeln ein weiteres unterhaltsames und informatives Werk hinzufügen. Es wurde – übersetzt von Gisella M. Vorderobermeier – 2021 von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft unter dem Titel Die Erfindung von Alice im Wunderland – Wie alles begann veröffentlicht.

An dieser Stelle meinen herzlichen Dank für die Bereitstellung eines Besprechungsexemplars!

Die Bücher Charles Lutwidge Dodgsons (1832 – 1898) werden hier sozusagen vom Kopf auf die Füße gestellt.

Im Dezember 1865 brachte der Londoner Verleger Macmillan das Buch eines 33-jährigen Mathematikdozenten aus Oxford, Charles Dodgson, heraus. Es war zu einer gewissen Verzögerung gekommen, da die Qualität seines ersten Drucks, für den Dodgson selbst aufgekommen war – was ihn fast ein Jahresgehalt gekostet hatte -, nicht seinen peniblen Ansprüchen genügte. Es war ein Kinderbuch, aber ein eher eigenartiges, denn es war vom seinerzeit berühmtesten Illustrator und Satiriker, John Tenniel, illustriert, und seltsamer noch: Es unterschied sich von fast jedem bisher erschienenen Kinderbuch darin, dass dahinter keine moralische Aussage zu stehen schien. (S. 9)

Hunt unternimmt hier den Versuch, uns wesentliche Erkenntnisse der über hundertfünfzigjährigen Auseinandersetzung mit Carrolls Werk in knapp über 100 kurzweiligen Seiten nahezubringen, die mit Informationen vollgepackt sind. Davon nimmt die großzügige Bebilderung ungefähr die Hälfte der Seiten ein.

Der Autor möchte die „verschiedenen Schichten von Ideen“ untersuchen, die bei der Entstehung der Bücher eine Rolle spielten: Das ist für Hunt zum einen die Welt Oxfords, die seine jungen Leserinnen wiedererkannt haben werden, samt vieler Bezugnahmen auf die familiäre Konstellation der realen Alice Liddell.

Des Weiteren fließen die Welt der Politik und der Wissenschaft samt ihrer damaligen Scharmützel (z. B. zur Evolutionstheorie) ein. Und schließlich wäre da noch die „private Welt in Charles Dodgsons Kopf“, die sich u. a. aus Freude an Schach, Theaterleidenschaft, Büchern, Besuchen in London, Lust an Symbolen, purem Nonsens und mathematischen Zahlenspielen zusammensetzt.

Daneben geht es aber auch um die Stellung, die die Alice-Bücher in der Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur haben, waren sie doch – ganz im Gegensatz zur sonstigen zeitgenössischen Literatur für Kinder – frei von jeglichem Moralisieren und erhobenem Zeigefinger. Zudem widmet sich Hunt den kulturellen, musikalischen und literarischen Anspielungen und Persiflagen, die die (erwachsenen) Zeitgenossen Carrolls sofort erkennen und entschlüsseln konnten.

In einem weiteren Kapitel wird nachgezeichnet, wie aus den handschriftlichen Notizen eines Sommertages ein weltweit gelesener Klassiker wurde.

Das ist auf so knapp bemessenem Raum nur möglich, weil Hunt alle vier Alice-Bücher nicht chronologisch, sondern aus verschiedenen Blickwinkeln gleichzeitig betrachtet.

Doch noch einmal zurück zum Urknall dieses literarischen Universums:  Am 4. Juli 1862 unternahmen zwei junge Dozenten, Charles Dodgson (29) und sein Freund Robinson Duckworth (27)

mit dreien der Töchter des Dekans von Christ Church, Henry Liddell, – Lorina (13), Alice (10) und Edith (8) – einen Bootsausflug. Daran ist nichts Ungewöhnliches: Tatsächlich ist es eine Art Mode – und taktisch vermutlich nicht unklug –  unter jungen Dozenten, die Töchter ihrer älteren Kollegen zu solchen Ausflügen mitzunehmen. (S. 17)

Um der kleinen Gesellschaft die Zeit zu vertreiben, erzählt Carroll eine Geschichte, die sich Alice im Nachhinein als Abschrift erbittet. So entsteht die handschriftliche Version Alice’s Adventures Under Ground, die Carroll „seiner kindlichen Freundin Alice Liddell“, der Tochter des Dekans, zueignete.

In den Erinnerungen der Beteiligten Jahre und Jahrzehnte später hat der Ausflug an einem paradiesisch schönen Sommertag stattgefunden. Allerdings war – das kann man überprüfen – das Wetter an diesem Tage regnerisch und eher ungemütlich.

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Von der handschriftlichen Version ausgehend entstand die dann publizierte Version Alice’s Adventures in Wonderland (1865). Es ist anzunehmen, dass in Wonderland mehrere bereits bei anderen Gelegenheiten erzählte Geschichten einflossen. Sechs Jahre später erschien Through the Looking Glass (1871). Und zu guter Letzt gab es die gekürzte Version für jüngere Kinder The Nursery Alice (1889/1890).

Ein wichtiger Aspekt ist Carrolls Freude am Spott, an Ironie. Ständig werden in seinen Werken die Texte zeitgenössischer Lieder, Gedichte und moralisierender Kinderbücher veralbert, umgetextet und persifliert. Auch Zeitgenossen und Kollegen waren nicht davor gefeit, sich plötzlich verfremdet in den Alice-Büchern wiederzufinden. Man mutmaßt sogar, dass Tenniels Zeichnung des großen Welpen aus Alice in Wonderland eine Anpielung auf Charles Darwin sein sollte.

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Nicht vergessen werden darf dabei natürlich Carrolls Liebe zum neuen Medium der Fotografie. Seine Ausrüstung wurde zunehmend professioneller und in seinem Portfolio befanden sich viele Aufnahmen berühmter Zeitgenossen.

Er hatte viele weitere ‚kindliche Freundinnen‘, gab es aber 1880 auf, sie  – oder jemanden sonst – zu fotografieren, teilweise wegen unziemlicher Gerüchte. (S. 110)

Was Hunt nicht explizit nennt, es handelte sich dabei häufig um Nacktaufnahmen junger Mädchen, gern im Alter von ca. sechs Jahren (siehe dazu auch die Abschnitte in Wikipedia unter dem Stichwort Der Fotograf und die Mädchen bzw. Sexual Preferences). Sie verkörperten für ihn Unschuld und vollkommene Schönheit. Carroll war immer darauf aus, die Bekanntschaft junger Mädchen zu machen, und auf Bahnfahrten beispielsweise hatte er immer Spiele dabei, um einen Anknüpfungspunkt zu haben. Jungen hingegen verabscheute er.

Abschließend lässt sich sagen, dass Peter Hunts Streifzug durch die Alice-Bücher informativ und unterhaltsam ist. Dazu ist sein Buch ein Augenschmaus, mit 20 Illustrationen von Tenniel, vielen weiteren Bildern und zeitgenössischen Fotografien. Eine Einladung für alle, die sich auf Spurensuche zu zweien der bekanntesten Kinderbücher der Welt begeben wollen, ohne sich dabei in allzu langen Bibliotheksgängen zu verlaufen.

Gleichwohl eignet sich das Buch nicht unbedingt als Parallellektüre zu den Werken, da Hunt ständig zwischen den Zeiten und den einzelnen Alice-Büchern hin und her springt. Muss es für die Zeitgenossen faszinierend gewesen sein, all die Anspielungen auf reale Orte, Lieder und Texte zu entschlüsseln, ist dieses Vergnügen für die heutige Leserschaft nur noch second-hand über die Erklärungen bewanderter Literaturexperten nachzuvollziehen. Und da wäre es für die LeserInnen möglicherweise hilfreicher, wenn diese Erklärungen dem jeweiligen Alice-Buch zugeordnet worden wären.

Dem leidigen Thema, wie denn nun die „Freundschaft“ eines erwachsenen Mannes zu einer Zehnjährigen oder überhaupt zu kleinen Mädchen zu bewerten sei, geht Hunt weiträumig aus dem Weg. Er wolle eben nicht „gefährlich nahe an halbseidenen Spekulationen über Dodgsons Privatleben entlangsegeln“. (S. 93) Wer wissen möchte, was dazu bekannt ist, sei beispielsweise auf Martin Gardner (siehe unten) hingewiesen.

Was ich vermisst habe, waren Hinweise darauf, wie sehr einzelne Figuren und sprachliche Wendungen aus den Alice-Büchern in die englische Kultur eingegangen sind. Wie selbstverständlich wird davon gesprochen, dass jemand „mad as a hatter“ sei oder sich im „rabbit hole“ der gerade angesagten Verschwörungstheorien verlaufen habe.

Interessant ist Hunts Lesweise der Bücher, deren Rezeption immer auch vom Leser abhänge, aber allemal: Dieses nach-darwin’sche gottlose Universum sei

eine Welt, in der nur der Stärkste überlebt: Alles ist instabil und bedrohlich; fromme Verse erhalten eine grausame Wendung und Alice überlebt nicht durch Verstand oder Souveränität, sondern durch ihr passiv-aggessives Verhalten. Was vielen als ein liberales, befreiendes Bild der Kindheit erschienen ist (und noch erscheint), ist in Wirklichkeit ein Alptraum aus der Zeit nach Darwin. Möglicherweise ist die Tatsache, dass letztlich alles nur ein Traum ist, kein Mangel an feministischer Courage auf Seiten von Dodgson und kein Eingeständnis der Realitäten in Bezug auf die Stellung eines Mädchens in der Gesellschaft, sondern Ausdruck einer verzweifelten Hoffnung, dass sich die Dinge n i c h t ändern mögen. (S. 82)

Wer sich hingegen eine konkrete Lesebegleitung, Seite für Seite, Kapitel für Kapitel wünscht, dem würde ich doch eher zu dem Ziegelstein von Martin Gardner raten, The Annotated Alice, 150th Anniversary Deluxe Edition (2015). Füchterlich unhandlich und schwer, wie all diese wunderbaren kommentierten und illustrierten Ausgaben der W. W. Norton & Company. Aber da bleibt dann wirklich keine Frage offen.