Mariana Leky: Kummer aller Art (2022)

Da mich die Drolligkeit samt Okapi in Mariana Lekys Bestseller Was man von hier aus sehen kann (2017) eher verschreckt hatte, war ich zunächst skeptisch ob all der begeisterten Stimmen zu ihrem neuesten Buch.

Doch was soll ich sagen: Nachdem ich Lekys gesammelte und bearbeitete Kolumnen aus Psychologie Heute, die jetzt unter dem Titel Kummer aller Art erschienen sind, gelesen habe, gelobe ich, auch alle eventuellen Folgebände unverzüglich anzuschaffen und zu lesen.

Hier werden unsere alltäglichen Kümmernisse und Freuden in kurzen Geschichten liebevoll aufgefächert, wir haben Flugangst, der Nachbar ist ein Scheusal, der geliebte Onkel wird irgendwann sterben. Aber – selten genug –  kann es auch passieren, dass wir plötzlich jemanden treffen, von dem wir gar nicht wussten, dass wir schon immer nach ihm gesucht haben, und dann denken wir:

‚Da bist du ja wieder‘ (S. 157)

Weitere Kümmernisse, die mit Lekys Buch ein wenig kleiner werden: Wir haben eine mittelprächtige Phobie, der Teenager hat den ersten weltgroßen Liebeskummer oder wir fragen uns, was wohl ein verpasstes Leben sein könnte. Manchmal können wir auch einfach nicht einschlafen und die richtigen Antworten auf Grobheiten und Unhöflichkeit fallen uns natürlich erst Stunden oder Tage später ein.

Die unangenehmste Phase [der schlaflosen Nächte], auch da sind sich Frau Wiese und ich einig, ist die, in der die Sorgen zuschlagen. Sorgen haben in durchwachten Nächten bekanntlich sehr, sehr leichtes Spiel, wie Halbstarke, die auf dem Schulhof einen Erstklässler vermöbeln. Bei Übermüdung kommt einem die Verhältnismäßigkeit abhanden: Alles ist plötzlich gleich furchtbar, die Weltlage genauso wie die unbeglichene Rechnung der GEZ. (S. 17)

In den Texten begegnen uns Menschen, die uns lieb und wert werden, wie Onkel Ulrich, ehemals Psychoanalytiker und Onkel der Ich-Erzählerin. Die reizenden Nachbarn Frau Wiese oder Herr Pohl mit seiner ständig zitternden Zwergpinschermischung Lori. Überhaupt tummeln sich im Familienkreis der Erzählerin so einige Psychologen und Therapeut*innen.

Als ich ein Kind war, sind wir oft mit dem Auto in den Urlaub gefahren. Wenn mein Bruder und ich auf dem Rücksitz zu quengeln anfingen und meine Eltern die ewigen Benjamin-Blümchen-Kassetten nicht mehr hören konnten, sagte mein Vater oft: ‚Macht einfach die Augen zu und unterhaltet euch mit Bruder Innerlich.‘ Wir hatten keine Ahnung, wer Bruder Innerlich war, aber wir hatten sehr guten Kontakt zu ihm. (S. 19)

Der ein oder die andere Leserin mag die Geschichten möglicherweise als zu harmlos und betulich empfunden haben; Themen wie Gewalt, Krieg, Armut oder Menschenfeindlichkeit spielen hier allesamt keine Rolle. Doch es darf auch mal eine Nummer kleiner sein. Denn Leky schreibt so wunderbar emphatisch, freundlich, witzig, liebevoll, tröstlich und mit wunderschön schrägen Bildern, dass ich drohe, komplett im Kitsch zu versinken, wenn ich hier auch nur einen Satz mehr schreibe.

In der Ruhe liegt die Kraft, da liegt sie momentan nicht besonders günstig, denn die Ruhe habe ich offenbar zu Hause gelassen, deshalb habe ich auf die darin befindliche Kraft keinen Zugriff. (S. 69)

Aus aktuellem Anlass hier ein letztes Zitat:

Er [Onkel Ulrich] erzählt, dass früher, als er noch Psychoanalytiker war, die Friseurbesuche seiner Patientinnen oft mindestens eine Therapiesitzung in Anspruch nahmen. […] Für Frauen, erzählte Ulrich, spiele sich beim Friseur mitunter das Drama ihres Lebens nach. Man hat dem Friseur genau gesagt, wie man sein Haar haben möchte, aber er hat nicht zugehört oder einen nicht verstanden und hat einem etwas ganz anderes  an den Kopf geschnitten, und dann läuft man unverstanden und entstellt und wie mit Pech begossen nach Hause. (S. 59)

Das Fazit von Annemarie Stoltenberg auf NDR:

Das alles ohne Kitsch, liebenswürdig, fragil. Mariana Leky hat die Gabe, uns zu vermitteln, wie es gelingen kann, jeden Menschen so wahrzunehmen, wie er ist, ohne Besserwisserei, ohne „Ich würde doch nie“-Gemurmel. Das ist schön.

Stephen Grosz: The Examined Life – How We Lose and Find Ourselves (2013)

Ich mag das, wenn sich für mich Fäden zwischen Büchern entwickeln, die auf den ersten Blick überhaupt nichts miteinander zu tun haben. Das ging mir so mit der Novelle Leutnant Burda (1887) von Ferdinand von Saar aus der Sammlung Requiem der Liebe und andere Novellen und den modernen Fallgeschichten des amerikanischen Psychoanalytikers Stephen Grosz, der schon lange in London lebt und arbeitet.

Leutnant Burda war eine der Erzählungen von Ferdinand von Saar, die mir besonders gefallen hatten. Ihr Inhalt sei hier kurz umrissen:

Der fast 30-jährige, gut aussehende, korrekte und beliebte Offizier Joseph Burda hält sehr auf seine äußere Erscheinung und sich, was seine Wirkung auf die Damenwelt angeht, für unwiderstehlich.

Für ihn und seine Heiratspläne beginnt das „weibliche Geschlecht erst bei der Baronesse“ (S. 282), das ist – abgesehen von der Arroganz dieser Haltung – auch insofern ein Problem, da er selbst aus sehr einfachen Verhältnissen kommt. Burda lässt allerdings Nachforschungen anstellen, um nachzuweisen, der Nachfahre eines altes Adelshauses zu sein. Doch diese Hoffnungen werden sich als Luftgespinste erweisen.

Das alles hindert ihn nicht, sein Augenmerk auf eine Tochter eines der wichtigsten Fürsten am Wiener Hof zu richten. Er schickt ihr Gedichte, Blumen und beobachtet sie im Theater, interpretiert die Wahl ihrer Kleiderfarbe in seinem Sinn und deutet überhaupt alles, was er aus der Ferne von ihr sieht, hört und erfährt, als Zeichen ihrer Neigung. Ein zufälliges Vorbeifahren ihrer Kutsche ist damit quasi schon ein Versprechen auf ihre unverbrüchliche Treue.

Es war erstaunlich, wie Burda sich alles und jedes zurechtlegte. Und in der Tat, wenn er sich hinsichtlich der Gefühle, die er der Prinzessin zumutete, nicht einer vollständigen Täuschung hingab, so erschienen seine Hoffnungen, so abenteuerlich sich diese ausnahmen, nicht ohne einen gewissen Haltpunkt. (S. 303)

Weder seine Freunde noch Abgesandte des Fürsten, die ihn auffordern, sein unziemliches und lästiges Betragen einzustellen, können ihn von seiner Wahnvorstellung, dass die Prinzessin ihm gewogen sei, heilen.

Und nun zu The Examined Life – How We Lose and Find Ourselves des Psychoanalytikers Stephen Grosz (*1952), der immer wieder auch literarische Figuren zur Illustration heranzieht: Seine 31 verdichteten Fallgeschichten aus seiner über 25-jährigen Arbeit als Therapeut wurden zu einem Bestseller und inzwischen in zahlreiche Sprachen übersetzt. Die deutsche Übertragung von Bernhard Robben erschien unter dem dämlichen Titel Die Frau, die nicht lieben wollte. 

Es geht um die Horrorszenarien, die wir uns so lebhaft ausmalen, um Ehefrauen, die sich die Untreue ihres Mannes nicht eingestehen können, um Rache, traurige Kinder und die Verdrängung nicht eingestandener Persönlichkeitsanteile, die wir dann umso rabiater bei anderen bekämpfen. Aber auch ein spätes Coming-Out sowie die langen Schatten, die unsere Kindheit auf unser erwachsenes Leben werfen kann, kommen zur Sprache oder eben – wie bei Joseph Burda – eine Form des Liebeswahns.

Grosz bezeichnet ein solches Verhalten in seinem Buch als lovesickness. Er meint damit eine auf eine andere Person gerichtete irreale Wunschvorstellung, die beispielsweise eine Frau jahrelang trotz aller anderslautenden Beweise hoffen lässt, dass sich ihr verheirateter Geliebter für sie von seiner Ehefrau trennen wird.

Dieses Kapitel How lovesickness keeps us from love zeigt exemplarisch, wie der Autor vorgeht. Er stellt sich nie über seine Klient*innen, gesteht eigenes berufliches Scheitern ein, ist unglaublich interessiert an seinen Mitmenschen und hilft geduldig, mit freundlicher Empathie und entsprechendem Sachverstand den Ursachen der jeweiligen Verhaltensweise auf den Grund zu kommen. Hier zeigt er auf, welche Konsequenzen solch eine lovesickness mit sich bringt und welche Erkenntnisschritte, welcher Schmerz ausgehalten werden müssen, damit Heilung geschehen kann.

Most of us have come down with a case of lovesickness at one time or another, suffering its fever to a greater or lesser degree. […] When we are lovesick, we feel that our emotional boundaries, the walls between us and the object of our desire, have fallen away. We feel a weighty physical longing, an ache. We believe that we are in love. (S. 110)

Doch auch das Kapitel um unsere Unwilligkeit, einen kleinen Verlust zu akzeptieren, um einer größeren Gefahr zu entgehen, illustriert anhand der Erfahrungen von Marissa Panigrosso, einer der Überlebenden des Anschlags am 11. September 2001, fand ich sehr eindrücklich. Panigrosso flüchtete sofort, nachdem klar war, dass etwas passiert war, mit dem (vorletzten) und ansonsten menschenleeren Fahrstuhl in einem der Twin Tower nach unten und brachte sich damit in Sicherheit. Andere folgten den Lautsprecheransagen, stiegen aufs Dach oder rannten zurück, um noch etwas aus ihrem Schreibtisch zu holen oder taten – gar nichts.

We don‘t want an exit if we don‘t know exactly where it is going to take us, even – or perhaps especially – in an emergency. (S. 123)

In verschiedenen Interviews erklärt Grosz, was ihn zu diesem Buch motiviert hat. Zum einen sei er erst sehr spät Vater geworden und möchte seinen Kindern etwas von seiner Sicht auf die Welt mitgeben, da man nie wissen könne, wie lange er noch Zeit mit ihnen verbringen kann. Zweitens hält er Geschichten für eine viel sinnvollere Art, Erfahrungen und Einsichten aus seiner Arbeit weiterzugeben, als rein wissenschaftliche Berichte oder gar statistische Angaben. Außerdem ist ihm bewusst:

Also, psychoanalysis requires time and money, and many people won’t be able to afford it. I wanted to set down some of the important things I’ve learned in a way that may be helpful to those who are unable to have psychoanalysis or therapy.

Was könnte die Leserin, der Leser also von diesem Buch lernen?

The first […] is that change involves loss. In fact, all change involves loss, and yet life itself is change – we are always giving up something for something else. And the point is that we lose ourselves when we try to deny those changes, when we deny that life entails loss. […]

Thereafter we mend ourselves, Grosz believes, „by repairing our relationship with the lost, by acknowledging that these were losses. We can find ourselves by facing truths about our lives and about these losses, by facing the truth about how our relationships with people really are, not how we’d like them to be.“ In other words, by truly telling our stories.

Hier geht es lang zu einem Interview mit Stephen Grosz.

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Ferdinand von Saar: Requiem der Liebe und andere Novellen (1958)

Wie das so ist, da laufen einem Bücher zu und Jahre später weiß man nicht mehr, wie, woher, wann und wozu. So ging es mir auch mit der antiquarischen Ausgabe der Novellensammlung Requiem der Liebe und andere Novellen des österreichischen Dichters Ferdinand von Saar, die ich jetzt endlich mal aus dem Regal gefischt habe. Die dreizehn Erzählungen dieses Bandes erschienen ursprünglich zwischen 1865 und 1905. 

Hatte ich zunächst einfach Lust auf „alte“ Literatur und eine entsprechende Sprache, war ich zunehmend gefesselt von der Frage, welches Ehe- und Frauenbild eigentlich in diesen Novellen vermittelt wird, die oft aus der Sicht eines männlichen Ich-Erzählers überliefert werden. So viel vorweg: Glücklich wird hier kaum jemand. Es wird entsagt, gemordet, geeifert, gesehnt und  fröhlich den eigenen Illusionen hinterhergerannt. Auch die Gesellschaft selbst ist dem Glück des einzelnen nicht gewogen. Ganz im Gegenteil.

Als ich um die Kirche bog, die gleichfalls geschlossen war, hatte ich den Friedhof voll schattender Weiden und Lebensbäume zur Seite. […] Ein einsamer Falter flatterte mir still über den Blumen voran, während ich hier und dort die Inschriften und Namen auf den schlichten Kreuzen las. Unter den Monumenten, deren es hier nur wenige gab, zog mich eines durch edle und ergreifende Einfachheit besonders an. Es war ein kleiner Obelisk aus weißem Marmor und stand, etwas abseits von den übrigen, unter einer breitästigen Tränenweide. Die Inschrift war in römischen Lettern, deren Vergoldung schon etwas gelitten hatte, eingehauen und lautete: Friederike Friedheim, geb. 16ten Januar 1829, gest. 30ten Mai 1846. Vor diesem Grabe stand ich lange. Wer war dieses Mädchen, das der Tod so früh gebrochen, das man vor mehr als einem Jahrzehnt hier bestattet hatte? Lebte ihr Angedenken fort im Herzen trauernder Eltern, im Geiste eines Mannes, dessen Jünglingsideal sie gewesen? Oder war sie verweht wie ein Duft, ein Klang im Gewühl und im Lärm des rastlos vorwärts drängenden Lebens, und nannte nurmehr der Marmor ihren Namen? (aus: Innocens, S. 67/68)

Immer dann, wenn ich schon mit den Augen rollen wollte angesichts scheinbar nicht hinterfragtem Chauvinismus und einengenden Frauenbildern, schafft es von Saar mit einer kleinen, aber wichtigen Wendung, manchmal sogar nur wenigen Worten der Geschichte eine ganz neue Bedeutungs- und Deutungsebene zu geben, die plötzlich Brücken in unsere Gegenwart schlägt und männliche Überheblichkeit und Illusionen entlarvt. Und Männer, die glauben, dass die Ehefrauen ihnen „gehören“ und keinen anderen „anzuschauen“ haben, gibt es schließlich heute wie damals.

Also, sehr gern gelesen; hier bekommt man nichts fertig serviert, sondern wird vermutlich auch beim zweiten Lesen noch Neues entdecken. Zumal die Erzählungen oft in die zeitgeschichtlichen Bedingungen eingebettet sind. Eine Novelle spielt beispielsweise unter den Steineklopfern, die das Material für eine neue Straße brechen, und unwillkürlich ist man bei Brechts Fragen eines lesenden Arbeiters.

Sowohl Werkinterpretationen als auch die biografischen Angaben, die man im Internet zu dem Wiener Offizier Ferdinand von Saar (1833-1906) findet, sind erstaunlich dürftig; eine Biografie aus dem Jahr 1947 stammt von Marianne Lukas und Ein Poet aus Österreich. Ferdinand von Saar. Leben und Werk von Herbert Klauser erschien 1990. Und das, obwohl nicht nur Wien Geschichte Wiki, sondern auch die deutschsprachige Wikipedia seinen Rang als Erzähler betont, ja, ihn in seiner Bedeutung mit Ebner-Eschenbach vergleicht:

Er war einer der namhaftesten realistischen Erzähler an der Wende zum 20. Jahrhundert, ein Poet von feinster Stimmung und ein Meister novellistischer Technik. Er schilderte die k. u. k. Armee, die Wiener Gesellschaft und die Verfallserscheinungen der alten Monarchie mit psychologischem Scharfsinn. Seine von tiefer Menschlichkeit zeugenden Erzählungen sind meist autobiographisch getönt und stehen dem Stil des Wiener Impressionismus nahe.

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Gastbeitrag: Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): Deutsche Erzähler des 20. Jahrhunderts von Joseph Roth bis Hermann Burger (1994)

Klaus liest gern Erzählungen und genau darum soll es heute gehen:

Zu den Anthologien, die MRR herausgegeben hat, gehört auch ein ausführlicher Kanon deutscher Erzähler. 31 Erzählungen enthält dieser sehr schön gestaltete Band, der im Manesse Verlag erschienen ist. Wer sich einen ersten Überblick über den Reichtum guter Erzählungen verschaffen möchte, ist mit diesem und dem Vorgängerband gut beraten.

Nach eigenen Worten fühlte sich MRR ausschließlich dem Gedanken verpflichtet, literarische Qualität zwischen zwei Buchdeckeln versammelt zu wissen. Wer genau hinsieht, kann erkennen, dass es auch um eine Textauswahl geht, die sich dem besonderen Blickwinkel des Herausgebers auf die deutsche Geschichte verpflichtet fühlt. Dagegen ist grundsätzlich nichts einzuwenden. Allerdings erscheint mir dieser besondere Blickwinkel als ein weiteres Entscheidungskriterium, das zur Textauswahl beigetragen hat.

Ich habe auch nicht sämtliche Erzählungen mit gleich hohem Interesse gelesen. Hermann Burgers „Der Orchesterdiener“ erscheint mir augenblicklich einfach zu langatmig. Martin Walsers „Selbstportrait als Kriminalroman“ hat mich ebenfalls in der falschen Lesestimmung angetroffen und daher keinen bleibenden Eindruck hinterlassen.

Aber es gibt neben lieben Bekannten auch ein paar nette Entdeckungen. Kannte ich bislang Gabriele Wohmann? Ihre Geschichte Sonntag bei den Kreisands hat mich unterhalten und in gewisser Weise bewegt. Die Kreisands sind ein eingespieltes Ehepaar, gut situiert, Teilnehmer am deutschen Wirtschaftswunder.

Es beginnt ganz unschuldig:

Wieder einer dieser gemütlichen Sonntage bei den Kreisands. Frau Kreisand sagt: harmonisch.

Und schon rollt man hinein in das verkümmerte Seelenleben zweier Menschen, die alles haben und doch nichts. Artur nennt seine Frau gern Milli und denkt dabei heimlich an eine verflossene Geliebte. Elisabeth lässt sich lieber von Artur im nagelneuen Auto kutschieren statt ihre Freundin zu Besuch zu haben.

Den Eltern wird ein versprochener gemeinsamer Urlaub auf perfide Art wieder abgesagt und wie zum Dank bekommen sie eine eklige Skulptur geschenkt und eine Flasche guten Wein entwendet.

Die Kreisands interessieren sich gerade so für sich selber, aber nicht füreinander und erst recht nicht für Dritte außerhalb dieser Lebenszweckgemeinschaft. Die Kreisands, das sind zwei Meteoriten, zufällig beim Urknall auf die gleiche Umlaufbahn geschleudert.

Zeile für Zeile spitzt Wohmann diese widerlichen Charaktere zu. Ich fühlte mich beim Lesen körperlich regelrecht unwohl. Tolle Erzählkunst, die mir Blicke nach Innen und Außen ermöglicht. Und am Ende der Erzählung ist man erleichtert, beinahe glücklich, andere Freunde zu haben als die Kreisands! Von Gabriele Wohmann werde ich sicher noch mehr lesen als nur die Kreisands. Und das ist doch mit das Beste, was eine Anthologie erreichen kann: das Weiterlesen.

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Kathrine Kressmann Taylor: Address unknown (1938)

Schulse-Eisenstein Galleries, San Francisco, California, U.S.A.

November 12, 1932

Herrn Martin Schulse Schloss Rantzenburg Munich, Germany

MY DEAR MARTIN:
Back in Germany! How I envy you! Although I have not seen it since my school days, the spell of Unter den Linden is still strong upon me – the breadth of intellectual freedom, the discussions, the music, the lighthearted comradeship. And now the old Junker spirit, the Prussian arrogance and militarism are gone. You go to a democratic Germany, a land with a deep culture and the beginnings of a fine political freedom. It will be a good life. Your new address is impressive and I rejoice that the crossing was so pleasant for Elsa and the young sprouts.

Mit diesen Sätzen beginnt das schmale Werk Address unknown (1938), das auf Deutsch erst 2001 unter dem Titel Adressat unbekannt erschien.

Die Geschichte spielt von 1932 bis 1934 und besteht aus einem (fiktiven) Briefwechsel zwischen einem jüdischen, inzwischen in Amerika lebenden Kunsthändler und seinem Freund und Geschäftspartner Martin, der nach Deutschland zurückgekehrt ist.

Versichern sich die beiden in ihren Briefen zunächst noch ihrer innigen Freundschaft, bei der es keine Rolle spielt, dass Max Eisenstein Jude ist, so ändert sich allmählich der Ton in den Briefen. Martin findet trotz anfänglicher Zweifel immer mehr Gefallen an der erstarkenden Bewegung der Nationalsozialisten und sieht in ihr die Chance auf ein neues Deutschland, das sich nicht länger hinter der Schande von Versailles verstecken müsse.

Besorgte und kritische Fragen des amerikanischen Freundes zu den Veränderungen in Deutschland werden zunehmend verärgert vom Tisch gewischt. Schließlich bittet Martin sogar darum, dass Max ihm keine Briefe mehr an seine Privatadresse schickt, da dies ihm nur unnötigen Ärger mit der Zensur und den neuen Machthabern eintrage. Er hofft dafür auf Verständnis. Doch Max muss ihm doch noch einmal schreiben: Er bittet seinen alten Freund, eine diskret-schützende Hand über seine Schwester Griselle, die ehemalige Geliebte von Martin, zu halten, da diese politisch naiv ein Schaupielengagement in Berlin angenommen habe und er um ihre Sicherheit fürchtet, sollte sie als Jüdin enttarnt werden.

Ab hier wäre es schade, den weiteren Fortgang der Handlung vorwegzunehmen.

Bei nur 57 Seiten (und einer außerordentlich großzügigen Platzaufteilung) sind natürlich keine tiefen Charakterschilderungen und Feinheiten im Detail möglich. Dennoch ist Address unknown ein spannendes Lehrstück, eine Geschichte, deren Ende den Leser überrascht und ihn mit einigen Fragen, und vielleicht auch mit – vorschneller – Genugtuung zurücklässt. Meine Ausgabe – gespickt mit Rechtschreibfehlern – hat, obwohl das für das Verständnis des Werkes und des Titels entscheidend ist, nicht kenntlich gemacht, dass der letzte Brief, den Max schreibt, an ihn mit dem Vermerk „Adressat unbekannt“ zurückgesandt wird.

Hintergrund

Das Wichtigste an dieser Geschichte ist aber wohl ihr Erscheinungsdatum: Sie wurde 1938 in der Zeitschrift Story veröffentlicht. Die Autorin warnte also sehr früh vor dem Nationalsozialismus, obwohl die amerikanische Öffentlichkeit sehr lange der Meinung war, dass man sich in europäische Belange nicht einmischen solle. Die komplette Ausgabe der Zeitschrift war innerhalb von zehn Tagen ausverkauft. Reader’s Digest veröffentlichte eine gekürzte Version und die kurz darauf erschienene Buchausgabe war mit 50.000 verkauften Exemplaren ein für damalige Verhältnisse unglaublicher Erfolg. In Deutschland wurde das Buch 1939 verboten.

Im Vorwort einer amerikanischen Ausgabe gibt der Sohn der Autorin einige Hinweise zur Entstehung des Romans: Seine Mutter habe selbst erlebt, wie kultivierte warmherzige Deutsche, die längere Zeit in Amerika gelebt hatten, sich nach ihrer Rückkehr nach Deutschland massiv veränderten und bei einem Besuch in Amerika einen alten Freund auf der Straße ignorierten, weil dieser Jude war.

What changed their hearts so? What steps brought them to such cruelty? These questions haunted me very much and I could not forget them. […] I began researching Hitler and reading his speeches and the writings of his advisors. What I discovered was terrifying. What worried me most was that no one in America was aware of what was happening in Germany and they also did not care.

Wiederentdeckung

1995 wurde das schmale Bändchen anlässlich des 50sten Jahrestages der Befreiung der Konzentrationslager neu aufgelegt und erregte noch einmal internationales Aufsehen. In Frankreich stand es zwei Jahre auf der Bestsellerliste und wurde außerdem für die Bühne bearbeitet. Kressmann Taylor (1903 – 1996) erlebte als hochbetagte Dame den zweiten Erfolg ihres Werkes noch persönlich mit und verbrachte ihr letztes Lebensjahr mit Interviews und Autogrammstunden. Die deutsche Übersetzung erschien, wie gesagt, erst 2001.

Und das sagen die Kritikerinnen Anne Karpf und Elke Heidenreich

Im Juli 2002 äußerte sich Anne Karpf im Guardian enthusiastisch:

If I were to tell you that a novel made up entirely of letters, just 54 pages long (eight of them blank), came with a New York Times Book Review plaudit on its cover judging it „the most effective indictment of Nazism to appear in fiction“, you might think it the mother of all hype. Yet spend three-quarters of an hour with it and you’ll be jabbing all comers with the injunction: ‚Read!‘

Elke Heidenreich empfahl das schmale Werk als Schullektüre und damit liegt sie keineswegs verkehrt. Natürlich kann man das kleine fiktive Werk nicht mit Dokumenten wie Viktor Klemperers Tagebüchern vergleichen. Aber Umfang, Spannung, Botschaft und Diskussionsanlässe sprechen durchaus für eine Lektüre im Unterricht. Allerdings versteigt sie sich in ihrer Begeisterung dann doch zu arg schrillen Tönen:

Ich habe nie auf weniger Seiten ein größeres Drama gelesen. Diese Geschichte ist meisterhaft, sie ist mit unübertrefflicher Spannung gebaut, in irritierender Kürze, kein Wort zuviel, keines fehlt. […] eine viel größere Öffentlichkeit sollte ihm beschieden sein. Nie wurde das zersetzende Gift des Nationalsozialismus eindringlicher beschrieben. ‚Adressat unbekannt‘ sollte Schullektüre werden, Pflichtlektüre für Studenten, es sollte in den Zeitungen abgedruckt und in den Cafes diskutiert werden. Ich würde wieder mehr Vertrauen in dieses Land haben, wenn ich dieses Buch in den nächsten Monaten und Jahren aus vielen Jackentaschen ragen sähe. Ich träume von einer morgendlichen vollen U-Bahn in Berlin, in der Hunderte von Menschen Kressmann Taylor lesen, aufsehen und sich mit Blicken gegenseitig versichern: nie wieder. (im Nachwort zu der Ausgabe anlässlich des Welttag des Buches 23/4/2012)

Nun gut, ich fände die Vorstellung, dass eines Morgens alle Menschen in der U-Bahn das gleiche Buch lesen, ja eher beängstigend. Dann doch lieber das ironische Understatement von Anne Karpf …

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Michael Köhlmeier: Idylle mit ertrinkendem Hund (2005)

Nur drei meiner Bücher hat Dr. Beer lektoriert. Die Arbeit am vierten brach er ab – wie er mir in einem handgeschriebenen Brief mitteilte, ’nach gesundheitlichen Erwägungen‘. Ich weiß es besser. Er schämte sich vor mir – wegen der Ereignisse, die während unserer letzten gemeinsamen Arbeit vorgefallen waren: die Geschichte mit dem Hund.

So beginnt das vom Feuilleton hochgelobte und 2013 vom Kölner Stadt-Anzeiger und dem Literaturhaus Köln im Rahmen der Literaturaktion „Ein Buch für die Stadt“ ausgewählte kleine Werk Idylle mit ertrinkendem Hund (2005) von Michael Köhlmeier, mit dem ich nun definitiv nicht warm geworden bin.

Um was geht es?

Der Autor und Ich-Erzähler telefoniert mit seinem Lektor Dr. Beer, der überraschend ankündigt, ihn zu Hause in Hohenems besuchen zu wollen, damit sie gemeinsam am neuen Buch arbeiten können. Dabei sind sie sich trotz jahrelanger Zusammenarbeit noch immer ziemlich fremd.

Erst wenige Tage vor jenen Geschehnissen hatte er mir das Du-Wort angeboten. Niemals hätte ich damit gerechnet! Ich hätte mir nicht einmal vorstellen können, dass er seine eigene Frau duzte (von deren Existenz – und, bitte, wir kannten uns immerhin seit acht Jahren! – ich damals nichts wusste). Mit Begriffen wie Frau, Freundin, Geliebte oder gar Familie brachte ich diesen Mann nicht in Verbindung; nicht einmal Eltern stellte ich ihm in meiner Einbildung beiseite; ebenso sträubten sich lebensgeschichtliche Kategorien wie Kindheit und Jugend dagegen, sein Leben als ein zum Beispiel mit dem meinen vergleichbares zu beschreiben. Dass ich ihn in Zukunft Johannes nennen sollte, versprach ein Krampf zu werden, ein immer neuer, sich nie entspannender Krampf. (S. 11/12)

Dieser Dr. Beer wird vom Ich-Erzähler zu einer Respekt einflößenden und geheimnisvollen Person verklärt.

Niemand wusste, was er tat, nachdem er seinen Mantel angezogen, den Kragen hochgestellt, den Regenschirm aufgespannt, sich von der Frau beim Eingang verabschiedet hatte und aus dem Verlagsgebäude verschwunden war. Nicht einmal, ob er mit dem Taxi oder dem Bus, der U-Bahn oder dem eigenen Wagen oder zu Fuß oder mit dem Fahrrad nach Hause wollte. Nach Hause? Wie sah sein Zuhause aus? […] Ich konnte mir allerdings nicht vorstellen, dass dieser Mann Spezies hatte; eben weil ich mir nicht vorstellen wollte, dass er überhaupt ein Privatleben hatte. (S. 15/16)

Ich muss zugeben, bereits an dieser Stelle hätte ich das Büchlein am liebsten zugeklappt, mir war schon jetzt dieser ca. 60-jährige Beer herzlich egal; es kümmerte mich nicht im Geringsten, wie er nach der Arbeit nach Hause kommt und was er dann wohl so tut. Beer selbst bezeichnet sich einmal als Lear’s Narr und somit eignet er sich wohl gut als Projektionsfläche für die Gedanken und Gefühle des Ich-Erzählers.

Der in sprachlichen Fragen stets unerbittliche Lektor bietet ihm also das Du an.

Und nun endlich richtete er sich auf und forderte? Nämlich das Ist-Gleich-Zeichen zwischen unseren Gewichten? Pochte er nun darauf, sich mir preiszugeben? Auf stundenlangen Spaziergängen im Schnee zum Beispiel, die wir – außer Sichtweite eines anderen vernunftbegabten Wesens – beenden würden, indem wir uns umarmten und einer dem anderen dabei mit der Hand an den Hinterkopf griffe, derb genug, um es nicht als ein Streicheln erscheinen zu lassen – zwei Männer in reiferen Jahren mit mehr oder weniger festen Grundsätzen, zwei Freunde. (S. 25)

Als Dr. Beer in Hohenems ankommt, präsentiert ihm Köhlmeier den „Dschungel“ im Wintergarten des Wohnzimmers, die sieben Meter breite, zwei Meter tiefe Kreation seiner Ehefrau Monika, ein wildes Durcheinander von falschen und echten Pflanzen, Tierfiguren, Masken, Totempfählen, Blech und Bildern. Beer verliert völlig die Contenance und schreit, tanzt und singt und betastet die Pflanzen mit geschlossenen Augen. Und das, nachdem sich der Ich-Erzähler doch gerade noch Sorgen gemacht hatte, worüber man sich denn mit dem Gast wohl unterhalten könne.

Monikas Urwald offenbare den Charakter seines Betrachters – ein Freund hatte das einmal gesagt, der hat immerhin sechzehn Jahre lang eine Drogenstation geleitet, ich glaube ihm jedes Wort. (S. 30)

Alle drei sind verlegen, als Dr. Beer wieder auftaucht, und eine echte Annäherung findet auch nach diesem Gefühlsausbruch nicht statt.

Am nächsten Tag unternimmt Dr. Beer einen längeren Spaziergang in der tiefverschneiten Landschaft, auf dem er sich mit einem schwarzen Hund anfreundet, er, der doch bisher so große Angst vor Hunden gehabt hat. Stolz prahlt er mit seiner „Heldentat“, auch in der Gaststätte, in der sie später etwas essen. Das macht den Erzähler unglaublich wütend, denn es sei ein Verrat an ihm und seiner Frau, die diese Geschichte schließlich als Erste gehört hätten.

Bei einem weiteren Spaziergang, auf dem ihn der Erzähler begleitet, treffen sie wieder auf den Hund. Als dieser sie sieht, will er freudig auf sie zulaufen. Dabei bricht er im Eis ein und droht zu ertrinken. Was ist zu tun?

In diese äußere Handlung hinein werden immer wieder Anspielungen und Erinnerungen verwoben, die sich auf den – realen – Tod der Tochter Paula Köhlmeier im Jahre 2003 beziehen. Sie war im Alter von 21 Jahren beim Wandern ganz in der Nähe des Elternhauses abgestürzt.

Die Eltern können seitdem nicht mehr richtig schlafen und nachts treffen sie sich zufällig in der Küche wie Besucher, die aus verschiedenen Ländern angereist sind. Sie gehen täglich zum Grab ihrer Tochter, doch die schwärzeste Zeit der Trauer liegt wohl hinter ihnen, Köhlmeier kann wieder Gitarre spielen, sie freuen sich an den Stimmen der Enkelkinder, treffen ihre  Freunde und schreiben.

Spazierengehen stabilisiert uns einigermaßen, von Montag bis Freitag gehen wir jeder für sich allein […] Am Samstag begleitet mich Monika auf meinem, am Sonntag ich sie auf ihrem Weg. (S. 75)

Fazit

Das Buch war so gar nicht meins, und das lag vor allem an der Figur des Dr. Beer, mit dem ich nichts anzufangen wusste. Diese sprachlichen Verrenkungen, als sich die beiden reifen Herren nun auf einmal duzen wollen …

Ich schätzte, er hatte die Folgen der neuen Situation (den Vorschlag, sich von nun an zu duzen) zu wenig berechnet, nämlich dass dem Du ein wenig Praxis nachzuschieben sei, damit es nicht als bare Option wie ein drohender Stalaktit über jedem künftigen Wort hänge, und nun fand er sich in einer noch unangenehmeren Lage. Während ich den Hörer in der Hand hielt, schaute ich zum Fenster hinaus, als könnte ich auf diese Weise dem Aufprall an Intimität ausweichen. (S. 17)

Wenn man sich so fremd ist, warum verspürt dann der Erzähler den Drang, mit genau diesem Fremden über die Schwierigkeit zu sprechen, wie man über den Tod der eigenen Tochter schreiben könnte? Nur, weil Beer ein so unbestechlich strenger Lektor ist, der ihm kein falsch gewähltes Wort durchgehen lässt?

Er legte über einzelne Worte das Chirurgentuch mit dem Schlitz in der Mitte, das den Gegenstand der Untersuchung von allen anderen Organen isoliert, um dessen Bedeutung und, daraus resultierend, dessen Strahlkraft innerhalb eines Satzes und weiter eines Satzgefüges besser untersuchen zu können. Als halte er es für möglich, dass wir uns in verschiedenen Sprachen unterhielten, die nur zufällig gleich klangen. Es war mein Text; ich vertraute ihm, aber nicht mir, dem Verfasser. Ich vertraute meinem Lektor, verlor aber das Vertrauen in meinen Text. (S. 24)

Viele haben das Buch als Köhlmeiers literarische Auseinandersetzung mit dem Verlust der Tochter gelesen. Dabei scheint es mir zunächst viel mehr um die Themen Freundschaft und Distanz zu gehen. Wie sonst ließe sich die Dominanz des Lektors erklären? Letztlich scheitert die Annäherung zwischen den beiden Männern. Köhlmeier ist sich ohnehin unsicher, ob eine neue Freundschaft in ihrem Alter überhaupt eine Option sein kann.

Wenn so etwas in unserem Alter überhaupt noch möglich ist, dann gewiss nicht aus der Jugendkraft der Empfindungen heraus, sondern als eine Entscheidung, als ein gut überlegtes Setzen des Ist-Gleich-Zeichens zwischen den Gewichten. Genauso kompliziert und über die Bande gespielt muss man es ausdrücken. (S. 83)

Eine Freundschaft ist aber auch deshalb nicht möglich, weil sie weder gemeinsam schweigen noch über den Tod Paulas sprechen können. Das entscheidende Gespräch, das sich der Erzähler wünscht, findet nur in den Gedanken Köhlmeiers statt.

‚Wie kann ich über den Tod unserer Tochter schreiben?‘
‚Willst du denn darüber schreiben?‘
‚Das möchte ich, ja.‘
‚Ich denke, ich weiß, wo das Problem liegt. Du bist dir nicht sicher, ob du Literatur machen willst oder bloße Erinnerung, hab ich recht?‘
‚Ich will, dass sie bei mir ist. Und ich habe die Hoffnung, dass sie näher bei mir ist, wenn ich über sie schreibe.‘ … (S. 83 ff.)

Genau das – ein Schreiben über Paula – kann nicht stattfinden. Stattdessen kommt es zu der dramatischen Schlüsselszene, in der der Hund zu ertrinken droht. Auch dort entzieht sich der Lektor; er rennt kopflos davon, um Hilfe zu holen. Der Erzähler bleibt zurück. Verschiedene Lesarten sind denkbar.

Verkörpert Dr. Beer die Unfähigkeit, Trauer und existenzielle Not zu ertragen? Weiß er, dass er den Erzähler im Stich gelassen hat?

Setzt sich der Erzähler so für den Hund ein und begibt sich letztlich sogar in Lebensgefahr, weil er den Gedanken nicht erträgt, ihn sterben zu sehen? Oder hatte er überhaupt nicht vor, sich selbst zu gefährden, und wollte einfach der im Eis eingebrochenen Kreatur zu Hilfe kommen? Ist seine Rettungsaktion eine Entscheidung für das Leben – trotz des entsetzliches Verlusts, den er und seine Frau erlitten haben? Oder symbolisiert der schwarze Hund seine eigene Trauer und Traurigkeit?

Im Kölner Stadt-Anzeiger hat Köhlmeier erklärt: „Dieser einsame, ins Eis eingebrochene Hund spiegelte meine eigene Lebenssituation wider.“

Dann hätte sich der Ich-Erzähler also in seiner Trauer selbst gerettet und aus dem Wasser gezogen, und zwar ohne, dass ihm jemand – wie Dr. Beer – dabei hätte helfen können. Das finde ich gedanklich zwar interessant und bedenkenswert, aber für eine Geschichte zu verkopft. Nicht unmittelbar genug.

Anmerkungen

Hier geht’s lang zur Besprechung auf dem Grauen Sofa und hier schreibt Julia Zarbach auf der Seite des Literaturhauses Wien. Interessant fand ich auch den Artikel von Heike Baller auf ihrem Blog Kölner Leselust.
2005 erschien der Prosaband Maramba von Paula Köhlmeier, herausgegeben von ihren Eltern.
Sehens- und hörenswert sind die Nacherzählungen Köhlmeiers der griechischen Mythen.

Alice Childress: Like one of the family (1956)

Diese Sammlung von 62 Geschichten, die meist nicht länger als zwei Seiten sind und allesamt im New York der fünfziger Jahre spielen, habe ich quasi inhaliert. Sie werden uns von der schwarzen Haushaltshilfe Mildred erzählt.

Mildred arbeitet bei diversen weißen Mittelstandsfamilien. Abends erzählt sie ihrer ebenfalls schwarzen Freundin Marge von den alltäglichen Vorkommnissen an ihrer Arbeit. Freundin Marge wird uns in der Geschichte All about my job im typischen Stil der Storys näher vorgestellt:

Marge, I sure am glad that you are my friend. … No, I do not want to borrow anything or ask any favors and I wish you’d stop bein‘ suspicious everytime somebody pays you a compliment It’s a sure sign of a distrustful nature.

I’m glad that you are my friend because everybody needs a friend but I guess I need one more than most people … Well, in the first place I’m colored and in the second place I do housework for a livin‘ and so you can see that I don’t need a third place because the first two ought to be enough reason for anybody to need a friend.

You are not only a good friend but you are also a convenient friend and fill the bill in every other way. … Well, we are both thirty-two years old; both live in the same building; we each have a three room apartment for which we pay too devilish much, but at the same time we got better sense than to try and live together. And there are other things, too. We both come from the South and we also do the same kinda work: housework.

Marge selbst kommt dabei gar nicht zu Wort, doch können wir uns ihre Kommentare anhand der Reaktionen Mildreds lebhaft vorstellen.

Mildred erzählt ganz offensichtlich mit Witz und unbestechlicher Menschenkenntnis. Da wäre z. B. die Geschichte zu nennen, die der ganzen Kurzgeschichtensammlung den Namen gegeben  hat: Like one of the family. Als Mrs. C., eine ihrer weißen Arbeitgeberinnen, Besuch hat, lobt Mrs. C. Mildred über den grünen Klee und betont dabei, wie sehr doch die ganze Familie die Haushaltshilfe Mildred zu schätzen wisse:

We just love her! She’s like one of the family and she just adores our little Carol! We don’t know what we’d do without her! We don’t think of her as a servant!

Doch Mildred entlarvt die scheinbar netten Worte als das, was sie sind, als gedankenlose Herablassung.

Höflich, aber unmissverständlich bittet sie ihre Arbeitgeberin zu einem Gespräch und öffnet ihr die Augen dafür, was es bedeuten würde, wäre sie tatsächlich ein Teil der Familie:

Mrs. C …, you are a pretty nice person to work for, but I wish you would please stop talkin‘ about me like I was a cocker spaniel or a poll parrot or a kitten …. Now you just sit there and hear me out. In the first place, you do not love me; you may be fond of me, but that is all. … In the second place, I am not just like one of the family at all! The family eats in the dining room and I eat in the kitchen. Your mama borrows your lace tablecloth for her company and your son entertains his friends in your parlour, your daughter takes her afternoon nap on the living room couch and the puppy sleeps on your satin spread …

Sie würde sich weder die Unverschämtheiten des Kindes gefallen lassen noch so hart arbeiten müssen und außerdem anständig bezahlt werden.

Am Ende der Geschichte triumphieren – utopisch und wünschenswert – Einsicht und Menschlichkeit:

Marge! She was almost speechless but she apologized and said she’d talk to her husband about the raise….

Dabei wird der Ton nie sentimental. Schließlich rügt sie Marge, weil die vor lauter Zuhören ein Knopfloch ganz unordentlich genäht hat.

Alice Childress (1916 – 1994) ist in diesen Geschichten viel mehr als „nur“ die Chronistin der Rassendiskriminierung in den fünfziger Jahren in New York. Obwohl auch das ihr schon beeindruckend gelingt. Sie löst ihren eigenen literarischen Anspruch ein:

I attempt to write about characters without condescension, without making them into an image which some may deem more useful, inspirational, profitable, or suitable.

Die Hauptfigur Mildred tritt für ihre Würde ein. Dies tut sie klug, witzig, ironisch, lebhaft, anschaulich, direkt und zutiefst menschlich, sodass die meisten Geschichten ein gutes Ende nehmen, was in der damaligen Zeit vermutlich entweder utopisch oder aber mutmachend gewirkt haben muss.

Die Herausgeberin dieser Sammlung schreibt zwar einschränkend:

In all her adventures with her white employers, Mildred the maid is a combination of lady in shining armor charging off to attack insensitive racist infidels and the black woman of flesh and blood who knows that a direct confrontation with her white employers could lead to physical violence against her as quickly as it could lead to her dismissal.

Doch genau solche Menschen muss es ja gegeben haben, wie sonst wären die Fortschritte durch die Bürgerrechtsbewegung möglich gewesen?

Ich freue mich sehr, diese Autorin kennengelernt zu haben, die hier eine Erzählerin geschaffen hat, die sich weigert, durch die Umstände korrumpieren und beschädigen zu lassen.  Die Geschichten sind – trotz der Verankerung in einem bestimmten räumlichen und zeitlichen Umfeld – zeitlos gültig und befragen uns auch heute – nach unseren Fassaden, Hochnäsigkeiten und den alltäglichen, vor allem unbewussten rassistischen Vorurteilen.

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Julia Strachey: Cheerful Weather for the Wedding (1932)

On March 5th Mrs Thatcham, a middle-class widow, married her eldest daughter, Dolly, who was twenty-three years old, to the Hon. Owen Bigham. He was eight years older than she was, and in the Diplomatic Service.

So beginnt die Erzählung der englischen Autorin

Julia Strachey: Cheerful Weather for the Wedding (1932)

Diese ersten beiden Sätze liefern bereits eine komplette Inhaltsangabe, die man vielleicht noch durch den Hinweis ergänzen könnte, dass sich die ganze Handlung im Hause der Thatchams abspielt. Dolly kleidet sich an, bleibt danach jedoch bis zur letzten Minute in ihrem Zimmer, während sich die wartenden Hochzeitsgäste gegenseitig auf die Nerven gehen.

Unter den Gästen befindet sich auch Joseph, Student der Anthropologie, und Dollys Liebhaber vom letzten Sommer, der halbherzig überlegt, sie doch noch von der Heirat abzubringen. Auch Dolly überlegt im Stillen, wie es wohl wäre, mit Joseph durchzubrennen. Doch als Joseph endlich versucht, sie unter vier Augen zu sprechen, ist ihre einzige Sorge der große Tintenfleck auf ihrem Brautkleid.

Ansonsten müssen wir uns die ganzen ca. 80 Seiten Familiengeplänkel der schlimmsten Sorte anhören, das die Beziehungslosigkeit aller Beteiligten auf Schönste veranschaulicht. Dolly erträgt – keiner weiß, warum – das Ganze nur, weil sie schon eine halbe Flasche Rum getrunken hat. Aber das wird anscheinend nur von Dollys Schwester und ihrer Freundin bemerkt. Mich hätte man dann ja zum Altar tragen müssen.

Nach der Trauung, die der Leser aber gar nicht miterlebt, gibt es noch einen kleinen Knalleffekt, als Joseph Mrs Thatcham ins Gesicht sagt, was er von ihr als Person und als Mutter hält. Doch kurze Zeit darauf hören wir, wie sie telefoniert und wieder von dem „cheerful weather“ redet, das wie geschaffen für eine Hochzeit gewesen sei. Ob sie eine Wahrnehmungsstörung hat?

Out in the drive there, standing about round the motor-car, in the furious March gale, everyone felt as though they were beaten on the back of the head and on the nose with heavy carpets, and having cold steel knives thrust up inside their nostrils, and when they opened their mouths to avoid the pain of this, big wads of iced cotton-wool seemed to be forced against the insides of their throats immediately, so that they choked, and could not draw any breath in.

Julia Strachey (1901 – 1979) war eine Nichte von Lytton-Strachey. Das war sicherlich hilfreich, um Eingang in den Kreis der Bloomsbury Group um Virginia Woolf zu finden. In deren Hogarth Press wurde ihr kleines Werk Cheerful Weather for the Wedding veröffentlicht.  2002 gab es eine Neuauflage bei Persephone Books.  2012 wurde das Buch sogar verfilmt.

Fazit

Die ersten zwei Sätze fassen bereits die ganze Handlung der Geschichte zusammen. Und mehr hätte ich – im Nachhinein – als Leserin auch nicht gebraucht.

Die Geschichte holpert so vor sich hin, und Fragen bleiben offen: Warum haben sich Dolly und Joseph getrennt? Warum will sie Owen eigentlich heiraten? Unerfreuliche Figuren und schreckliche Festtagsgespräche, die die Abgründe einer Familie offenlegen, sind noch nicht per se lesenswert. Und damit sind angeblich komische Szenen verflochten: Mrs Thatcham hat beispielsweise ein Zimmer an zwei Gäste vergeben, was dann zu ansatzweise peinlichen Szenen führt.  Mir ist, als müsste ich sofort einen Jane Austen-Roman lesen …

Aber wie so oft gibt es auch andere Meinungen dazu; in mehreren englischsprachigen Blogs, z. B. Stuck in a Book, werden gerade der zynische Humor des Werkes und die grotesk-überzeichneten Charaktere hervorgehoben.

Ernest J. Gaines: A long day in November (1964)

Somebody is shaking me but I don’t want to get up, because I’m tired and I’m sleepy and I don’t want to get up now. It’s warm under the cover here, but it’s cold up there and I don’t want to get up now.

So beginnt die unfassbar schöne Geschichte A long day in November (1964) von Ernest J. Gaines (1933 – 2019). Sie erschien in der von Langston Hughes herausgegebenen Sammlung The Best Short Stories by Black Writers 1899 – 1967.

In der Geschichte, die in den 30er oder 40er Jahren des letzten Jahrhunderts spielt, werden aus der Sicht eines kleinen schwarzen Jungen die Geschehnisse eines einzigen Tages erzählt.

Der kleine Sonny nässt – wohl aufgrund der Streitereien seiner Eltern – noch ein. Nach einem entsprechend demütigenden Vormittag in der Schule kommt er nach Hause.

Die Mutter hat jedoch eigene Sorgen und beschließt, mit Sonny zu ihrer Mutter zu ziehen, da die Konflikte mit ihrem Mann anscheinend nicht mehr zu lösen sind. Dieser hat nämlich nur noch sein Auto im Kopf und vernachlässigt darüber die Familie. Die Großmutter begrüßt den Schritt der Tochter, da sie sich noch nie für ihren Schwiegersohn erwärmen konnte.

Der Vater, ein schwacher Mann, will jedoch unbedingt seine Frau zurückgewinnen und holt sich den Rat einer Wahrsagerin ein. Deren Empfehlung ist eindeutig: Verbrenne dein Auto. Der Vater versucht der Wahrsagerin eine harmlosere Lösung abzuringen, vielleicht könne er das Auto wenigstens verkaufen, dann würde sich zumindest der finanzielle Verlust in Grenzen halten. Doch schließlich wirft ihn die Wahrsagerin raus, sie habe ihm alles gesagt, ein Verkauf des Wagens reiche keinesfalls aus.

Der verzweifelte Mann ist hin und hergerissen, doch schließlich holt er alle zu dem Spektakel hinzu und verbrennt tatsächlich seinen heiß geliebten Wagen. Selbst die Schwiegermutter muss zugegeben, dass sie ihm diese männliche Tat nicht zugetraut hätte.

Zusammen kehrt die kleine Familie nach Hause zurück. Der kleine Junge fühlt sich wieder geborgen und mit den Geräuschen des knarrenden Ehebetts im Hintergrund kann er endlich einschlafen.

Fazit

Hier wird auf beeindruckende Weise die Falkennovelle ins Leben geholt, in ein anderes Jahrhundert und auf einen anderen Kontinent, in einen anderen Kulturkreis transportiert: Die Geschichte schildert den Konflikt des Liebenden und seinen unbedingten Willen, sich für die Liebe zum Partner tatsächlich von dem zu trennen, was diese Liebe hinderlich ist. Egal, wie schmerzhaft das ist.

Eine nur scheinbar einfache und dabei sehr anrührende Geschichte.

Aus dieser Sammlung hat mir auch Richard Wright „Almos‘ a man“ gut gefallen.

Hier gibt es weitere Informationen und Interviews mit dem 2019 verstorbenen Autor aus Louisiana.