Andrej Kurkow: Graue Bienen (OA 2018)

Ich weiß nicht, wie ich Graue Bienen, dieses ruhige, zurückgenommene, unaufgeregte Werk des ukrainischen Schriftstellers Andrej Kurkow (*1961), vor einigen Wochen gelesen hätte; was ich aber nach der Lektüre sagen kann: Es ist ein ganz besonderes, ja aufregendes Buch und ich wünschte, es wäre nicht erst der unselige Angriffskrieg auf die Ukraine gewesen, der mich darauf aufmerksam gemacht hat. Aus dem Russischen von Johanna Marx und Sabine Grebing ins Deutsche übertragen, wurde es 2019 im Diogenes Verlag veröffentlicht.

Die Geschichte um den eigenbrötlerischen, aber gutherzigen Imker Sergej Sergejitsch spielt 2016/17 zum einen in der sogenannten grauen Zone, also dem Gebiet entlang, hinter und manchmal auch genau zwischen den verfeindeten Stellungen der Ukrainer und der Separatisten an der ostukrainischen Grenze zu Russland, und zum anderen auf der Krim, die bereits 2014 von Russland annektiert wurde.

Sergej ist Frührentner, hat er sich doch als Inspektor für Arbeitssicherheit in den notorisch unsicheren Bergwerksbetrieben die Lunge kaputtgemacht. Er und sein alter Feind Paschka sind die einzigen, die noch in ihrem Dorf im Donbass leben. Auch politisch stehen sie auf verschiedenen Seiten. Während Paschka die Separatisten unterstützt und von denen ab und zu Brot und andere Leckereien bezieht, fühlt sich Sergej als Ukrainer und will eigentlich nur seine Ruhe. Alle anderen Einwohner sind in den sichereren Westen der Ukraine geflohen. Auch Sergejs Ex-Frau und seine Tochter leben schon lange von ihm getrennt.

Das Leben in dem verlassenen Dorf Malaja Starogradowka ist karg, auf das Allernotwendigste reduziert.

Im Haus, was gab es da? Das Bett, Tisch und Stuhl. Tun konnte man im Grunde nichts. Nur nachdenken und sich erinnern. Sergejitsch hatte es schon satt, sich an Vergangenes, Fröhliches oder Trauriges, zu erinnern. (S. 134)

Wenn mal etwas dringend benötigt wird, wandert Sergej ein paar Kilometer ins nächste Dorf, wo ihm hilfsbereit eine warme Mahlzeit oder ein paar Eier angeboten werden. Der Strom fällt ständig aus, sodass er sein Handy nicht aufladen kann, und die Post wird nur ausgeliefert, wenn die kämpfenden Truppen einen Tag „Postfrieden“ vereinbart haben.

Sergejitsch dachte im selben Moment, dass er selbst überhaupt keine Post brauchte. Nur vielleicht eine Zeitung zum Lesen! Aber er hatte ja schon seit zehn Jahren nichts mehr abonniert. Früher hatte er die Nachrichten dem Fernseher entnommen. Dann verschwanden die Nachrichten zusammen mit dem Strom. Jetzt schienen ihm diese Nachrichten nicht mehr besonders nötig zu sein. Was änderten sie? Trotzdem war eine Zeitung etwas Angenehmes. Sie raschelte zwischen den Fingern und half, sich abzulenken. (S. 145)

Sergej ist vor allem auf das Wohlergehen seiner Bienen bedacht, die seiner Meinung nach wesentlich intelligenter handeln, als die Menschen das tun. In langen und ruhig dahinfließenden Passagen wird erzählt, wie Sergej seinen Kohleofen befeuert, sich Tee zubereitet, Schnee schippt oder einen toten Soldaten, der auf einem verschneiten Feld liegt, wenigstens mit Schnee bedeckt, wenn er ihn schon nicht beerdigen kann.

Drei Jahre mit Paschka in ihrem verlassenen Dorf hatten ihn gelehrt, dass es wenig, sehr wenig Menschen geben konnte und daran gar nichts Schlechtes war. Im Gegenteil, die Menschenleere half, sich und sein Leben besser zu verstehen. (S. 247)

Hin und wieder besuchen Paschka und Sergej einander, giften sich an und vertragen sich wieder. Trotz ihrer Antipathie merken sie – und die LeserInnen mit ihnen -, dass sie einander brauchen, dass der Mensch ohne einen anderen Menschen gar zu einsam wäre, sie besuchen sich alle paar Tage und essen und trinken miteinander. Zum Abschied, als Sergej zu seiner Reise aufbricht, um seinen Bienen einen Sommer ohne Schießereien und Detonationen zu ermöglichen, umarmten sie einander

auf Männerart, fest. Sie drückten sich und ließen sich gleich wieder los. (S. 188)

Der Abschied von seinem Heimatdorf fällt Sergej nicht leicht.

Während die Regentropfen auf ihn niederprasselten, betrachtete Sergejitsch die vertrauten Mauern, Bäume, Zäune, betrachtete seine kleine Welt, in der er bis jetzt seine Nöte und Probleme durchgestanden hatte, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Das alles, die Bäume, die Tore, die Türen und Fenster, hatte ihn früher wie eine kugelsichere Weste geschützt. Dabei hatte er gedacht, es sei umgekehrt gewesen und er habe sein Haus, seinen Hof, seine Welt geschützt. Nein, er hatte sich geirrt. Erst jetzt, als er wegfahren musste, verstand er das. (S. 186)

Später, als er schon ein paar Monate unterwegs ist, bittet ihn Paschka am Handy sogar, doch recht bald zurückzukehren, möglichst mit einem guten Vorrat an Zigaretten.

Sergej redet nicht viel und braucht nicht ständig Menschen um sich herum. Er hat Angst wie alle anderen, wenn er mit den Menschen der Macht zusammenstößt, und versucht doch im Rahmen seiner Möglichkeiten, das Richtige zu tun. Er verfügt über einen inneren Kern, der noch nicht zerstört worden ist, seine Hingabe an die Bienen und ihr sinnvolles und geordnetes Tun.

Er brachte sie dorthin, wo es still war, wo die Luft sich langsam mit der Süße aufblühender Gräser füllte, die bald von blühenden Kirschbäumen, Aprikosenbäumen, Apfelbäumen und Akazien Verstärkung erhalten würden. (S. 200)

Während dieser Sommermonate eröffnet sich für Sergej die – etwas arg idyllisch geratene – Möglichkeit, dauerhaft bei einer patenten Frau Zuneigung und gutes Essen zu bekommen, doch Sergej reizt das nicht. Am Ende des Sommers möchte er wieder nach Hause, zu seinem Haus, seinem angestammten Platz in dieser Welt.

Vorher reist der dickköpfige Sergej aber erst noch weiter auf die Krim, in der Hoffnung, einen Imkerkollegen zu treffen, den er vor Jahrzehnten bei einem Kongress kennengelernt hatte. Dass Sergej Christ ist und der andere ein Muslim, ist für ihn nebensächlich, doch für die russischen Bewohner der Krim ist seine Freundschaft mit einer muslimischen Familie eine Provokation. Und so erfährt Sergej auch von der brutalen Unterdrückung der Krimtataren. Achtem, sein Imkerkollege, wurde schon vor zwei Jahren verschleppt und umgebracht und auch dessen Sohn wird nun unter den lächerlichsten Vorwänden verhaftet.

Die Welt ist aus den Fugen. Doch ausbaden müssen das meist die, die keine Macht haben, viel an der Situation zu ändern.

Kurkow ist in diesen 445 Seiten gelungen, die Verheerungen des Krieges zu zeigen, obwohl er nur ganz selten auf grausame Details zu sprechen kommt. Doch die vom Krieg ausgehende latente Bedrohung durch Waffen und das Machtgehabe an den verschiedenen Checkpoints, seine Sinnlosigkeit und seine Destruktivität, auch auf die Psyche der Betroffenen, und der geradezu religiöse Glaube an Putin bei manchen Russen sind wie ein Hintergrundrauschen immer präsent. Gleichzeitig gibt es Momente der einfachen Ruhe, des Friedens und der Schönheit. Es ist ein entschleunigtes, reduziertes Buch und ungemein reizvoll.

Die Hoffnung des Protagonisten, dass irgendwann auch die anderen in sein Dorf, in dem doch bis jetzt nur die Kirche zerschossen worden sei, zurückkommen und weiterleben können, ist von Putin 2022 jedoch erst einmal grausam widerlegt worden.

Er hatte seinen Becher noch nicht ausgetrunken, als irgendwo in der Nähe eine Explosion krachte. Die Fensterscheiben klirrten so laut, dass es in den Ohren schmerzte. ‚Ach, ihr Idioten‘, entfuhr es ihm verbittert. Hastig stellte er den Becher auf den Tisch, so dass der Tee herausspritzte, und lief ans nächste Fenster, überprüfte, ob keine Risse durchliefen. (S. 34)

Am Ende stellt sich die Frage, wie gleichgültig oder naiv der Westen war, wenn Kurkow schon in diesem Buch den betrunkenen Russen Wladlen, der extra aus Sibirien gekommen ist, um zusammen mit den Separatisten die Ukrainer zu „befreien“, sagen lässt:

‘Alles, was früher sowjetisch war, ist dann russisch geworden. […] Und das, was nicht russisch geworden ist, wird es später. Alles kehrt immer zum Anfang zurück, zum Ausgangspunkt…‘ (S. 110)

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