Fundstück von Joseph Roth

Jetzt sitze ich gegenüber dem leeren Platz und höre die Stunden rinnen. Man verliert eine Heimat nach der anderen, sage ich mir. Hier sitze ich am Wanderstab. Die Füße sind wund, das Herz ist müde, die Augen sind trocken. Das Elend hockt sich neben mich, wird immer sanfter und größer, der Schmerz bleibt stehen, wird gewaltig und gütig, der Schrecken schmettert heran und kann nicht mehr schrecken. Und dies ist eben das Trostlose.

aus: Das neue Tage-Buch, 25.6.1938 

zitiert nach: Hauke Goos: Schöner Schreiben – 50 Glanzlichter der deutschen Sprache von Adorno bis Vaterunser, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2021, S. 112

Fundstücke von Roger Willemsen

‚Verlust der Kindheit‘? Die Kindheit geht ja nicht verloren, jedenfalls nie ganz, sie zieht sich nur zurück und macht Platz. […] Aber für den inneren Menschen nimmt sie keinen untergeordneten Rang ein. Sie bricht sich Bahn, sie kehrt zurück, in neuen Mischungsverhältnissen. Es kann sein, dass nur der Humor das Exil des inneren Kindes bleibt oder das Begehren oder die Habsucht, die Tierliebe oder die Melancholie. Nichts ist je ganz vorbei, auch nicht die Kindheit. (S. 15)

Anders gefragt: Wann wurde man nicht, was man hätte sein können? (S. 25)

Warum sollte nicht fehlen können, was man nie besaß? Wahrscheinlich ist selbst anderen Gefühlskomplexen – der Liebe, der Begierde, der Enttäuschung – manchmal etwas wie Heimweh beigemengt. (S. 27)

Aus: Roger Willemsen: Der Knacks, Fischer Verlag, Frankfurt 2008

Fundstücke über das Fernsehen

Ich habe mir jetzt Ihren Auftritt bei ‚Talk um Zehn‘ angeschaut […] Haben Sie denn gar keinen Respekt vor Ihrer eigenen Dummheit? Was hatten Sie in dieser Talkshow verloren? Hatten Sie ein Buch vorzustellen? Oder eine CD? Eine Talkshow ist billige Sendezeit und kein Forum der Vernunft!

aus: Stefan Schwarz: Da stimmt was nicht, Rowohlt, Berlin 2021, S. 228

Television is really what we‘ve been looking for all our lives. You don‘t have to concentrate. You don‘t have to react. You don‘t have to remember. You don‘t miss your brain because you don‘t need it. Your heart and liver and lungs continue to function normally. Apart from all that, all is peace and quiet. You are in the poor man‘s nirvana.

Raymond Chandler in einem Brief an Charles Morton vom 22. November 1950, zitiert nach: Tom Hiney: Raymond Chandler – A Biography, Grove Press 1997, S. 191

Fundstück von Martin Boyd

Whether she was in a state of elation or of gloom from their last encounter, her heart began to beat when she knew that she was to see him again, and she always counted on the next meeting as one that would fix their relationship. Austin had no idea of the effect he was having on her, that his most casual words or absent-minded glances were flinging her from heaven to hell and back again. He was much too occupied with his own affairs and he simply thought of her as a slightly comic moody character. So the situation remained always the same, and she might have spared herself her passionate broodings. She was the only actor in the drama which was played nowhere but in her own agonised heart.

aus: Martin Boyd: The Cardboard Crown, Text Publishing Melbourne, 1952, S. 34-35

Fundstück von Leïla Slimani

Das, was wir nicht sagen, gehört uns für immer. Schreiben heißt, mit dem Schweigen spielen, auf Umwegen Geheimnisse aussprechen, die im wahren Leben unaussprechlich sind. Die Literatur ist eine Kunst der Zurückhaltung. (S. 29)

Das Zitat stammt aus Der Duft der Blumen bei Nacht von Leïla Slimani, das 2022 bei Luchterhand erschienen ist. Schon lange kein Buch mehr gelesen, dessen Inhalt, wenn auch nicht unsympathisch vorgetragen, so wenig Nachhall erzeugte.

Fundstück von Chimamanda Ngozi Adichie über das Trauern

Trauer ist ein grausamer Unterricht. Man lernt, wie hart Trauern sein kann, wie viel Wut darin steckt. Man lernt, wie nichtssagend Beileidsbekundungen sein können. Man lernt, wie sehr es bei Trauer um Sprache geht, um das Versagen der Sprache und die Suche nach den richtigen Worten. Warum sind meine Flanken so empfindlich und tun weh? Das kommt vom Weinen, wird mir erklärt. Ich wusste nicht, dass wir mit unseren Muskeln weinen. Der Schmerz ist keine Überraschung, aber seine Körperlichkeit ist es. […] Es ist ein Leiden nicht nur der Seele, sondern des Körpers. Fleisch, Muskeln, Organe, alles ist in Mitleidenschaft gezogen. Keine Körperhaltung ist bequem…

aus: Chimamanda Ngozi Adichie: Trauer ist das Glück, geliebt zu haben, Fischer Verlag, 2021, S. 11

Fundstück von Harriet Köhler

Wer in die Fremde fährt, findet sich dort nicht, sondern hat sich selbst im Gepäck – das hätten wir eigentlich wissen müssen. […] Wir entkommen uns nicht, egal wie weit wir wegfahren. Warum nur erhoffen wir uns genau das dann doch immer wieder? Warum bleiben wir nicht einfach zu Hause und machen das Beste aus dem, was wir sind?

aus: Harriet Köhler: Gebrauchsanweisung fürs Daheimbleiben, Piper, München 2019, S. 27

b-nz 018

Fundstück von Christina Hardyment

Christina Hardyment war schon einmal mit ihrem Buch Heidi’s Alp Thema hier auf buchpost. Und nun schmökere mich gerade durch ihr Buch Behind the Scenes – Domestic Arrangements in Historic Houses, in dem sie mit ansteckender Begeisterung und Neugier den architektonischen und haushälterischen Gegebenheiten in Landhäusern der britischen Oberklasse nachforscht.

Auf Seite 23 bin ich auf einen Absatz gestoßen, den ich äußerst denkwürdig finde:

According to Robert Kerr, author of the influential The Gentleman‘s House (1864), ‚Every servant, every occupation, every utensil, every fixture should have a right place and no right place but one.‘ Perhaps the ultimate in specialisation was reached at the Scottish House of Kinmel, where one room was set aside entirely for ironing newspapers.

Christina Hardyment: Behind the Scenes – Domestic Arrangements in Historic Houses, The National Trust 1997, S, 23

Eine gute Ergänzung aus der Perspektive einer „kitchen maid“ bietet das Buch Below Stairs (1968) von Margaret Powell.

Fundstücke von Patrick Taylor und Betsy Hanson

Jack, always the consummate mimic, declared in the tone of one of the upper classes, ‚Old boy, in this life there will always be a certain amount of shit to be shovelled. I really would urge you to buy a long-handled spade and simply get on with it.‘

Aus: Patrick Taylor: An Irish Country Doctor, 2004, S. 109

When it came right down to it, what other option was there in life? You have to deal. Everyone does. I have my widowhood and my worries about Hans with his failed marriage and delayed music career. Laurel has her string of adjunct jobs. Frieda has her unrequited love for Arnold Wiggins. […] All human beings deal, in one way or another, until they die.

Aus: Betsy Hanson: Always Gardenia, 2018, S. 223

Fundstück von Sarah Moss

If she‘d known, she thinks, if she‘d known that she wasn‘t going to achieve financial comfort or even security as the years went by, if she‘d recognised the good times when she had them, she‘d have travelled more when she was young, she‘d have bought one of those train tickets, those passes, and gone everywhere, northern Norway to Sicily, Istanbul to County Clare. She‘d have taken a year out, several years out, before settling for Steve, worked her way round waitressing or whatever. If she‘d had the confidence then, if she‘d known how to apply for a passport and buy a ticket and board a plance when she was young enough to walk away. She should have gone to Paris and Vienna, to Venice. […] It probably doesn‘t matter, really.

aus: Sarah Moss: Summerwater, Picador, 2020, S. 4

60362b5b-c785-4325-af5e-a3ea034e3f30

Fundstück von Hildegard Knef

Liebeserklärung an einen Großvater

Meiner hieß Karl, er war mittelgroß und genauso kräftig, wie er aussah. Er trug den Kopf sehr gerade, die Wirbelsäule auch, und er hatte einen großen Mund mit vielen Zähnen; er hatte sie noch alle 32, als er mit 81 Jahren Selbstmord machte. Sein Jähzorn war das Schönste an ihm, erstens weil er sich nie gegen mich richtete und weil er so wild und rasch kam, wie er verging, und wenn vergangen, wurde sein Gesicht warm wie ein Dorfteich in der Sommersonne und seine Bewegungen verlegen und einem fischenden Bären gleich.

Mit diesen Sätzen beginnt Der geschenkte Gaul (1970) von Hildegard Knef.

Fundstück von Franz Werfel

Ich bin ein Buchstabe irgendwo in einem großen, dicken Roman. Meine eigene Bedeutung kenne ich nicht, noch auch die Bedeutung der wenigen benachbarten Buchstaben, die ich von meinem Platz aus erblicken kann. Ich weiß nicht, zu welcher Silbe wir gehören, aus der, mit anderen Silben, das unbekannte Wort sich zusammenfügt, das uns umfaßt und mit unzähligen andern unbekannten Worten die Zeilen des Buches bildet, die seine Seiten regelmäßig erfüllen. Da ich nicht einmal Sinn und Bedeutung des Buchstabens erkenne, der ich selbst bin, wie könnte ich etwas vom Sinn des ganzen, großen, dicken Romans wissen, von seiner Handlung, Einteilung, von seinem Aufbau, dem Anfang und Ende, den Verwicklungen und Lösungen, Haupt- und Nebenpersonen – und wie gar etwas von seinem Autor? Da ich aber immerhin ein Buchstabe des großen Ganzen bin, wie in einem geheimnisvollen Reigen meine mir unverständlichen Neben-Lettern an den Händen haltend, da ich mithin in einem Zusammenhang stehe, in dem ununterbrochenen Duktus der mir verborgenen Geschichte, der auch meine eigene Existenz durchweht, so erfüllt mich das feste Bewußtsein: ein sinnvolles Teilchen zu sein, das vom lesend-schreibenden Auge jenseits des Buches mühelos entziffert und verknüpft wird. Angestrahlt von diesem jenseitigen Auge, nährt der kleine Buchstabe die sichere Hoffnung, nein, die stolze Ahnung, daß er dem Ganzen nicht nur notwendig zur Ganzheit diene, sondern dessen unermeßlich unbekannten Sinn auch in seiner eigenen Winzigkeit enthalte.

Zitiert nach: Hans Jürgen Balmes (Hrsg.): Mein Erstes Buch – Autoren erzählen vom Lesen, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2002, S. 89 – 90

Aus: Leben heißt, sich mitteilen. Betrachtungen, Reden, Aphorismen, Fischer Verlag 1992

Fundstück von Andrej Kurkow

Selbst das Leben erschien ihm leicht und sorglos, ungeachtet der schwierigen Momente. Nur selten dachte er noch an seine eventuelle Mitwirkung bei irgendwelchen dunklen Geschichten. Was gibt es nicht alles auf der Welt? Es war lediglich ein kleiner Teil des unbekannten Bösen, das um ihn herum existierte, aber es betraf ihn und seine kleine Welt nicht persönlich. Und offensichtlich war die Unwissenheit über seinen eigenen Anteil an diesen dunklen Geschäften die Garantie für seine Ruhe, die Garantie dafür, daß seine Welt nicht angerührt wurde. 

Andrej Kurkow: Picknick auf dem Eis, Diogenes, Zürich 1999, S. 213

Fundstück von Kafka

Auch wenn mir das Zitat von Franz Kafka (1883 – 1924) mit der Axt und dem Meer viel zu dramatisch, einseitig und apodiktisch ist, freue ich mich, den Brief gefunden zu haben, aus dem es stammt.

Kafka schrieb am 27. Januar 1904 an Oskar Pollak (1883 – 1915):

Lieber Oskar!

Du hast mir einen lieben Brief geschrieben, der entweder bald oder überhaupt nicht beantwortet werden wollte, und jetzt sind vierzehn Tage seitdem vorüber, ohne daß ich Dir geschrieben habe, das wäre an sich unverzeihlich, aber ich hatte Gründe. Fürs erste wollte ich nur gut Überlegtes Dir schreiben, weil mir die Antwort auf diesen Brief wichtiger schien als jeder andere frühere Brief an Dich – (geschah leider nicht); und fürs zweite habe ich Hebbels Tagebücher (an 1800 Seiten) in einem Zuge gelesen, während ich früher immer nur kleine Stückchen herausgebissen hatte, die mir ganz geschmacklos vorkamen. Dennoch fing ich es im Zusammenhange an, ganz spielerisch anfangs, bis mir aber endlich so zu Mute wurde wie einem Höhlenmenschen, der zuerst im Scherz und in langer Weile einen Block vor den Eingang seiner Höhle wälzt, dann aber, als der Block die Höhle dunkel macht und von der Luft absperrt, dumpf erschrickt und mit merkwürdigem Eifer den Stein wegzuschieben sucht. Der aber ist jetzt zehnmal schwerer geworden und der Mensch muß in Angst alle Kräfte spannen, ehe wieder Licht und Luft kommt. Ich konnte eben keine Feder in die Hand nehmen während dieser Tage, denn wenn man so ein Leben überblickt, das sich ohne Lücke wieder und wieder höher türmt, so hoch, daß man es kaum mit seinen Fernrohren erreicht, da kann das Gewissen nicht zur Ruhe kommen. Aber es tut gut, wenn das Gewissen breite Wunden bekommt, denn dadurch wird es empfindlicher für jeden Biß. Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht, wie Du schreibst? Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir zur Not selber schreiben. Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder verstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Das glaube ich.

Aber Du bist ja glücklich, Dein Brief glänzt förmlich, ich glaube, Du warst früher nur infolge des schlechten Umgangs unglücklich, es war ganz natürlich, im Schatten kann man sich nicht sonnen. Aber daß ich an Deinem Glück schuld bin, das glaubst Du nicht. Höchstens so: Ein Weiser, dessen Weisheit sich vor ihm selbst versteckte, kam mit einem Narren zusammen und redete ein Weilchen mit ihm, über scheinbar fernliegende Sachen. Als nun das Gespräch zu Ende war und der Narr nach Hause gehen wollte – er wohnte in einem Taubenschlag -, fällt ihm da der andere um den Hals, küßt ihn und schreit: danke, danke, danke. Warum? Die Narrheit des Narren war so groß gewesen, daß sich dem Weisen seine Weisheit zeigte.-

Es ist mir, als hätte ich Dir ein großes Unrecht getan und müßte Dich um Verzeihung bitten. Aber ich weiß von keinem Unrecht.

Dein Franz

Zitiert nach: Hans Jürgen Balmes (Hrsg.): Mein Erstes Buch – Autoren erzählen vom Lesen, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2002, S. 139 – 140

Aus: Franz Kafka: Briefe 1900 – 1912. Hg. Von H. G. Koch, Fischer Verlag 1999

Fundstück von Margrit Baur über das Nichtstun

Nichtstun bedeutet: eine Weile alles lassen, wie es ist. Mit Ärger und Wut im Bauch ist es nicht zu machen. Voraussetzung ist ein bißchen Nachsicht: gegenüber sich und der Welt. Eine unmerkliche Verschiebung der inneren Gewichte. Weil die Sonne scheint. Weil ich gut geschlafen habe. Weil mir ein Satz geglückt ist. Da wächst hinter der Vorsicht ein schüchternes Vertrauen auf, und ich kann die Hände öffnen, alle Pläne fahrenlassen, stillhalten. […] Ich finde Nichtstun eine wunderbare Sache. Ein wenig wie Kopfstehen: die Perspektiven werden durcheinandergerüttelt, und wenn man wieder auf die Füße kommt, sieht alles anders aus. Und außerdem (aber vielleicht wäre das eine Hauptsache) enthält es einen Keim zum Aufruhr, da es sich wirtschaftlich nicht verwerten läßt.

aus: Margrit Baur: Überleben, Suhrkamp, Frankfurt 1981, S. 152

EC46074F-99D9-452F-91AC-38853D11BFD6

Fundstück von Reiner Kunze

Mir in der  Tat jedes Buch beschaffen zu können, das ich lesen will, gehört zu den Grundelementen des Gefühls, ein freier Mensch zu sein.

aus: Hans Jürgen Balmes (Hrsg.): Mein Erstes Buch – Autoren erzählen vom Lesen, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2002, S. 86

Fundstück von Hans Jürgen Balmes

Jeder von uns hat irgendwann diese Liste [der Bücher, von denen man annimmt, sie in seinem Leben leider nicht mehr lesen zu können] im Kopf, trotzdem darf man die Ruhe nicht verlieren und die Lektüre fahrig werden lassen.

aus: Hans Jürgen Balmes (Hrsg.): Mein Erstes Buch – Autoren erzählen vom Lesen, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2002, S. 87

IMG_E2176

Fundstück von Dieter Forte

Ich kann mich so sehr in einer Lesewelt verlieren, daß mir die wirkliche ganz fremd wird – was ja gefährlich sein kann, wenn man zum Beispiel aus einem Roman kommt, in dem es keine Autos gibt, und man über die Straße muß.

aus: Hans Jürgen Balmes (Hrsg.): Mein Erstes Buch – Autoren erzählen vom Lesen, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2002, S. 39

AC5E2020-9A29-4E6F-AC12-D4F9E23A66F4

Fundstück von Gerhard Roth

Jeder Leser und jeder wirklich leidenschaftlich Reisende empfindet das Lesen oder eben das Reisen als eine Art Desertieren aus seinen Lebensumständen. Ist man ein guter Reisender, verläßt man sein Zuhause mit dem winzigen Hintergedanken, nie mehr zurückzukehren. […] Die Würze einer Reise ist doch, irgendwohin zu gehen, wo Rückkehr keine Rolle mehr spielt. Sie ergibt sich ja automatisch, aber beim Aufbruch muß sie einem gleichgültig sein.

aus: Hans Jürgen Balmes (Hrsg.): Mein Erstes Buch – Autoren erzählen vom Lesen, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2002, S. 21

35273524-6247-4FE9-8EAF-DADA28B45B3F

Fundstück von Clare Chambers

The days had passed without great peaks and troughs of emotion; her job and the domestic rituals that went with each season had been sufficiently varied and rewarding to occupy her. Small pleasures – the first cigarette of the day; a glass of sherry before Sunday lunch; a bar of chocolate parcelled out to last a week; a newly published library book, still pristine and untouched by other hands; the first hyacinths of spring; a neatly folded pile of ironing, smelling of summer; the garden under snow; an impulsive purchase of stationary for her drawer – had been encouragement enough. She wondered how many years – if ever – it would be before the monster of awakened longing was subdued and she could return to placid acceptance of a limited life.

aus: Clare Chambers: Small Pleasures, Weidenfeld & Nicolson 2020, S. 328

Fundstück von Karl Philipp Moritz

Allen Lehrerinnen und Lehrern ins Stammbuch:

Möchte dies alle Lehrer und Pädagogen aufmerksamer und in ihren Urteilen über die Entwickelung der Charaktere junger Leute behutsamer machen, daß sie die Einwirkung unzähliger zufälliger Umstände mit in Anschlag brächten, und von diesen erst die genaueste Erkundigung einzuziehen suchten, ehe sie es wagten, durch ihr Urteil über das Schicksal eines Menschen zu entscheiden, bei dem es vielleicht nur eines aufmunternden Blicks bedurfte, um ihn plötzlich umzuschaffen, weil nicht die Grundlage seines Charakters, sondern eine sonderbare Verkettung von Umständen an seinem schlecht in die Augen fallenden Betragen Schuld war.

Aus: Karl Philipp Moritz: Anton Reiser, Könemann, Köln 1997, S. 187

Fundstück von Friedrich Glauser

Was die Menschen doch alles fanden! Da gab es: Eheberater, bestallte Psychologen, Psychotherapeuten, Fürsorger; es waren erbaut worden: Trinkerheilanstalten, Erholungsheime und Erziehungsanstalten … All dies wurde eifrig und bureaukratisch betrieben … Aber viel eifriger noch und weniger bureaukratisch wurden fabriziert: Gasbomben, Flugzeuge, Panzerkreuzer, Maschinengewehre … Um sich gegenseitig umzubringen … Es war wirklich eine kohlige Sache um den Fortschritt…

aus: Friedrich Glauser: Matto regiert (1936), DAS MAGAZIN – Schweizer Bibliothek, Bd 1, S. 187

Fundstück von Olga Tokarczuk

Als wir im zweiten Jahr die Funktion von Schutzmechanismen behandelten und verwundert die Macht dieses Teils unserer Psyche erkannten, verstanden wir allmählich eines: Wenn wir keine Rationalisierung, Sublimierung, Verdrängung, keines dieser Kunststückchen hätten, derer wir uns bedienen, wenn wir ganz schutzlos, ehrlich und mutig die Welt betrachten würden – dann würde es uns das Herz brechen.

Was wir in diesem Studium lernten, war, dass wir aus Schutzvorrichtungen bestehen, aus Schild und Rüstung, wir sind Städte, deren Architektur aus Mauern, Basteien und Befestigungen besteht, wir sind Bunkerstaaten.

aus: Olga Tokarczuk: Unrast, Kampa Verlag, Zürich 2019, S. 19

Fundstück von Karl-Markus Gauß

Das Warten ist die unmerkliche Bewegung des Todes. Immer warten wir auf etwas, auf die Mittagspause, das Wochenende, den Besuch der Kinder, die Beförderung, den Urlaub, das Ende des Urlaubs, die Pensionierung, und darüber werden wir alt und sterben wir.

aus: Karl-Markus Gauß: Abenteuerliche Reise durch mein Zimmer, Unionsverlag 2020, S. 28

8996A1AB-E3C1-4088-A661-0A3F5E957B42

Fundstück von Eva Sternheim-Peters

Was wäre gewesen, wenn die katholischen Geistlichen, die Ordensschwestern und Ordensbrüder, an denen es in Paderborn, weiß Gott, nicht mangelt, sich 1941 einen Judenstern an die Soutane, das Ordenshabit, die Schwesterntracht gesteckt hätten? Wenn in allen Kirchen offen und unverhüllt für die Juden gebetet und gegen ihren Abtransport gepredigt worden wäre – nicht von Einzelnen, sondern von allen […]? Man hätte die katholischen Sternträger nicht alle verhaften können, ohne das Risiko eines Volksaufstandes in Paderborn einzugehen.

aus: Eva Sternheim-Peters: Habe ich denn allein gejubelt? Europa Verlag, Berlin 2015, S. 423

Fundstück von William Henry Hudson

Meines Erachtens ist nichts so ergötzlich im Leben wie das Gefühl der Entspannung, des Entrinnens und der vollkommenen Freiheit, das man in einer weiten Einöde erfährt, wo der Mensch vielleicht noch nie gewesen war und jedenfalls keine Spur seines Daseins hinterlassen hat.

aus: William Henry Hudson: Müßige Tage in Patagonien, Matthes & Seitz, Berlin 2019, Naturkunden NO. 57, S. 12, aus dem Englischen von Rainer G. Schmidt

Im Original lautet die Stelle:

To my mind there is nothing in life so delightful as that feeling of relief, of escape, and absolute freedom which one experiences in a vast solitude, where man has perhaps never been, and has, at any rate, left no trace of his existence.

IMG_0022

 

Fundstücke von Edward Abbey

Die Trump-Administration arbeitet inzwischen unter Hochdruck daran, die öffentlichen Ausgaben für die Nationalparks zu reduzieren, möglichst viel der dortigen Infrastruktur zu privatisieren, noch mehr Camper in die Parks zu bringen und ihnen sogar Amazonlieferdienste anzubieten. Siehe diesen Artikel aus dem Guardian. Trump selbst spricht von den „harmful and unnecessary restrictions on hunting, ranching and responsible economic development”, die dringend aufgehoben werden müssten.

Hier kann man, wenn man sich gruseln möchte, die entsprechende Rede, in der alte Schutzbestimmungen mal eben ausgehebelt werden, noch einmal in Gänze nachlesen.

Abbey beobachtete diese Entwicklung bereits 1968:

Manch einer tritt sogar offen und rückhaltlos dafür ein, auch die letzten Überbleibsel der Wildnis auszumerzen und die Natur nicht den Erfordernissen des Menschen, sondern der Industrie zu unterwerfen. Das ist eine mutige Ansicht, bewundernswert in ihrer Einfachheit und Kraft […] Zugleich ist sie ziemlich schwachsinnig, und ich sehe mich außerstande, hier weiter auf sie einzugehen. (S. 70)

Der industrielle Tourismus ist ein Riesengeschäft. Er riecht förmlich nach Geld. An ihm sind Motel- und Restaurantbesitzer, Tankstellenbetreiber, Ölkonzerne, Straßenbaufirmen, Baumaschinenhersteller, Behörend auf Landes- und Bundesebene und die unabhängige, allmächtige Autoindustrie beteiligt. Diese unterschiedlichen Interessengruppen sind gut organisiert, befehlen über mehr Reichtum als die meisten modernen Nationen und sind im Kongress in einer Stärke vertreten, die weit über das hinausgeht, was noch verfassungsgemäß oder demokratisch zu rechtfertigen wäre. (S. 72)

aus: Edward Abbey: Die Einsamkeit der Wüste (1968)

Siehe dazu auch zwei wie immer fantastisch illustrierte Beiträge auf dem Blog Safe Travels:

Fundstück von Edward Abbey

A weird lovely fantastic object out of nature, like Delicate Arch, has the curious ability to remind us — like rock and sunlight and wind and wilderness — that out there is a different world, older and greater and deeper by far than ours, a world which surrounds and sustains the little world of men as sea and sky sustain a ship.  The shock of the real.  For a little while we are again able to see, as a child sees, a world of marvels.  For a few moments we discover that nothing can be taken for granted, for if this ring of stone is marvelous all which shaped it is marvelous, and our journey here on earth, able to see and touch and hear in the midst of tangible and mysterious things-in-themselves, is the most strange and daring of all adventures.

aus: Edward Abbey: Desert Solitaire (1968)

USAb0153

 

Fundstück von Elizabeth von Arnim

Wenn man alles Gewicht abwerfen will, das auf der Seele lastet, nachdem man versucht hat, seine Pflicht zu tun, oder wenn man geduldig ertragen mußte, daß andere ihre Pflicht einem selbst gegenüber erfüllt haben, so kenne ich keinen besseren Weg, als alleine hinauszugehen – entweder am Tagesanfang, wenn die Erde noch unberührt ist und  nur Gott überall ist, oder am Abend. Dann herrscht das Schweigen bis hin zu den Sternen, und zu ihnen hinaufschauend, erkennt man die Armseligkeit des vergangenen Tages, die Wertlosigkeit aller Dinge, um die man sich gemüht hat, und die Torheit, ärgerlich, ruhelos und angstvoll gewesen zu sein.

aus: Elizabeth von Arnim: Elizabeth auf Rügen (1904), S. 115

IMG_7648

 

Fundstück von Christopher St. John Sprigg

Nichts Neues unter der Sonne.

In der ansonsten ausgesprochen überflüssigen Neuauflage des Krimis Crime in Kensington (1933) von Christopher St. John Sprigg denkt die Hauptfigur Charles Venables, Hobby-Detektiv und Schmierenjournalist, über seinen eigenen Arbeitgeber, die Zeitung Mercury nach.

A paper that by pandering to the basest sensationalism of the common people climbed on stepping stones of discarded ethics to higher things. A paper whose public had brains with linings so corroded and crusted by jazz, sentimental films and cheap literature that the most earth-shaking events of the world had to be predigested and peptonized before they could be absorbed. A paper whose political policy had been invariably allied with the most reactionary and antisocial elements of English life. (S. 109)

957B718C-43B8-465B-B298-35512A56626D

Fundstück von Walter Kappacher

Nach dem Frühstück hatte er sich aufs Bett gelegt und die Erzählung „The Lesson of the Master“ zu lesen begonnen: „He had been informed that the ladies were at church …“ Es hatte ihm wohlgetan, an der sicheren Hand des Autors in die Geschichte hineingezogen zu werden.

aus: Walter Kappacher: Der Fliegenpalast, Residenz Verlag, 2009, S. 20

Fundstück von Eva Sternheim-Peters

Bei diesen Sätzen aus Eva Sternheim-Peters Buch Habe ich denn allein gejubelt? frage ich mich, wann wir denn die unverhüllten Drohungen, (sexuellen) Gewaltfantasien, die verrohte Sprache und Denkweise, das Verschwörungsgeschwurbele, die Selbststilisierung als Opfer, die Machtdemonstrationen, das Aufrichten von Feindbildern, die Größenwahnwahnsinnsideen und das Einschüchterungsgehabe der Neunazis ernst nehmen und politisch, gesellschaftlich sowie strafrechtlich dagegen vorgehen? Statt diese unselige Suppe zu verharmlosen, zu ignorieren oder ihr gar das Mäntelchen der Meinungsfreiheit umzuhängen.

Der Paderborner SA-Sturm pflegte regelmäßig vor der Krankenkasse das Lied vom Sturmsoldaten anzustimmen, wenn die Marschkolonne bei Dienstschluss ihre Standarte heimbrachte. So musse E.s Familie viele Male den auf die jüdischen Nachbarn gemünzten Refrain mit anhören und ebenso oft das ärgerliche Zischen der Mutter: ‚Ach, das heißt ja nichts‘, wenn es von draußen klar und überdeutlich hereinschallte: ‚Ja, wenn das Judenblut vom Messer spritzt, dann geht’s noch mal so gut. Soldaten, Kameraden, hängt die Juden, stellt die Bonzen an die Wand.‘ (S. 369)

Fundstück von Olga Tokarczuk

‚Hast du keine Taschenlampe?, fragte er. Natürlich hatte ich eine, aber wo? Das würde ich erst am nächsten Morgen sagen können. So ist es mit Taschenlampen: Am besten man sucht sie, wenn es hell ist.

aus: Olga Tokarczek: Gesang der Fledermäuse, übersetzt von Doreen Daume, S. 9

‚Don’t you have a flashlight?‘ he asked. Of course I had one, but I wouldn’t be able to tell where it was until morning. It’s a feature of flashlights that they’re only visible in the daytime.

aus: Olga Tokarczek: Drive your Plow over the Bones of the Dead, übersetzt von Antonia Lloyd-Jones, S. 3