Robert Cedric Sherriff: The Fortnight in September (1931)

Anlässlich der neuen deutschen Übersetzung des Romans von R. C. Sherriff (1896 – 1975) von Karl-Heinz Ott, die im Juni 2023 unter dem Titel Zwei Wochen am Meer im Unionsverlag erschienen ist, gibt’s heute mal einen Post aus dem Archiv:

The Fortnight in September ist eines dieser nur auf den ersten Blick unspektakulären, ja fast biederen Bücher, die sich dann auf leisen Sohlen zu ihrem Platz im Regal der Lieblingsromane schleichen. Doch von vorn:

On rainy days, when the clouds drove across on a westerly wind, the signs of fine weather came from over the Railway Embankment at the bottom of the garden. Many a time, when Mrs. Stevens specially wanted it to clear up, she would look round the corner of the side door and search along the horizon of Railway Embankment for a streak of lighter sky.

Schon seit 20 Jahren – immer im September – fahren Mr und Mrs Stevens mit ihren drei Kindern für 14 Tage in die gleiche Pension ins britische Seebad Bognor. Also tägliche Spaziergänge auf der Strandpromenade, Musikpavillions, Jahrmarktsrummel, vormittägliches Baden, gutes Essen, das ganze Programm.

Und bei einem dieser Familienurlaube und den dazu notwendigen Vorbereitungen – schließlich muss der Kanarienvogel bei der Nachbarin untergebracht, die Versorgung der Katze sichergestellt und der Gepäcktransport zum Bahnhof organisiert werden – begleiten die Leserinnen und Leser die Familie.

Die ängstliche Mrs Stevens, schon eine belebte U-Bahn-Station ist ihr ein Graus, gewinnt im Laufe des Buches am wenigsten Kontur. Noch nicht einmal ihre Familie weiß, dass ihr die abendliche Stunde im Urlaub die liebste ist, die sie nach dem Abendessen allein mit ihrem – natürlich rein medizinischen – Glas Portwein und einer Handarbeit verbringt.

Und während der zehnjährige Ernie nach einem langen Strandtag schon tief und fest schläft, bummeln die beiden wesentlich älteren Geschwister Dick und Mary noch ein wenig durch den Küstenort. Die beiden sind seit kurzem berufstätig, wohnen aber noch zu Hause, doch alle ahnen, dass die Zeit der gemeinsamen Familienurlaube sich allmählich dem Ende zuneigt.

Mr Stevens, der sich vom Laufburschen zum Angestellten hochgearbeitet hat, ist ein liebevoller Familienvater, zwar ein wenig pedantisch und alles akribisch planend, dabei aber immer darauf bedacht, dass jedes Familienmitglied im Urlaub seinen Interessen nachgehen kann, und so verfügt er, dass alle zwei Tage jeder seinem eigenen Tagesprogramm folgt, damit man sich nicht gegenseitig auf die Nerven fällt und, wenn die Familie wieder zusammenkommt, auch etwas zu erzählen hat. Die Abende beschließt er mit einem Bier in seinem Lieblingspub.

Klingt das unspektakulär? Fast ein wenig hausbacken? Ja, sicherlich, und doch hat das Buch – neu aufgelegt in der elegant-grauen Reihe der Persephone Books – einen ganz eigenen Reiz.

Der Erzähler lässt seinen Figuren ihre Durchschnittlichkeit, ihre Begrenzung und manchmal ist es auch des Auktorialen ein wenig zu viel. Dennoch mochte ich sehr, wie die unbändige, fast naive Freude an 14 Tagen Urlaubsfreiheit spürbar und nachvollziehbar wurde. Wie sehr die fünf diese Zeit als Familie genossen und alle kleinen und großen Aufregungen gemeinsam gemeistert und besprochen haben.

Mr Stevens hat beispielsweise das Ritual, einen Tag im Urlaub ganz allein eine lange Wanderung zu unternehmen, in der er seine Vergangenheit, seine Ehe und im Besonderen das vergangene Jahr Revue passieren lässt. Das richtet ihn wieder aus und versöhnt ihn mit Enttäuschungen und geplatzten Hoffnungen.

Der Horizont der „kleinen Leute“ mag eng sein, so wie metaphorisch schon der Eisenbahndamm am Ende des Gartens die Sicht versperrt, und die Stevens mögen sich durchaus durch Reichtum und selbstsicheres Auftreten anderer beeindrucken und auch einschüchtern lassen; dennoch wird deutlich, dass sie Arroganz und moralische Leere durchschauen und stolz auf ihre Familie sind.

Der Haupteindruck, der von der Lektüre zurückbleibt, ist der, dass Sherriff ein freundliches Buch geschrieben hat. Das ist weder platt noch Heile-Welt-Idylle, aber ein freundliches, ein menschenfreundliches Buch.

Und letztendlich gilt es doch für uns alle, was Mr. Stevens am letzten Abend  durch den Kopf geht:

The first evening came back to him very clearly as he sat in the armchair to finish his pipe before going up to bed. He had known on that first night how quickly the holiday would slip away, and had pictured himself as he would be sitting on the last evening, looking back with mingled pleasure and sadness. (S. 319)

Das Buch war damals ein unglaublicher Überraschungserfolg, wurde auch von der Kritik begeistert aufgenommen, in mehrere Sprachen übersetzt und erschien 1933 in einer deutschen Übersetzung unter dem Titel Badereise im September.

Walter Benjamin hat damals den Roman besprochen und sah in ihm besonders die Fähigkeit der „kleinen Leute“ verkörpert, sich ihren Alltag durch kleine Fluchten und Tagträumereien erträglich zu machen, eine recht herablassende Haltung, wie  mir scheint.

Fast 90 Jahre nach der Ersterscheinung, im Frühjahr 2020, bat der Guardian renommierte Schriftsteller und Schriftstellerinnen um Lektüretipps, mit denen man sich die Pandemie ein wenig erträglicher machen könne. Kazuo Ishiguro empfahl – wie schön – A Fortnight in September.

Hier lang zu einem Interview mit Karl-Heinz Ott, der das Buch ins Deutsche übersetzt hat, auch wenn sich darin leider kein Hinweis auf die alte deutsche Übersetzung von 1933 findet.

Hier gibt es eine Besprechung von Meike Albath auf der Seite des Deutschlandfunks.

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Tim Slessor: First Overland – Als Erste im Land Rover 18.000 Meilen von London nach Singapur (OA 1957)

Mitte der fünfziger Jahre: Fünf junge Männer, die entweder gerade in den letzten Semestern ihres Studiums in Cambridge bzw. Oxford stecken oder kürzlich ihr Studium beendet haben, sowie der Sekretär des Automobilclubs der Universität brüten einen leicht wahnsinnigen Traum aus. Obwohl sie weder über Geld, Ausrüstung noch geeignete Fahrzeuge verfügen, finden sie es eine super Idee, es als erste motorisierte Expedition über Land von London bis nach Singapur zu schaffen und nebenher noch ein paar Untersuchungen zu ihren jeweiligen Fachgebieten durchzuführen. Monatelang bereiten sie sich akribisch vor, wobei jeder der Teilnehmer für einen Bereich besonders zuständig ist, sei es die geschäftliche Seite, die Organisation von Visa und Dokumenten, die Vorratshaltung oder eben die Wartung der Fahrzeuge. 

800 Kilometer nordöstlich von Kalkutta, jenseits der Teegärten von Assam, erheben sich die verschlungenen Bergrücken des Patkai- und des Naga-Gebirges. Diese von Urwäldern überzogenen Ausläufer des Himalaya bilden eine der großen natürlichen Grenzen unserer Erde. Es gibt bis heute keine befestigte Straße, die hinüberführt. Lediglich während der Kriegszeit, im Jahr 1944, hatte man zwei Trassen durch den Urwald geschlagen, bis nach Burma, und für einen kurzen Zeitraum offen gehalten. Doch nach der Niederschlagung der Japaner waren diese strategischen Versorgungslinien überflüssig geworden. Im Laufe unserer Erkundigungen erfuhren wir, dass seit dem Ende des Krieges keine der beiden Straßen mehr in Benutzung gewesen war. Wahrscheinlich waren sie völlig zugewuchert und unpassierbar geworden, nachdem die einst planierten Straßendecken zehn Jahre lang den heftigsten Monsunregen der Welt ausgesetzt waren. Wollte man aber von Kalkutta aus auf dem Landweg weiterkommen, gab es keine andere Möglichkeit – was ein Problem war, aber zugleich auch der Grund dafür, weshalb wir Singapur als Ziel gewählt hatten. (S. 18)

Sie beschwatzen die BBC, ihnen Geld für eine Filmkamera zu geben, überzeugen Rover, ihnen zwei fabrikneue und für sie modifizierte Land Rover zur Verfügung zu stellen, und gewinnen alle möglichen und unmöglichen Firmen als Sponsoren und Ausrüster für ihre geplante Tour.  

Im September 1955 geht es schließlich los.

Eines der Ergebnisse dieser Expedition ist der launige, spannende und manchmal haarsträubende Reisebericht von Tim Slessor, der im Deutschen unter dem Titel First Overland – Als Erste im Land Rover 18.000 Meilen von London nach Singapur 2023 im Malik Verlag erschienen ist. Die Originalausgabe erschien 1957.

Die 343 Seiten sind randvoll mit Anekdoten, Landschaftsschilderungen, politischen und geschichtlichen Informationen – besonders die aberwitzigen Ausläufer des Zweiten Weltkriegs haben mich ins Nachdenken gebracht -, und mit Hinweisen auf das erst kürzlich untergegangene britische Empire. Die jungen Männer werden aufgrund ihrer Nationalität überall wie Ehrengäste bewirtet und in Indien beispielsweise von einem anglo-indischen Gastgeber oder Plantagenbesitzer an den nächsten weitergereicht. Auch den Autor selbst ficht die koloniale und ausbeuterische Vergangenheit seines Landes nicht an:

Was auch immer die Briten in Indien versäumt haben zu tun – wobei unsere Errungenschaften unendlich viel größer waren, als einige unserer Kritiker die Welt glauben lassen wollen -, wir haben drei Dinge hinterlassen, die die Menschen dort ohne uns niemals gehabt hätten. Das erste davon ist eine gemeinsame Sprache – Englisch -, die in einem Land mit so vielen unterschiedlichen Dialekten und Idiomen nach wie vor die einzige Sprache ist, die überall verstanden wird, und daher die einzige Möglichkeit darstellt, das Land zu regieren. Zweitens: Wo vorher ein uneiniger Haufen kleiner Staaten war, ließen wir eine geeinte Nation zurück. […] Und drittens hinterließen wir dem Land eine Hauptstadt, die seiner gewaltigen Größe würdig ist. (S. 181)

Sie besuchen Tee-Plantagen, verteidigen ihre Vorräte gegen gewitzte Dorfkinder, ruinieren mit ihren schweren Fahrzeugen eine Brücke, haben Unfälle und fahren lebensgefährliche Haarnadelkurvenstrecken, gehen in Lashio, einer Stadt im heutigen Myanmar, ins Kino und feuern mit den Einheimischen die Helden aus Im Schatten der Krone an und spielen ein bisschen Schatzsucher in den Rubinminen des Landes – die gefährlichen Arbeitsbedingungen werden dabei geflissentlich ignoriert – und durchqueren Rebellengebiete auf der geschichtlich bedeutsamen Stilwell Road.

Zwei Tage später erreichten wir Ledo. Das war das äußerste Ende der Assam Trunk Road, und von hier aus hatte General Stilwell seine Versorgungstrasse Richtung Süden nach Burma gebaut. Das Dorf war einst ein Kommandoposten für die Alliierten gewesen und hatte Tausende schlammgrüner Armeelaster in Richtung Japan aufbrechen sehen, neben voll beladenen Transportflugzeugen, die langsam ihre Kreise zogen, um an Höhe zu gewinnen und die Luftbrücke nach China zu bilden. […] Einst hatten wir Nachrichten gehört, in denen dieser Teil der Welt von großer Bedeutung war. Das war zwölf Jahre her. Heute findet man Ledo nur noch auf den genaueren Landkarten. Es ist in Vergessenheit geraten. (S. 238)

Hin und wieder werden die jungen Männer von ihren diversen Interviewpartnern der einheimischen Presse in die politischen Auseinandersetzungen der jeweiligen Länder hineingezogen. So sollen sie mal eben die Gemeinsamkeiten zwischen Großbritannien und Thailand erörtern und in Indien erhofft man sich von ihnen gehässige Kommentare über Pakistan. Verhalten und leise klingen auch Zweifel an der westlichen Fortschrittsgläubigkeit an – oder ist es nur die europäische Hoffnung auf ein paar pittoreske Fleckchen, die man im Urlaub besuchen kann?

In Kathmandu findet man nicht das Elend und die große Armut, die sonst überall in Indien herrschen. Die Gebäude wirken malerisch, das Wetter ist perfekt; die Menschen sind bunt und fröhlich und überschlagen sich beinahe vor Freundlichkeit. […] Es gibt keine Industrie, keine Eile, keine Neonreklame, keine Kinos. Zeit ist hier nicht besonders wichtig, und obwohl Nepal eines der rückständigsten Länder Asiens ist, möchte man am liebsten hoffen, dass das so bleibt. Doch schon jetzt kommen fast mit jedem Flugzeug wohlmeinende Berater mit Plänen für den wirtschaftlichen Fortschritt Nepals an. Man muss anerkennen, dass es gewichtige Gründe für derartige Pläne gibt, fragt sich aber trotzdem, ob diese unbekümmerten Menschen nicht unermesslich viel mehr verlieren, als sie gewinnen würden, wenn sie plötzlich mit Riesenschritten auf dieser Keiner-weiß-genau-Was zusteuern, das der Westen so liebevoll Fortschritt nennt? (S. 194)

Der Nachteil bei sechs Protagonisten ist, dass einem die jungen Männer nicht wirklich vertraut werden, dazu ist das Buch dann doch zu kurz und der Schwerpunkt des Erzählers liegt einfach eher auf der Strecke an sich und den zu bewältigenden Herausforderungen, Gefahren und Begegnungen.

Nicht immer geht es um das Reisen und Entdecken an sich. Manchmal ist es auch ein Abhaken wichtiger Termine, um die Geldgeber und Sponsoren zufriedenzustellen, sodass sie nicht alles, was sie gern gesehen hätten, sehen und nicht allen Einladungen folgen können, die ihnen gastfreundlich ausgesprochen werden.

Ich finde dieses unbekümmerte Aufbrechen in etwas gänzlich Ungewisses faszinierend und habe diese Reiseerinnerungen mit einigen Abstrichen gern gelesen, auch wenn sie hin und wieder etwas hektisch und oberflächlich daherkamen und in ihrem eher hemdsärmeligen Stil dem hinreißenden Das Morgenland ist weit von Oss Kröher nicht das Wasser reichen können.

Manchmal aber sollte man nicht allzu gründlich hinschauen, bevor man einen Sprung wagt, sondern lieber etwas zuversichtlich sein und dann gleichzeitig hinschauen und losspringen. (S. 19)

Elizabeth Bowen: The Hotel (1923)

She frowned at her own reflection: Was this what all these people really saw when they looked at her? She was accustomed to stare at people as from a point of vantage, forgetting she too had a face. They had thoughts, too (with these she often forgot to credit them); did they also think as they looked at oneself? (S. 23)

Bei The Hotel handelt es sich um den ein wenig spröden Debütroman der irischen Schriftstellerin Elizabeth Bowen (1899-1973), die u. a. mit Virginia Woolf befreundet war.

In einem Hotel an der italienischen Riviera verbringen einige britische Touristen zum Teil mehrere Wochen, wobei wir sie bei ihren Versuchen begleiten, die Zeit gepflegt und oft genug auch gelangweilt herumzubringen. Sie spielen Tennis, zeichnen ein wenig, beobachten einander, picknicken, gehen in die nächstgelegenen Cafés, tratschen, sind auf Brautschau und pflegen ihre Illusionen, wobei der kurzzeitige Ausfall des Hotelaufzugs für einige ein Ärgernis von unfasslicher Tragweite darstellt.

Einzelne halten sich für etwas Besseres und blicken auf die italienischen Angestellten des Hotels herab, als befände man sich höchstpersönlich im Dienste des Empires. Ältere verheiratete Männer träumen davon, noch einmal mit einer ganz jungen Frau ein Glück zu erleben. Und die zwei adligen Mrs und Miss Pinkerton sind einer Ohnmacht nahe, als ein Neuankömmling, Pfarrer Milton, in Unkenntnis der hotelinternen Absprachen, es wagt, ihr Bad und sogar ihre Badeschwämme zu benutzen.

Sleep, the uneasy sleep of daylight, had today been the refuge of many, for cold rain fell ceaselessly past the windows. It was a transparent rain without mist, like summer rain in England, through which trees and buildings for a great distance could be seen distinctly in a Japanese conventionality and flatness. Leaves and long palm-fonds shone and trickled. Curtailed in this pale gloom, the Hotel seemed permeated by a sense of the rain‘s despairing persistency, against which the reasonable conviction of visitors that the sun, bound by contract with the locality, must soon appear again put up cold walls around around the inward emptiness. In many rooms the tick of the travelling clocks, the stutter of rain along the balconies, were being listened to attentively. (S. 54)

Meine ursprüngliche Hoffnung, dass gerade das Gespinst an Verbindungen, zu denen so ein längerer Hotelaufenthalt doch führen könnte, sich als interessant erweist, erfüllt sich nicht. Stattdessen geht es immer ausschließlicher um Sydney, eine kluge junge Frau, die – sicherlich im Gegensatz zu den Gepflogenheiten der damaligen Zeit – studiert und nun der Einladung gefolgt ist, ihre ältere Cousine Tessa an die Riviera zu begleiten.

Sydney verbringt viel Zeit mit der von ihr verehrten, weltgewandten, ca. 40-jährigen Mrs Kerr, die sich im Laufe der Handlung als ausgesprochen manipulativ erweist. Die Freundschaft der beiden wird von den anderen Hotelgästen kritisch beäugt und als problematisch, ja als „unhealthy“ wahrgenommen. Doch als ihr 20-jähriger Sohn überraschend zu Besuch kommt, lässt Mrs Kerr Sydney schnöde fallen, vielleicht auch, weil sie sich ihrer Macht über Sydney zu sicher ist. Sydney ist daraufhin tief verletzt und desorientiert, was wiederum gravierende Folgen auch für weitere Hotelgäste hat.

Das Ganze wirkt klug beobachtet und wird nun nüchtern, distanziert und in langen Sätzen erzählt, ein wenig so, als ob man Insekten seziert. An keiner der Figuren habe ich wirklich Anteil genommen, was aber neben der Erzählweise auch daran liegen könnte, dass sich die meisten der ProtagonistInnen schon lange selbst abhanden gekommen sind, geht es doch vor allem um das Aufrechterhalten der Fassaden und darum, der Einsamkeit zu entfliehen.

As winter comes on with those long evenings one begins to feel hardly human, sitting evening after evening in an empty room. One can‘t always be going out or visiting people or inviting people to come to one. If I shut my drawing-room door, I begin to feel restless at once; it feels so unnatural shutting oneself in with nobody. If I open it, one hears the servants laughing, or something to worry one. I am fond of reading, but I always begin to feel that books are so bad; then of course I realize, well, it‘s not fair, is it, to expect a book to take the place of human society? […] Once I sat with the door open and, believe me, I could hear four different clocks ticking – I counted them – in different parts of the flat. It‘s not, of course, that I‘m nervous, but I really begin to feel – if you‘ll understand my saying anything so extraordinary – as if I didn‘t exist. If somebody does come to the door or the telephone does ring, I‘m almost surprised to find I‘m still there. One would go mad if one were not able to get abroad. (S. 63)

Die englische Wikipedia schreibt:

Bowen was greatly interested in „life with the lid on and what happens when the lid comes off“, in the innocence of orderly life, and in the eventual, irrepressible forces that transform experience.

Hier noch ein interessanter Blog-Eintrag zum Roman und Elizabeth Bowen.

Fundstück von Harriet Köhler

Wer in die Fremde fährt, findet sich dort nicht, sondern hat sich selbst im Gepäck – das hätten wir eigentlich wissen müssen. […] Wir entkommen uns nicht, egal wie weit wir wegfahren. Warum nur erhoffen wir uns genau das dann doch immer wieder? Warum bleiben wir nicht einfach zu Hause und machen das Beste aus dem, was wir sind?

aus: Harriet Köhler: Gebrauchsanweisung fürs Daheimbleiben, Piper, München 2019, S. 27

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Axel Hacke: Ein Haus für viele Sommer (2022)

Ohne die begeisterte Besprechung auf Kulturbowle wäre Ein Haus für viele Sommer von Axel Hacke vermutlich unbemerkt an mir vorbeigezogen und das wäre jammerschade gewesen.

Obwohl ich nicht einmal zu dem Kreis enthusiastischer Italien-Fans gehöre, ist dieses liebenswürdige und rundherum menschenfreundliche Buch wie ein kleiner Urlaub im Geiste, entschleunigend, sonnig, aber auch berührend, poetisch, informativ, respektvoll dem Gastort gegenüber und dabei herrlich selbstironisch und wunderbar reich an Menschen mit ihren Geschichten. Worum geht‘s?

Der Schwiegervater Axel Hackes (*1956) hat vor 50 Jahren einen alten, schiefen und ständig pflegebedürftigen ehemaligen Wehrturm, den torre, auf der italienischen Insel Elba gekauft und eigenhändig renoviert. Seit ca. 30 Jahren verbringt nun Familie Hacke dort mehrmals im Jahr kürzere und längere Urlaube.

Die Insel ist nicht groß, aber sie hat alles, was eine Insel braucht. (S. 16)

Und wir verfolgen nun, wie das ist, wenn der Ich-Erzähler lernen möchte, nichts zu tun, oder bestimmte Mentalitätsunterschiede navigieren muss, Handwerker braucht oder einem Ziegenhalter klarmachen will, dass dessen Ziegen nicht noch einmal den kompletten Hackeschen Garten kahlfressen dürfen, und ihm gerade noch rechtzeitig einfällt, dass man das Gespräch vielleicht nicht auf konfrontativ-deutsche Art angehen sollte.

Ein paar Tage, nachdem Ziegenhalter Dante tatsächlich bereit gewesen war, den Zaun höher zu machen – wenn auch immer noch nicht hoch genug für Ziegen – steht Hacke dem Ziegenbock gegenüber.

Zwei Tage später bin ich wieder oben und krame in der Hütte herum. Als ich herauskomme, steht auf einmal der Ziegenbock vor mir (…) Ein Ziegenbock ist eine imposante Erscheinung. Große Hörner. Ich bin Städter, ich bin Ziegenböcke nicht so gewöhnt. Ich bin also angemessen beeindruckt und trete den geordneten Rückzug an. Ab in die Hütte, Tür zu. Ja, nun, aber so kann das nicht bleiben. Ich muss etwas unternehmen. Ich schnappe mir den Schrubber, der an der Wand lehnt, öffne die Tür wieder und gehe mit dem erhobenen Putzgerät auf die versammelten Tiere zu. (…) der Bock glotzt mich ungerührt an, als hätte er noch nie einen Deutschen mit einem Schrubber in der Hand gesehen. (S. 93)

Hacke möchte sich aber auch ein Beispiel an den stets hilfsbereiten Nachbarn nehmen, die immer Zeit für ein Schwätzchen haben, egal, ob der Deutsche gerade meint, zu ach so wichtigen Besorgungen unterwegs zu sein.

Dieser Raum ist ein Lager für alte, unverbrauchte Zeit. Und von dieser alten, unverbrauchten Zeit verbrauche ich jetzt ein Viertelstündchen mit Pietro. Wenn dir dieser kleine, überaus freundliche Mann auf die Nerven geht, dann stimmt was mit deinen Nerven nicht, denke ich. (S. 10)

Die Idylle wird geerdet durch alltägliche Widrigkeiten. Wildschweine plündern den Schrebergarten der Familie. Das Haus hat immer mal wieder einen Wasserschaden und die Familie muss ins nächste Hotel flüchten, während die Handwerker dem Problem auf den Grund gehen.

Die Straßen im Dorf sind schmal, die Garage liegt in einem arg ungünstigen Winkel, der einem keinen Platz zum Rangieren lässt, und ist ohnehin nur 8 cm breiter als der Fiat 500. Die Möwen hingegen scheinen die Schutzhülle des Schlauchboots zu lieben und dementsprechend vollgekleckert ist sie am nächsten Morgen. Was aber der Freude an den vielen auf dem Wasser verbrachten Tagen keinen Abbruch tut.

Hier, in diesem kleinen Dorf, lässt sich trefflich nachdenken über das Leben.

Aber mir gefällt der Gedanke, dass alles noch da ist, was hier mal war, und dass nur keiner genau weiß, wo. Auch die Zeit des wuchernden Tourismus wird bestimmt eines Tages vorbei sein. Und was dann? (…) Tausende von Jahren. Und jetzt ist das unser Moment hier: die vielen Geschichten, die überall beginnen, vor meinen Augen, aber sie gehen irgendwohin, und ich habe keine Ahnung, wohin. (S. 123)

Genauso lernen wir aber auch etwas über die Geschichte der Insel, über Hippies und Künstler, Dichter, Forscher und Einzelgänger, über Erzabbau und die Entwicklung des Tourismus. Selbst auf die nervtötend lange Autofahrt von Deutschland nach Elba nimmt Hacke uns mit und wir freuen uns mit ihm, wenn alles wieder gut gegangen ist und er wie stets am ersten Urlaubsmorgen übermüdet mit einem Glas Wein am Küchentisch im Torre sitzt.

Was hat mich von anderen Reisen abgehalten? Bequemlichkeit? Lust an der Gewohnheit? Sparsamkeit? Angst vor dem Unbekannten? Vor der Welt? Provinzialität? Spießigkeit? (S. 33)

Am Ende hat sich für mich die Frage geklärt, warum er in den 30 Jahren, in denen er doch auch die Welt hätte bereisen können, immer wieder „nur“ zu seinem Torre in einem Dorf auf Elba gefahren ist.  

Die Antwort hat nichts oder nur sehr wenig mit Gewohnheit oder gar Spießigkeit zu tun. Wir alle kehrten gern in so ein Dorf zurück, wo man ein – hoffentlich – wohlgelittener Gast ist, der zwar das Stadium des Touristen hinter sich gelassen hat, aber dennoch weiß, was er dem Gastgeber schuldig ist. An einen hellen und warmen Ort, an dem man weder fremdbestimmt ist noch irgendwelchen Zielen hinterherrennt, sondern einfach den lieben langen Tag das tut, was man mag. Ein Ort, der dabei genügend Raum für Alleinsein, Familie, Alltag, Begegnungen, Geschichten und Ausgedachtes bietet.

Vorausgesetzt, man hört sich und den Menschen und ihren Geschichten so aufmerksam zu, wie Axel Hacke das hier getan hat. 

So mache ich es jetzt. Ich lege mich aus. Lasse anbeißen, was immer zum Anbeißen vorbeikommt. Vergeude ein paar Stunden. (S. 146)

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Christina Hardyment: Heidi’s Alp – One Family’s Search for Storybook Europe (1987)

Bei dem wie üblich nur mäßig erfolgreichen Versuch, meine Buchregale zu entrümpeln, fiel mir dieses unschön vergilbte Secondhandbuch, das schon seit Jahren in meinem Regal herumlungerte, wieder in die Hände. Und was soll ich sagen – ich habe schon lange nicht mehr mit so viel Vergnügen einen Reisebericht gelesen. 

Die britische Autorin Christina Hardyment (*1946) hat im Laufe ihres Lebens zahlreiche Bücher zu den unterschiedlichsten Themen geschrieben. In Heidi’s Alp (1987) geht es um eine siebenwöchige Reise, die sie 1985 mit ihren vier Töchtern Susie, Daisy, Ellie und Tilly durch Europa unternommen hat. Die jüngste Tochter ist fünf, die älteste ist zwölf. Das Gefährt der Wahl ist ein Wohnmobil, das auf den Namen Bertha getauft wird.

Gradually the idea surfaced. Why not steal a summer? Make a journey, part Toadlike, self-indulgent adventure, and part education in the old idiom of the Grand Tour. Take the children right out of school for May and June, the loveliest months, and amble unhurried around Europe well ahead of the August crowds. […] But what sort of approach would appeal to the children? Every parent knows the miseries of trailing round museums and art galleries with unwilling children in tow. No one gets far up the mountain peak with an opinionated five-year-old. (S. 2/3)

Also wird die Reiseroute in groben Zügen anhand literarischer Gesichtspunkte festgelegt. Es sollen Orte und Landschaften besucht werden, die bedeutsam für wichtige Werke der Kinderliteratur waren. Unterwegs werden den Mädchen die Geschichten vorgelesen – manche kennen sie bereits, wie die Geschichten um Heidi von Johanny Spyri -, dazu gibt es Hintergrundinfos der wohlinformierten Mutter, kleine Museen und die dazugehörigen Landschaften.

Die ersten zwei Wochen werden sie ab Holland noch von einer guten Freundin samt Baby Sarah begleitet. Sieben Menschen in einem Wohnmobil, davon ein Baby, das stellt alle auch vor ziemlich unliterarische Herausforderungen. In den letzten Wochen verstärkt Tom, der Vater der vier Mädchen, die Reisetruppe.

Eckpfeiler der Routenplanung:

  • Hans Brinker and the Silver Skates von Mary Mapes Dodge (Holland)
  • Die Märchen – und die Reisen – von Hans Christian Andersen (Dänemark)
  • Lübeck
  • Der Rattenfänger von Hameln (Deutschland)
  • Diverse – auch mir noch unbekannte – Städte und der Brocken im Harz (auch im ehemaligen Gebiet der DDR)

By the time we reached the border it was dusk. The western horizon glowed a welcome home beyond the barriers, but first we had to undergo a search much more thorough than the one on our arrival. The children were amazed to see a large mirror on wheels was rolled out and solemnly passed to and fro under the van to see if anything – or anybody – was attached underneath. The bonnet was opened, the engine inspected, all the drawers emptied, the books reshuffled. Nothing could have contrasted more startlingly with the casual waves given at all the other borders we had crossed. ‚But if people want to leave the country, why don’t they let them?‘ asked Ellie. (S. 133)

  • Märchen der Gebrüder Grimm und Schloss Wilhelmshöhe (Kassel)
  • Rothenburg ob der Tauber
  • Schloss Neuschwanstein
  • Auf den Spuren Harlequins in Venedig (Italien)
  • Pinocchio (Collodi in Italien)
  • Der Schiefe Turm von Pisa
  • Heidi von Joanna Spyri (Maienfeld, Schweiz)
  • Zürich
  • Wilhelm Tell
  • Lauterbrunnen und Fahrt zum Jungfraujoch
  • Bücher über den Bären Mary Plain von Gwynedd Rae (Bern)
  • Eiffelturm in Paris
  • Die Geschichte von Babar, dem kleinen Elefanten von Jean de Brunhoff

Aber genauso werden freie Tage und immer auch ein bisschen Luft für spontane Ausflüge und vom Wetter abhängige Ideen sowie große Vergnügungsparks eingeplant; in Legoland fahren sich die Mädchen in den diversen Fahrgeschäften schwindlig, während sich die zwei Mütter Titanias Palast anschauen.

Bei Museumsbesuchen wird auch mal zu Tricks gegriffen, damit die Töchter nicht vor lauter Langeweile die Galerie sofort wieder verlassen wollen.

Normally our progress through picture galleries and museums is indecently  rapid, but today [Schloss Wilhelmshöhe] was different. We bought the girls each four postcards in the entrance hall and then set them the challenge of finding the originals. Since the gallery is spread over three enormous floors of the palace […] Tom and I very soon lost sight of all four of them, and enjoyed a restful half hour of guessing painters wrongly. (S. 148)

Und so entsteht eine charmante und ehrliche Mischung aus Familienmemoir, Reisebericht (mit all den schönen und chaotischen Seiten, die unerwartet geschlossene Museen und das beengte Leben im Wohnmobil mit sich bringen; kleinen Unfällen inclusive), landeskundlichen Impressionen (holländische Fahrradfahrer und die schweizerische Ordnungsliebe sind der Erzählerin ein echter Dorn im Auge) und literarischer Vor-Ort-Erkundung, bei der ich viel Neues erfahren habe. Hardyment recherchierte akribisch vor, während und nach der Reise zu den AutorInnen und Geschichten, so kann sie mühelos interessante und manchmal auch skurrile Informationen an passender Stelle einflechten. Ihre literarische Entdeckerfreude ist einfach ansteckend.

Das Ganze geschrieben mit Tempo, Wissen, Witz und (mütterlicher) Selbstironie.

Hans-Christian Andersen, auf dessen Spuren die kleine Reisetruppe immer mal wieder wandelt, war 1831 mit dem Schiff von Kopenhagen nach Lübeck gereist. Über die Nacht in seiner Kabine mit zwei weiteren Männern schreibt er:

‚one with his legs against the head of the other. I happened to be in the middle, and now one of them would ask me to move my legs, the other to move my head; I was too long for them.‘ ‚Just like us in Bertha,‘ said Daisy feelingly. ‚I wish Ellie didn’t kick so much.‘ (S. 73)

Manches mutet inzwischen nostalgisch an. Eine Reiseplanung ohne Internet, Kinder ohne Handys, und wenn man liest, dass ihre ungeplante Übernachtung auf „Heidis Almhütte“ oberhalb von Maienfeld zu den Höhepunkten ihrer Tour gehört – auch dank der Gastfreundlichkeit des Senners -, der zwar schon damals von einigen japanischen Touristen berichtet, dann ahnt man, dass derlei Erfahrungen in der heutigen touristisch durchgetakteten Marketingwelt nicht mehr  möglich sind.

Zu gern würde ich wissen, was die Töchter später über diese Reise gedacht haben. Wie war es wohl mit einer so literaturbegeisterten Mutter?

Als ihre beiden älteren Töchter auf der Rückreise Vorschläge machen, wohin die nächste große Tour führen könnte, empfindet Hardyment das als das schönste Kompliment überhaupt.

That assumption that we would be going again, that confidence that they would enjoy it. I felt as pleased as the mother hen in the ‚Ugly Duckling‘ when her brood hatches. I’d hatched a brood, too, a brood of travellers. And romantic ones, at that. Real swans. (S. 247)

Ich jedenfalls bin unglaublich gern mit auf diesen Trip gegangen und war so infiziert, dass ich alle naslang unterbrechen musste, weil ich rasch noch etwas recherchieren wollte. Und natürlich überlege ich jetzt, was ich als nächstes lese: The Wind in the Willows oder Travels with Charley von John Steinbeck? Oder doch Pinocchio?

Next day was positively slovenly – late to rise and late to bed, with much relaxed non-achievement in between. (S. 80)

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Jürgen Hosemann: Das Meer am 31. August (2020)

Der sehr fein in Blau gestaltete Band aus dem Berenberg Verlag, das Debüt des Lektors und Herausgebers Jürgen Hosemann, gefiel mir von der Grundidee her zunächst sehr.

Der Ich-Erzähler, im Urlaub unterwegs mit Gattin und Tochter, beschließt, in einem kleinen Badeort an der Adriaküste in der Nähe von Triest 24 Stunden lang allein am Meer zu sitzen.

Als die Reinigungsfahrzeuge abrückten, erschien der Strand trotz der langen Reihen von Sonnenschirmen, Liegen und Badekabinen völlig leer. Als müsste man jeden Augenblick damit rechnen, dass sich dort etwas ereignete. Alles schien vorbereitet, aber wofür? Es gab auch keine Zuschauer, außer mir war niemand da, der sich dafür interessierte. Zeit breitete sich vor mir aus, saubere, unbeschriebene Zeit. Der Tag würde sich hier ereignen. (S. 15)

Seine Erwartungen sind alles andere als bescheiden:

Ich hatte die Hoffnung, dass sich in der Leere und Weite die Gedanken und Phantasien besonders gut ausbreiten konnten und dass man, weil nichts den Blick verstellte, hier alles sehen konnte. Dass mit etwas Glück das Meer einer jener Orte war, an denen der Blick, vom Wasserspiegel reflektiert, auf einen selbst zurückfallen würde. (S. 24)

Doch dass er sich dafür ausgerechnet einen belebten Badestrand mitten im Ort aussucht, an dem frühmorgens zwei Radlader den Strand herrichten, unzählige Liegen ausgerichtet und die Sonnenschirme geöffnet werden müssen, fand ich eher bizarr.

Und so lesen wir, wie sich die Farben des Himmels verändern, welche Passanten an ihm vorbeiflanieren oder wie die Menschen aussehen, die eine Runde schwimmen gehen, wie der Tag zunehmend heißer wird und der Erzähler hin und wieder ins nahe gelegene Café geht oder sich ärgert, dass er grauslich bunte und überzuckerte Limonade gegen den Durst gekauft hat. Und abends kommen die Teenager mit ihren Handys.

Zwar gibt es immer wieder zitierenswert traumschön formulierte Sätze und wir wünschen uns sicherlich alle hin und wieder Zeiten und Tage, an denen wir so entschleunigt und behutsam dem Treiben um uns herum zuschauen und – falls nötig – im wahrsten Sinne zur Besinnung kommen könnten:

Der Wind so sachte, als schiebe er ein Mädchen auf einem Kinderfahrrad (S. 55)

Allerdings ist nicht jede Beobachtung automatisch bedeutungsvoll, was den Erzähler aber nicht daran hindert, sie uns mitzuteilen. Und wer nun auf besondere Erinnerungen, tiefe Erkenntnisse oder überhaupt auf irgendetwas hofft, wird enttäuscht. Auch der Erzähler selbst merkt zwischendurch, dass sich nicht alle Erwartungen an seinen Tag am Meer erfüllen. Fast klingt es wie eine Mahnung:

Ich halte es für möglich, am Meer zu sein und es nicht zu sehen.

Manchmal wird ihm langweilig, er weiß nicht, wohin mit all der Zeit, beobachtet die Wolken, die Möwen, kontrolliert, ob seine Armbanduhr oder sein Handy schneller geht, freut sich, als ihm ein kleines Mädchen begegnet, wiegt minutenlang die Limonadenflasche in den Händen und fragt sich, was passiert, wenn nichts passiert.

Langweilte mich mein großartiger Plan, mich einen Tag und eine Nacht ans Meer zu setzen, in dem ich jetzt etwas Verbissenes und Verbohrtes erkannte, eine besonders prätentiöse Weise, mich meiner sozialen Verpflichtungen zu entziehen? (S. 65)

Insgeheim staunte ich darüber, wie lange man am Meer sitzen und wie wenig einem dabei auffallen konnte. (S. 84)

Vielleicht hätte ich lieber gelesen, wie der Erzähler einen Urlaubstag mit seiner Familie verbringt, möglicherweise hätte ich auch gleich Ænglisch von Sarah Kirsch wiederlesen sollen.

Hier eine ganz andere Lesart von Constanze auf Zeichen & Zeiten.

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Ilja Leonard Pfeijffer: Grand Hotel Europa (OA 2018)

Ein Roman von über 500 Seiten von einem Schriftstellers, der mal wieder zeigt, dass aus den Niederlanden faszinierende, freche und unbekümmert kluge Bücher kommen. Ins Deutsche übersetzt wurde das Werk des renommierten Dichters und Autors (*1968) von Ira Wilhelm.

Im Spiegelkabinett zwischen Realität und Fiktion erzählt hier ein Schriftsteller namens Ilja Leonard Pfeijffer in der Ich-Form, wie er sich nach großem Liebeskummer in das altehrwürdige und ein wenig aus der Zeit gefallene Grand Hotel Europa einmietet, das gerade von einem chinesischen Investor übernommen wurde und dementsprechend langsam umgemodelt wird, um mehr Gäste aus China anzulocken. In dieser Abgeschiedenheit will er schreibenderweise verstehen, was ihn in seine jetzige Lage gebracht hat. Der Kummer gilt der Dame seines Herzens, einer betörend schönen italienischen Kunsthistorikerin, die er in Genua, wo er schon seit Jahren lebt, kennengelernt hat.

Ich musste alles präzise aufschreiben, obwohl mir klar war, dass der Drang, es zu erzählen, um es mit Aeneas‘ Worten an Dido zu sagen, den Verdruss wieder auffrischen würde. Es gibt kein Ziel ohne Klarheit darüber, von wo man aufgebrochen ist, und keine Zukunft ohne eine deutbare Version der Vergangenheit. Ich kann besser nachdenken, wenn ich dabei ein Schreibwerkzeug in Händen halte. Tinte klärt. Nur durch das Schreiben bringe ich meine Gedanken unter Kontrolle. Das war meine Aufgabe. Deshalb war ich hier.  Aufschieben war zwecklos. (S. 15)

Und so flanieren wir mit dem kunstbewanderten (und chauvinistischen) Erzähler und seiner Partnerin in der Vergangenheit durch Genua und Venedig, Orte, die wunderbare und geschichtssatte Bühnen für ihre temperamentvolle Liebesgeschichte bieten.

Wir lernen aber auch die anderen Hotelgäste kennen, z. B. die Amerikanerin Jessica, die „ein langes schwarzes Kleid in den Dimensionen einer Schutzhaube für einen mittelgroßen Lieferwagen“ trug, sowie ihren Mann, der sich für das „Schlichte entschieden“ hatte:

breite braun-beige Krawatte zu grau-blau kariertem Hemd und farblich passendem braun-grün kariertem Jackett mit sportlichen Wildlederapplikationen an den Ellbogen. Er sah aus wie ein Jagdaufseher bei einem Benefizabend zur Bewahrung der Biberbaue. (S. 279]

Dazu kommen noch der Majordomus des Hotels, Herr Montebello, und der Page Abdul, ein geflüchteter junger Mann, der nichts lieber täte, als seine Vergangenheit zu vergessen. Während der Schriftsteller die ein oder andere Zigarette mit Abdul raucht, entlockt er ihm dabei dann doch nach und nach seine Geschichte, die wiederum einige Überraschungen birgt.

Obwohl ich hierhergekommen war, um in meiner eigenen jüngeren Vergangenheit Ordnung zu schaffen, indem ich auf dem Papier rekonstruierte, welche Kette von Ereignissen dazu führte, dass ich mir diese Aufgabe auferlegte, und obwohl ich mich gerade deshalb für das Grand Hotel Europa als Aufenthaltsort entschieden hatte, weil ich kaum erwartete, dass hier etwas geschähe, was mich von der gewissenhaften Erledigung meiner Aufgabe ablenken könnte, beeindruckte mich die Geschichte von Abduls jüngerer Vergangenheit so sehr, dass ich mich dazu verpflichtet fühlte, sie aufzuschreiben. Ich konnte nur mit großer Mühe den Gedanken verdrängen, dass meine Geschichte verglichen mit seiner eitel und nichtig war. Meine einzige Entschuldigung dafür, so viel Zeit und Energie auf die Wiederaufführung eines Luxusdramas zu verwenden […], bestand darin, dass es sich bei dem Luxusdrama nun mal um meine Geschichte handelte und dass sie mich aus diesem Grund stark berührte. Doch Abduls Geschichte werde ich ebenfalls erzählen. Alle Schriftsteller Europas sollten die Geschichten aller Abduls erzählen. (S. 75/76)

Darüber hinaus geht es um die letzten Gemälde des Malers Caravaggio, das Schicksal von ertrunkenen Schiffsflüchtlingen und eine seltsame Crew aus Holland, die überlegt hatte, mit dem berühmten Schriftsteller einen Film über die verschiedenen Spielarten des Tourismus zu drehen. 

In all diese Handlungsfäden sind verschiedene Themenkomplexe verwoben, zu denen sich der Erzähler so seine Gedanken macht. Auch in den diversen Dialogen spielen diese Aspekte immer wieder eine wichtige Rolle. Sei es der überall in Europa erstarkende Rechtspopulismus, die Notwendigkeit, uns Geschichten zu erzählen, oder die Überlegungen dazu, was Europa eigentlich ausmacht. Hat das ideale Europa der Kunst, der Kultur, der Philosophie überhaupt noch eine Zukunft oder wird es allmählich zum künstlichen und letztlich austauschbaren Spielgarten asiatischer und arabischer Konsumgelüste? Stichworte wie die Verramschung von Venedig und Amsterdam, die an ihrer eigenen Schönheit und den dadurch angelockten Massen zu ersticken drohen, die Immobilienhaie oder die megalomanen Pläne einer Außenstelle des Louvre in den Arabischen Emiraten sind nur einige der weiteren Aspekte.

Eng damit verbunden sind die Fragen nach den Ursprüngen des Reisen und was genau der moderne Tourist eigentlich sucht und selten findet. Der Tourist ist für den Erzähler eine höchst ärgerliche Herdenfigur der Globalisierung, grundsätzlich miserabel gekleidet, respektlos, infantil und gierig; kurzum ein Mensch, der eigentlich nichts anderes tut, als zum Absaufen von Venedig und dem Verlust von Authenzität beizutragen, von der Kunst, die er sich anschaut, keine Ahnung zu haben, und den Einheimischen saumselig im Weg zu stehen.

Man sieht sich die Mona Lisa in echt an, weil man die Erfahrung machen will, die Mona Lisa in echt gesehen zu haben. Walter Benjamin nennt das die Aura des Kunstwerks. Nicht das Kunstwerk selbst ist der Sinn und Zweck seiner Betrachtung, sondern die Erfahrung von dessen Nähe, am besten besiegelt mit einem Foto oder einem Selfie. Der Besuch der Mona Lisa im Louvre führt zu keinen tieferen Einsichten, zu keinem ästhetischen Genuss oder Vergnügen, auch gerührt ist man nicht durch den Anblick, sondern man ärgert sich nur über die anderen Touristen. […] Wir wollen uns das berühmte Kunstwerk für einen Moment durch unsere Anwesenheit aneignen. Das ist der einzige Zweck  hinter dem Besuch. Dann machen wir auf unserer Liste ein Häkchen. Wir können sagen, wir haben die Mona Lisa gesehen. (S. 108)

Und wenn Europa so sehr an der angeblich idealen Vergangenheit klebe und keine Vision einer Zukunft entwickele, könne es auch nicht angemessen auf die Ankunft von Flüchtlingen reagieren, die vor allem an der Zukunft interessiert sind. Dabei stellten gerade sie eine Chance für den alten und müden Kontinent dar.

Es ist großes Kino, wie leicht Pfeijffer diese verschiedenen Stränge miteinander verknüpft. Die Figuren sind in aller Überzeichnung so lebensecht, die Beschreibungen und Dialoge so bissig auf den Punkt gebracht, dass ich mich mit Freude – jedenfalls fast immer – durch die Seiten gepflügt habe.

Eine Erzählstimme, die mal missmutig, snobistisch, gelehrt, melancholisch, dann wieder polemisch, zynisch, boshaft, dozierend, selbstironisch, urkomisch und auch ein bisschen arrogant und größenwahnsinnig ist.

Vor allem aber wird man danach die Austauschbarkeit der meisten Hotelzimmer und die immergleichen Plastik-Souvenirshops kaum noch ertragen, niemals Backwaren mit Nutella in Amsterdam kaufen und vermutlich nie wieder so auf Reisen gehen wie zuvor.

Und man wird eine Ahnung, eine Idee von Europa bekommen, die erstrebenswert, wunderschön, idealistisch-verklärt und gleichzeitig utopisch ist und für die es doch, wenn man dem Ich-Erzähler glaubt, vielleicht schon zu spät ist.

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Jürgen Goldstein: Die Entdeckung der Natur (2013)

Dieser Band von Jürgen Goldstein aus der Reihe der Naturkunden, herausgegeben von Judith Schalansky, setzt es sich zum Ziel, „Etappen einer Erfahrungsgeschichte“ nachzuzeichnen, also der Frage nachzugehen, wie Menschen im Laufe der europäischen Geschichte Natur betrachtet haben.

Dazu widmet Goldstein (*1962), Professor der Philosophie, den folgenden Männern und leider nur einer Frau jeweils ein Kapitel, in dem er anhand von Briefausschnitten und biografischen Aufzeichnungen entscheidende Momente ihres Lebens nachzeichnet. Schon das arg unübersichtliche Inhaltsverzeichnis, von dem ich hier nur die Untertitel zitiere, klingt verheißungsvoll und weckt lesende Entdeckerlust:

  • Francesco Petrarca besteigt 1336 den Mont Ventoux
  • Christoph Kolumbus erreicht 1492 Amerika
  • Maria Sibylla Merian erreicht 1699 Surinam
  • Georg Forster erreicht 1773 Tahiti
  • Johann Wolfgang von Goethe besteigt 1777 den Brocken
  • Georg Christoph Lichtenberg erreicht 1778 Helgoland
  • Alexander von Humboldt besteigt 1802 fast den Chimborazo
  • François-René de Chateaubriand besteigt 1804 den Vesuv
  • Charles Darwin erreicht 1835 den Galapagos-Archipel
  • Edward Whymper besteigt 1865 das Matterhorn
  • Jean-Henri Fabre besteigt 1865 den Mont Ventoux
  • Wilhelm Weike erreicht 1883 Baffin-Land
  • Fridtjof Nansen erreicht 1895 den 86. Breitengrad der Arktis
  • Claude-Lévi-Strauss erreicht 1938 Amazonien
  • Peter Handke besteigt 1979 die Sainte-Victoire
  • Reinhold Messner besteigt 1980 den Mount Everest
  • Auf der Suche nach der verlorenen Wildnis

Goldsteins unternimmt in seinem Werk den Versuch, die Entwicklung der europäischen Naturerfahrung nachzuzeichnen.

Die Entdeckung der Natur als eine seit dem 14. Jahrhundert einsetzende Erfahrungsgeschichte scheint an ihr Ende gekommen zu sein. […] Dieses Buch handelt von der einsetzenden Entdeckung, der allmählichen Entfaltung und dem drohenden Verlust der Erfahrbarkeit der Natur. (S. 23)

Mein Fazit: Manchmal ist es schön, nicht alles zu wissen, denn umso mehr Spaß macht es, mit so solide und umfangreich recherchierten Büchern wie diesem den Bildungslücken ein klein wenig abzuhelfen.  Goldsteins Entscheidung, die Protagonisten ausführlich selbst durch ihre Reiseaufzeichnungen, Tagebücher und Briefe zu Wort kommen zu lassen, lässt die LeserInnen unmittelbar an Schönheit, Gefahr, Verzweiflung, Todesnähe und überbordender Entdeckerfreude der Akteure teilhaben und sorgt für einen angenehmen Kontrast zur manchmal abstrakt-akademischen Sprache des Professors.

Der Zuwachs an Welterfahrung bei den Reisenden, die von ihren Eindrücken berichten, enthält immer auch eine Erlebnisrendite, die den Daheimgebliebenen zufällt. Das mag ein dürftiger Ersatz sein, wenn man nie in einem tropischen Regenwald gestanden, keinen Vulkan der Anden aus der Nähe gesehen und die Eislandschaften der Pole nicht aus eigener Anschauung kennengelernt hat. Aber wem auch immer diese Erfahrungen fehlen, er wäre ärmer ohne die Lektüre der Berichte über das, was er selbst nicht gesehen hat und nie sehen wird. (S. 272)

Manchmal schien mir die Fragestellung, von der er ausging, etwas aus dem Blick zu geraten, das aber war zu verschmerzen. Manches bleibt offen: War Augustinus, den Goldstein dafür verantwortlich macht, dass die Naturbetrachtung der lohnenderen und spannenderen Seelenbetrachtung untergeordnet worden sei, tatsächlich für die nächsten 1000 Jahre so tonangebend, dass Naturbetrachtung als solche eher gering geschätzt wurde? Was ist mit der Denkrichtung, in der Natur Gottes Wirken wahrzunehmen?

Auf die Kapitel zu Handke und Chris McCandless, der voller Naivität in Alaska in den Tod getrampt ist, hätte ich persönlich verzichten können. Gefreut hätte ich mich stattdessen über Kapitel zu Thoreau und Chatwin, die nur kurz erwähnt werden, außerdem fehlt Edward Abbey und das komplette Genre des sogenannten Nature Writing und statt McCandless wäre mir Everett Ruess lohnender erschienen, zumal der Tagebücher und Hunderte von Briefen hinterlassen hat, aus denen man ebenfalls trefflich hätte zitieren können.

Goldstein sagt ja selbst:

Für die vorgelegte Entdeckung der Natur kann und soll Vollständigkeit kein Ziel sein. Die Beschränkung auf exemplarische Naturerfahrungen erfolgt anhand des Leitfadens der Bergbesteigungen und Seefahrten. [Und wie hat sich dann McCandless in das Buch verirrt?] Von vielem ist daher nicht die Rede: Nicht von der Durchquerung des nordamerikanischen Kontinents durch Meriwether Lewis und William Clark 1804 bis 1806 […], nicht von David Livingstones Entdeckung der Victoria-Wasserfälle im Jahre 1855 bei seiner Durchquerung des afrikanischen Kontinents; nicht von Ludwig Leichhardts Vordringen in das Innere Australiens im Jahre 1848… (S. 23)

Ein Aspekt, der deshalb ebenfalls außen vor bleibt, ist die Eroberung des amerikanischen Kontinents. Dabei wären die theologischen Rechtfertigungen, die man in dem Prozess, sich das Land „untertan“ zu machen, anführte, im Lichte der Fragestellung, wie dort Natur gesehen und interpretiert wurde, sicherlich interessant.

Und wenn man den Bogen bis in die Gegenwart spannen möchte, könnte man noch auf den Selfie-Wahn unserer Tage verweisen, wo der Mensch nun wirklich nur noch sich selbst sieht. Sind doch 259 Menschen zwischen Oktober 2011 und November 2017 beim Erstellen von Selfies tödlich verunglückt (Quelle: Statista). Und nicht nur in Kalifornien zerstören Instagrammer genau das, was sie vorgeblich so mögen.

Zurück zu Goldsteins Werk: Was kann letztlich zufriedenstellender sein, als dass man jetzt auf den Geschmack gekommen ist, sich am liebsten mit mindestens drei der vorgestellten Protagonisten nun näher beschäftigen möchte und sich außerdem wünscht, dass der Autor einen in einem zweiten Band genauso kenntnisreich und belesen durch weitere Stationen der Naturbetrachtung führt?

Dieser zweite Band dürfte dann auch gern noch einige unternehmungslustige Frauen enthalten und in etwas freundlicheren Farben daherkommen.

Mein Lieblingszitat war übrigens das des Gärtners und Hausknechts Wilhelm Weike. Weike begleitete den Sohn des Hauses, Franz Boas, auf dessen Expedition zur Baffininsel im arktischen Teil Kanadas. Goldstein bescheinigt ihm zwar, für derlei Erfahrungen über keine adäquate Sprache zu verfügen, aber ich hatte sofort die Szene und die leicht genervte Ehefrau vor Augen:

Es ist doch sehr schön, wenn man wieder zu Hause ist. Aber die schönen Erinnerungen vom vergangenen Jahr bleiben doch […] Ich denke noch oft an die verlebten Tage bei den lieben Eskimos. Die Erinnerung ist doch schön. Ich habe schon manchen Abend gesessen  und meiner Frau erzählt, die weiß es balde so gut wie ich selbst, wie es da ist. (S. 205)

Also, Petra, vielen Dank für deinen Post zu dem Buch, der mir diesen Band auf die never ending list gesetzt hat.

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Sarah Kirsch: Ænglisch (2015)

Herr Buddenbohm war schuld daran, dass Petra von Philea’s Blog das Büchlein Ænglisch von Sarah Kirsch las. Petras Fazit:

Sarah Kirschs Ænglisch ist ein bezauberndes, sprachschrulliges Reisetagebuch, das ich wärmstens empfehle.

Was blieb mir da anderes übrig? Ich freute mich, ein prima erhaltenes Exemplar auf Tauschticket zu erstehen, und schon schmökerte ich mich durch die Erinnerungen der bekannten Lyrikerin (*1935 – †2013) an einen 16-tägigen Urlaub, den sie 2000 mit ihrem Sohn Moritz in Cornwall und Devon verbrachte. Die endgültige Form fand dieses Tagebuch im September 2012.

Und was soll ich noch groß sagen: Was wäre das für ein Pech gewesen, hätte Petra das Buch nicht empfohlen. Dabei passiert gar nichts Besonderes: Die beiden Urlauber müssen sich mit qualitativ sehr unterschiedlichen Unterkünften arrangieren, unternehmen Ausflüge zu den Sehenswürdigkeiten der Region, gehen essen und in den Zoo, freuen sich über nette Cafés, bummeln, beobachten, haben Wetter und Moritz kauft Klassiker, während sie noch Harry Potter liest.

Niemand außer uns unterwegs. Ein einziger Mensch kam uns entgegen und hat holdseligst gegrüßt. (S. 58)

Das Besondere liegt in der Aufmerksamkeit für die Kleinigkeiten, im Sprachwitz, mal poetisch, mal flapsig, in der Freude an Worten, an der Gabe Kirschs, die scheinbar belanglosen Reiseeindrücke lebendig werden zu lassen oder sie mit anderen Erfahrungen in Verbindung zu setzen. Wir reisen mit und denken gleichzeitig an eigene Urlaube, eigene kostbare und banale Erinnerungen. Nur dass wir sie wohl nicht so wunderbar in Sprache verpacken könnten.

Hin & wieder steckte ein Kormoran den Schnorchel aus dem Wasser. Wunderbarste Fregattvögel flogen, wenn ich die See und die Fregattvögel in den Lüften hab, so haut es mir nahezu um. Weeß ooch nicht weshalb. (S. 14)

Für mich schwingt in all der Leichtigkeit auch ein wenig Melancholie mit, obwohl Kirsch sich am Ende der Reise durchaus auf ihr Zuhause in Norddeutschland freut. Hat doch jeder Urlaub von Anfang an ein festgesetztes Datum der Rückkehr. Selbst der schönste Tag geht vorüber, nichts kann das aufhalten. Wir ahnen das und wollen es doch nicht wissen.

Morgen schiffen wir uns langsam dann ein. Dann ist der Sommer auch gleich vorbei, wirste sehn. (S. 58)

Diese 67 Seiten, zu denen noch ein Nachwort und eine Liste ihrer Veröffentlichungen kommen, zeigen aber auch, was Sprache vermag: Die flüchtigen Momente werden, wenn sie liebevoll wahrgenommen wurden, eben doch durch Sprache wie in Bernstein festgehalten, wie Flaschenpost weitergereicht.

Und so ließe sich das Werk auch lesen als eine Aufforderung, aufmerksamer durch seine eigenen Tage zu gehen und dabei das ein oder andere zu notieren.

Ein kleines Werk; wie Wasser, auf dem die Sonne funkelt.

War so hübsch da im Schloß uff Mount St. Michael, als wir durch alle möglichen Waffenzimmer in die sehr hübsche gemütliche Bibliothek gelangten, da sagte er aus vollem Herzen, daß er am liebsten in solche Bibliothek immer wär. (S. 50)

 

 

 

Alma M. Karlin: Ein Mensch wird (1931)

Obwohl Alma Maximiliana Karlin in den zwanziger und dreißiger Jahren eine der bekanntesten deutschsprachigen Reiseschriftstellerinnen war, war sie mir bis zu diesem Buch unbekannt.

1889 wurde sie im damaligen Österreich-Ungarn, dem heutigen Slowenien, geboren. Nach einem bewegten Leben geriet sie in ihrer Heimat, vermutlich aufgrund der Vorbehalte gegenüber ihrer Zugehörigkeit zum deutschen Kulturraum, nach dem Zweiten Weltkrieg in Vergessenheit. 1950 starb sie verarmt und vergessen in ihrer Heimat.

Dass eine Wiederentdeckung lohnt, zeigen schon die ersten Seiten ihrer Autobiografie, auf denen Karlin einen ganz eigenen Klang entfaltet. So schreibt sie über ihre ersten Lebenstage:

Ich schlug die Augen nur selten auf, wohl aus dem richtigen Gefühl heraus, daß es für mich auf Erden noch genug Unangenehmes zu schauen geben würde, und so vergingen volle sechs Wochen, ehe meine Eltern wahrnahmen, daß ich die Augen unrichtig eingehängt hatte. Meine Mutter war trostlos darüber, weil es ein Schönheitsfehler, eine weitere Handhabe zu bösartigem Spott war, aber mein Vater sagte sich, daß an einem Zwetschkenbaum keine Pfirsiche hängen und von sehr alten Eltern keine körperlich bervorzugten Kinder kommen konnten, und deshalb erklärte er mir, als ich in die Jahre des Verstehens gekommen war, daß ich ihm so, wie ich eben ausgefallen war, ganz gut paßte. Diese seine Einstellung freute mich um so mehr, als er darin vereinsamt dastand, denn nicht einmal von mir selbst dürfte ich Gleiches behaupten. Ein Menschenleben hat nicht genügt, mich mit meinem Äußeren zu versöhnen. (S. 9)

Die ersten Jahre sind für die kleine Alma im Großen und Ganzen noch eine unbeschwerte Zeit. Die Eltern sind wohlhabend und die Liebe ihres bereits 60-jährigen Vaters schützt sie vor der unnachsichtigen, überängstlichen und nur auf den äußeren Schein bedachten Mutter, der es ein ewiger Stein des Anstoßes war, dass das angeblich so unhübsche und linksseitig leicht gelähmte Mädchen sich nicht zu einem fügsamen Modepüppchen entwickeln wollte. Und damit möglichst niemand den Sehfehler ihrer Tochter bemerkt, stülpt sie ihr, sobald man das Haus verlässt, „schwammartige Hüte“ über den Kopf.

Mit ihrem Vater unternimmt sie lange Spaziergänge, auf denen sie auch mal mitsamt dem neuen Mantel in die Pfütze fällt, weil sie nicht weit genug gesprungen ist, während die Spaziergänge mit ihrer Mutter der reinste Graus sind.

Bis ich genug  gewaschen und geputzt und belehrt und bedroht worden war, bis die Handschuhe saßen und ich artig die Hand zum Halten gegeben hatte, waren schon Bäche von Tränen geflossen und dann, im Park, wo der liebe Gott alle unangenehmen Frauen der Welt versammelt zu haben schien, jagte man mich von einer zu anderen und bei jeder hieß es: ‚Engerl, mach einen Knicks.‘ […] Außerdem regnete es törichte Fragen. ‚Schatzerle, wen hast du lieber – deinen Vater oder deine Mutter?‘ Und ich prompt darauf: ‚Meinen Vater!‘ Sofort die weisen Lehrer: ‚Seine Mutter muß man mehr lieben!‘ Im Allgemeinen konnte man von Glück reden, wenn ich mich als Antwort nur in Schweigen hüllte. (S. 16)

Doch ihr geliebter Vater stirbt, als Alma sechs Jahre alt ist. Danach ist das Mädchen dem Perfektionismus ihrer Mutter und deren Mantra „Das schickt sich nicht.“ schutzlos ausgeliefert.

So verwundert es nicht, dass sich die Beziehung zur Mutter stetig verschlechtert. Und noch Jahrzehnte später ist Karlins Meinung zur berufstätigen Frau geprägt von ihren eigenen Erfahrungen mit ihrer lieblosen und wenig empathischen Mutter, die ihre Tätigkeit als Lehrerin trotz Ehe und Mutterschaft nicht aufgegeben hat. Sie ist sich sicher, dass

… Frauen, die einen Beruf haben, nicht Mütter sein können, deshalb geht heute die Ehe zugrunde, erlischt so viel Schönes schon in der aufwachsenden Jugend. […] Warum? Weil eine Frau, die im Beruf steht, ihre Interessen außer Haus verankert hat; weil sie – nach Erfüllung bezahlter Pflichten – müde und abgespannt heimkehrt und da wirklich Unterhaltung braucht, nicht solche noch zu bieten vermag; weil sie den erschöpften Geist nicht nochmals anstrengen kann und weil ihr, die tagsüber vom Heim weg war, der innere Zusammenhang mit den darin befindlichen Personen und Sachen fehlt. Sie ist bei sich selbst zu Gast. (S. 19)

Dazu kommt, dass das Mädchen nur Umgang mit Gleichaltrigen pflegen darf, wenn diese aus der gleichen gesellschaftlichen Schicht und zudem aus dem deutschsprachigen Milieu kommen. Ihr Vater hatte sich immer als österreichischer General verstanden, der über der Nationalitätenfrage stand. So pflegte die Familie „nur Verkehr in Kreisen, die sich keiner politischen Partei anschlossen.“ Damit fallen aber viele gesellschaftliche Veranstaltungen von vornherein aus.

Das Lavieren der Mutter zwischen Deutschen und Slowenen – welche Fahne soll an den jeweiligen Feiertagen herausgehängt werden? – sorgt denn dann auch regelmäßig für Probleme:

Nach einem Fest auf der Festwiese grüßten uns die Deutschen nicht und nach einem Slawenfest die Slawen nicht. (S. 45)

Aus der insgesamt eher unerfreulichen Außenwelt flüchtet sich Alma immer stärker in die Welt der Bücher, der Fantasie, des Sprachenlernens und der Bildung.

Dieses Vermögen, mir eine eigene Welt zu schaffen, in der alle Leute immer nur das taten, was ich am meisten wünschte oder anstrebte, entzog mich sehr dem Wirklichen, half mir wunderbar über die Düsterheit des Daseins hinweg, entfremdete mich indessen sicherlich meiner Umwelt und machte mich seltsam unabhängig von ihr. In den Entwicklungsjahren haftete diesen Träumereien etwas Ungesundes an, doch in späteren Jahren war ich in meinem Traumreich so, wie ich mir wünschte, es in Wirklichkeit zu sein – weiser, besser, gütiger – und so wuchs ich an diesem Ideal, bis ich eine Anzahl leidiger Schwächen abgestreift hatte. So bleibt selbstredend  noch immer viel zu wünschen übrig. Wie auch nicht? (S. 57)

Doch die eigentliche Katastrophe beginnt, als Almas Mutter eines Tages auffällt, dass eine Schulter ihrer Tochter höher als die andere ist. Alma ist sich sicher, dass die extreme Reaktion ihrer Mutter eher der verletzten Eitelkeit einer schönen Frau geschuldet ist als der Sorge um das Wohlergehen ihrer Tochter.

In dieser kurzen Stunde hatte eine Feindschaft begonnen, die nichts im Leben mehr zu verwischen imstande war, denn an diesem Nachmittag begann der Kreuzweg, der meine ganze Mädchenzeit in ein Fegefeuer verwandelte… (S. 67)

Und tatsächlich bestimmen nun Qualen und Quälerei die nächsten Jahre. Nachdem Alma von diversen Orthopäden untersucht worden ist, muss sie täglich stundenlange Übungen absolvieren, kopfüber in irgendwelchen Seilen hängen und darf keinesfalls irgendwo mal ruhig sitzen, lesen oder sich ausruhen. Dazu zwingt ihre Mutter sie, mehrere Stunden am Tag ein Mieder zu tragen, auf dass das Kind wenigstens eine Wespentaille bekomme.

Um ununterbrochenen Szenen zu entgehen, legte ich es täglich  auf einige Stunden an und wenn ich nicht die Innenorgane zusammengepreßt hatte, so sah ich Sterne der Arme wegen. Um mich nämlich immer ganz gerade zu halten zu müssen, trug ich einen sehr breiten Gummigurt, der um die Schultern und um eine Hüfte lief und der so stark einschnitt, daß ich vom vierzehnten bis zum achtzehnten Lebensjahr stets geschwollene und oft eiternde Striemen um den Oberarm und die Achselhöhlen hatte und sich die eine Brust durch den ununterbrochenen Druck nicht so gut entwickelte wie die andere. Es gab Tage, an denen ich mich freute, ins Bett gehen zu dürfen, nur um endlich jeden Druck los zu sein, obschon das Bett hart, kissenlos und unbequem war. (S. 89)

Da Alma unter der ganzen Schinderei, die mehr als einmal ihre Schulbildung unterbricht, immer stiller, ernster und verschlossener wird, sinnt ihr Kindermädchen Mimi auf Abhilfe. Zusammen mit anderen fingiert sie Liebesbriefe eines jungen Adeligen, der heimlich in Alma verliebt sei. Tatsächlich fällt Alma auf den Betrug herein und jahrelang ist dieser Traum vom strahlenden Ritter, der sie irgendwann retten und auf sein Schloss holen wird, ihr ein Halt und ein Trost. Doch als dann nach fünf Jahren die Fiktion auffliegt, geht durch diesen Vertrauensmissbrauch etwas in dem jungen Mädchen unwiderruflich zu Bruch.

Wenn ich mich an jene Trugliebe erinnere, muß ich an einen Obstbaum denken, den man im Februar zur Blüte bringt und den der Reif vernichtet. Er geht nicht ein, er steht immer noch am Wegrand, aber er blüht nicht und trägt keine Früchte und lädt niemanden ein, in seinem Schatten zu ruhen, denn er hat nichts zu geben. Er ist kahl. In sich geschlossen, blüht er höchstens in sich hinein. … Auch das ist Schicksal. (S. 77)

Wie sich Alma Karlin aus dieser freudlosen Jugendzeit und den einengenden gesellschaftlichen Verhältnissen, die eigentlich nur eine „standesgemäße“ Heirat zuließen, dank eines schier unglaublichen Kampfeswillen und ihres Sprachenlernens herauswindet und es bereits als junge Frau bis nach Paris, Norwegen, Schweden und nach London schafft, erfährt der Leser in den zwei weiteren Dritteln des Buches. Es bleibt also trotz meines langen Beitrags noch viel zu entdecken.

Und ich bin beeindruckt von einer Autorin, deren glasklarer, leicht spöttischer Stil mir ausnehmend gut gefallen hat und die uns einen Einblick in eine vergangene Zeit ermöglicht, auch wenn der in ihren anderen Büchern wohl nicht immer frei von theosophischen und manchmal auch rassistisch geprägten Sichtweisen ist.

Wir erleben die Jugend eines Mädchens aus „den besseren Kreisen“ mit, das über weite Strecken auf sich allein gestellt war und kaum Ermutigung und Zuwendung erfahren hat. Aber vielleicht hat Alma M. Karlin genau daraus ihre Kraft und ihre Stärke gezogen, die sie später befähigt haben, durch die Welt zu reisen und ein selbstbestimmtes Leben zu leben.

Ihr Buch Einsame Weltreise mit dem Untertitel Erlebnisse und Abenteuer einer Frau im Reich der Inkas und im Fernen Osten (1928) liegt hier jedenfalls schon bereit.

Bleibt mir noch, dem Aviva Verlag herzlich für das zur Verfügung gestellte Besprechungsexemplar zu danken, das durch ein informatives Nachwort der Karlin-Biografin Jerneja Jezernik abgerundet wird.

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Elizabeth von Arnim: Elizabeth auf Rügen (1904)

Schon angesichts der Landkarte von Rügen gerät die Ich-Erzählerin, die einiges mit der Autorin gemeinsam haben dürfte, ins Schwärmen und beschließt, ihrem Ehemann und dem staubigen Sommer auf dem Festland den Rücken zu kehren und stattdessen ganz stilvoll mit ihrer Dienerin Jungfer Gertrud und Kutscher August um die Insel Rügen zu reisen.

Schon die Karte vorne im Reiseführer machte mich durstig, das Land darauf war von so üppigem Grün, das Meer ringsum so schmeichelnd blau. Und wie faszinierend ist die Insel auf der Landkarte, eine Insel voller Windungen und Kurven, mit kleinen Inlandmeeren, Bodden genannt. Seen und Wäldchen und viele Fährschiffe; vor den Küsten kleinere Inseln, wie hingetupft; zahllose Buchten und ein riesiger Wald, augenscheinlich großartig, der sich an der Ostküste entlangzieht und ihren Windungen folgt, der an manchen Stellen bis zum Meer hinabreicht, an anderen hinaufsteigt bis zu den Kalkfelsen, die er mit der besonderen Pracht der Buchen krönt. (S. 9)

The Adventures of Elizabeth in Rugen erschien erstmals 1904. Anna Marie von Welck übersetzte Elizabeth auf Rügen ins Deutsche.

Die Handlung an sich ist hanebüchen und erinnert an den gequälten Witz mancher deutscher Nachkriegskomödien, was insofern schade ist, da die Erzählerin über Wortwitz, eine treffsichere Beobachtungsgabe und das nötige Quäntchen Selbstironie verfügt. Dabei werden durchaus Themen wie die Emanzipation der Frauen oder die Rolle der Bediensteten gestreift. Aber alles eher locker-luftig und manchmal mit einer Patina, die mir nicht immer gefallen hat.

Ich war so schweigsam, daß mein Begleiter überzeugt war, ich sei eine der intelligentesten Frauen, die er je getroffen hatte. […] Intellektuell! Wie hübsch. Und das alles nur, weil ich an den richtigen Stellen den Mund gehalten habe. (S. 52)

Aber sie gibt uns wunderbar sonnige Reiseschilderungen, die man, wenn man heute auf Rügen im Sommerstau der unzähligen Touristen steht, etwas wehmütig liest. Wanderte sie stundenlang stille Straßen entlang oder ließ sie sich gemütlich kutschieren, so brausen wir heute die gleichen Strecken in wenigen Minuten mit dem Auto entlang.

In Putbus sinniert sie

wie es hier wohl im Winter aussähe und wie reizend es da wäre ohne all die Leute, unter einem glasklaren kalten Himmel, wenn das Theater monatelang geschlossen ist, wenn nur wenige Gasthäuser geöffnet sind, um die paar Handelsvertreter zu versorgen. Bestimmt wäre es ein idealer Ort, um einen stillen Winter zu verbringen, wenn man des Lärms und der Geschäftigkeit müde ist, und überhaupt aller anstrengenden Leute, die versuchen, einander Gutes zu tun. Zimmer in einem der geräumigen alten Häuser mit den großen Fenstern nach Süden hinaus, dazu eine Menge Bücher. Wie gern würde ich wenigstens einen Winter meines Lebens in Putbus verbringen […] Wie himmlisch ruhig müßte es sein. Ein Ort für einen, der sich auf ein Examen vorbereitet, ein Buch schreiben will oder nur die Falten in seiner Seele glätten möchte. Und war für Spaziergänge müßte man machen können, in frischen winterlichen Wäldern, wo blasse Sonnenstrahlen auf unberührten Schnee fallen. (S. 28/29)

Es macht Spaß, Elizabeths Eindrücke ihrer Reise mit den eigenen zu vergleichen, denn die Orte, die sie damals auf Rügen besucht hat, sind die gleichen, zu denen es auch die heutigen Reisenden zieht. Wenn man also den Plot einfach nicht zu ernst nimmt, ist es ein charmanter Reisebegleiter für die Insel, der in seiner Freude an Urlaubsentspannung auch heute noch anzustecken vermag.

… und der Kellner kam herunter und fragte, ob er eine Lampe bringen solle. Eine Lampe! […] Ich habe eine eigene Fähigkeit, nichts zu tun und dabei glücklich zu sein. Dazusitzen und in das zu schauen, was Whitman ‚die riesige und gedankenschwere Nacht‘ nennt, war für den besten Teil meines Selbst die angemessene und befriedigende Beschäftigung. Das übrige – die Finger, die etwas tun sollten, die Zunge, die schwatzen sollte, das oberflächliche Stückchen Hirn für den täglichen Gebrauch – wie gut, daß dies alles oft müßig sein konnte. (S. 35)

Hier kann man sich das erste Kapitel vorlesen lassen.

O fröhliche Sorglosigkeit, wenn allein ruhiges Wetter, Bäume und Gras, Meer und Wolken vergessen lassen, daß das Leben nicht nur aus Seligkeit besteht. Wie lang wird diese Freude am Leben andauern? Sie zu verlieren, ja nur ein wenig davon zu verlieren, nur den Saum ihres Glanzes verblassen zu sehen – dies fürchte ich mehr als den Verlust irgendeines irdischen Besitzes. (S. 139)

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Fundstück von Edmund Hillary

Sollte mein Leben morgen zu Ende gehen, dann brauchte ich mich kaum über irgend etwas zu beklagen. Ich habe ein paar Erfolge gehabt; man hat mich geehrt, ich habe lachen dürfen, und man hat mir wahrscheinlich mehr Liebe entgegengebracht, als ich es verdiene. Dazu kommen die Freundschaften, die meinem Leben einen Sinn gegeben haben: mit Harry Ayres, George Lowe, Peter Mulgrew, Mike Gill, Jim Wilson, Max Pearl, Mingmatsering und vor allen anderen mit Louise. Die Liste der Namen ist noch sehr viel länger. Ohne meine Freunde wäre ich nichts. Ich glaube, ich müßte zufrieden sein. Und doch bin ich es nicht ganz. Ich hätte so viel mehr tun können. Es kommt nicht darauf an, daß man etwas leistet. Es kommt darauf an, wie man seine Möglichkeiten genutzt und welche Möglichkeiten man geschaffen hat.

Edmund Hillary: Wer wagt, gewinnt (1975), S. 447

Sir Edmund Hillary: Wer wagt, gewinnt (OA 1975)

Ich wurde am 20. Juli 1919 in Auckland, Neuseeland, geboren.

Mit diesem nicht sehr inspirierten Einstieg beginnt die von Hans Jürgen Baron von Koskull ins Deutsche übersetzte Autobiografie des Mannes, dem zusammen mit dem Sherpa Tenzing Norgay im Mai 1953 die Erstbesteigung des Mount Everest gelang.

Nachdem Hillary auf knapp 28 Seiten seine Kindheit und Jugend abgehandelt hat, beschreibt er seinen Dienst in der Home Guard. Anschließend geht es um seine Militärzeit: Anfang 1944 erhält er den Einberufungsbefehl zur Royal New Zealand Air Force. Die Ausbildung zum Navigator endet im Januar 1945. Danach sind seine Einsatzgebiete die Fidschii-Inseln und die Salomon-Inseln, wo die Soldaten für Erkundungs- und Rettungsmissionen zuständig sind.

Während dieser Zeit frönt er schon, wann immer möglich, seiner Leidenschaft, dem Bergwandern und Klettern. Dabei lernt er nach und nach die wichtigen neuseeländischen Bergsteiger kennen; es entstehen Kontakte und Freundschaften, die ihm später noch nützlich sein werden.

Nach dem Krieg arbeitet er noch eine Zeitlang zusammen mit seinem Bruder in der väterlichen Imkerei, der Lohn ist karg und Freizeit gibt es nur im Winter. Doch allmählich verbringt er immer mehr Zeit mit der Bergsteigerei. Selbst während eines Europa-Urlaubs, auf dem er seine Eltern begleitet, geht er mit Freunden in Österreich und der Schweiz auf Tour.

Im Verlauf des Tages lernten wir einige Schweizer Bergsteiger kennen, die sich in der Hütte einquartiert hatten. Ein hübsches Mädchen fragte mich, wie mir die Schweiz gefiele, und ich sprach begeistert von der Schönheit dieses Landes. ‚Ja‘, pflichtete sie mir bei, ‚die Schweiz ist das schönste Land der Welt!‘ Später stellte sich heraus, daß sie in ihrem ganzen Leben noch nie die Grenzen ihres Heimatlandes überschritten hatte, aber sie schien von der Richtigkeit ihrer Behauptung wirklich überzeugt zu sein. (S. 143)

Als er das Angebot erhält, eine Expedition in Nepal zu begleiten, sagt er nicht Nein und so beginnt eine lebenslange Faszination für das Land und seine Berge. Anhand von Tagebucheintragungen schildert Hillary die Erstbesteigung des Mount Everest, die ihm zusammen mit Tenzing Norgay gelungen ist. Auch auf die zum Teil massive Kampagne, die beiden gegeneinander auszuspielen, geht er ein.

Auf dem Londoner Flughafen wurden wir wie siegreich aus einem Krieg heimgekehrte Helden empfangen. In den folgenden Wochen lernte ich eine mir bis dahin völlig fremde Welt kennen. Die Gesellschaften und öffentlichen Veranstaltungen jagten einander. Ich nahm an einem Staatsbankett und einem Empfang im Buckinghampalast teil. Dabei ernährte ich mich hauptsächlich von geräuchertem Lachs und Champagner und wachte jeden Morgen mit einem leichten Kater auf. Ich lernte die Leute mit den guten Beziehungen, die Mächtigen und Reichen kennen. Es war sehr unterhaltsam, aber ich habe nur wenig gesehen, um das ich jemanden beneiden oder für das ich jemanden bewundern müßte. In einer schlichten privaten Zeremonie, an der nur die Expeditionsteilnehmer und die königliche Familie teilnahmen, wurde ich von der Königin in den Adelsstand erhoben. (S. 239)

Danach folgen monatelange Vortrags- und Urlaubsreisen, auch mit seiner Familie, vor allem in die USA.

Ich kann nicht behaupten, daß mir mein erster Besuch in den Vereinigten Staaten gefallen hätte. […] und wir haben die falschen Leute kennengelernt: eine bestimmte Gesellschaftsklasse, mit der wir eigentlich nichts gemein hatten. Damals glaubte jeder Amerikaner, alle Ausländer wollten am liebsten auf amerikanische Weise glücklich werden, und sie konnten es nicht verstehen als ich ihnen sagte, daß es mir vollständig genügte, Neuseeländer zu bleiben. (S. 247)

Hillary war auch bei weiteren großen Expeditionen dabei, so war er z. B. verantwortlich für die Anlage von Vorratslagern bei der Commonwealth Trans-Antarctic Expedition, die ihn 16 Monate von seiner Familie trennte. Dabei erreichte er, auch wenn das gar nicht so vorgesehen war, noch vor dem offiziellen Leiter der Expedition den Südpol.

Diese Erinnerungen lesen sich, schon aufgrund der geschilderten Expeditionen, Dramen und Gefahren, natürlich spannend. Und gleichzeitig war ich erstaunt, wie dröge sie manchmal daherkommen. Hier schreibt einer, dem das anschauliche Erzählen ganz offensichtlich nicht in die Wiege gelegt worden ist. Vielleicht liegt dieser Eindruck unter anderem auch daran, dass das Private nur eine untergeordnete Rolle spielt. Frauen werden bis zu seiner erfolgreichen Mount Everest-Besteigung erst gar nicht erwähnt, doch danach zaubert er innerhalb weniger Zeilen sogar eine Braut aus dem Hut. Humor taucht nur dann auf, wenn er sozusagen gar nicht zu vermeiden ist.

Tiefsinnige Reflexionen sind seine Sache nicht. Hillary setzte sich später für viele wichtige Dinge, wie z. B. den Naturschutz, ein, sammelte Gelder und unterstützte den Bau von Schulen, Brücken und Krankenhäusern in Nepal, doch dass auch seine Expeditionen Müll und Schrott zurücklassen, wird kommentarlos übergangen.

Mit wachsender Erregung stiegen wir [Hillary und seine Familie] unter den hochragenden vereisten Wänden weiter bis auf 5190 Meter und fanden hier die ersten Zeichen früherer Everest-Expeditionen; verrostete Konservendosen, Markierungsstäbe aus Bambus, alte Batterien und ähnliches. Mich erinnerten sie an unvergeßliche Augenblicke. (S. 400)

Dass der Bau des Flughafens in Lukla durchaus auch negative Folgen für die einheimische Bevölkerung hatte, ist ihm allerdings schmerzlich bewusst.

Durch den Flughafen von Lukla sind die Bürokratisierung und der Tourismus im Gebiet des Everest leider beschleunigt worden. Schon am Khumbu spürt man die ‚Segnungen‘ der Zivilisation. Wälder werden abgeholzt, der Unrat türmt sich an den Campingplätzen und vor den Klöstern, und die Kinder haben schon das Betteln gelernt. […] Manchmal habe ich ein sehr schlechtes Gewissen. Mein einziger Trost liegt darin, daß die althergebrachte Lebensweise der Sherpas ohnedies nicht mehr aufrechterhalten werden kann, denn nur wenige Gesellschaften vermögen den Versuchungen zu widerstehen, die die Zivilisation zu bieten hat. (S. 382)

Was zählt, sind Tatkraft, Kameradschaft, körperliche Leistungsfähigkeit und die pure Abenteuerlust, bei der man immer wieder die eigenen Grenzen ausloten und verschieben kann.

Ich fand es herrlich, wieder in Thyang Botschi zu sein, in der wunderschönen Landschaft das Lager auf dem Schnee einzurichten und zu wissen, daß wir diesmal über die Ausrüstung und die Männer verfügten, um einen erfolgreichen Angriff auf den Gipfel zu beginnen. Ich bin bei keinem schwierigen Unternehmen sofort vom Erfolg überzeugt gewesen; gewiß nicht, besonders wenn es sich dabei um die Besteigung eines hohen und bis dahin noch nicht bezwungenen Berges handelte. Was hat es für einen Sinn, eine Sache anzupacken, von der man weiß, daß sie gelingen wird? Ich wußte, wir würden am Everest alle Kräfte einsetzen, über die wir verfügten, aber der Erfolg war uns nicht von vornherein sicher, und das war mir nur recht. (S. 207)

Deswegen liegt auch der Schwerpunkt in diesen Erinnerungen auf der fast minutiösen Schilderung seiner großen Expeditionen.  Ab und zu hatte ich dann das Gefühl, nun alle gefährlichen Gletscherspalten persönlich zu kennen. Auffällig auch immer wieder die Metaphorik; der Berg, der Gipfel, das sind Gegner, die man angreifen, bezwingen und besiegen muss.

Schade, dass diese Ausgabe des Frederking & Thaler Verlages so spärlich bebildert ist.

‚Es gibt nichts Neues mehr!‘ Immer wieder hört man das von allen möglichen jungen Menschen, und irgendwie ist das traurig, weil man weiß, daß derjenige, der es sagt, die Augen vor den Möglichkeiten verschließt, die es auch heute noch in großer Zahl gibt. Überall in der Welt gibt es Abenteuer zu bestehen, wenn man genug Phantasie besitzt und sich die Mühe macht, danach zu suchen. (S. 410)

Vielleicht wäre es in diesem Fall sinnvoller gewesen, eine Biografie über Hillary zu lesen statt seiner Autobiografie, denn ich hätte gern noch viel mehr über das Davor und Danach, z. B. seine Kindheit oder sein gesellschaftliches Engagement in Neuseeland sowie Einschätzungen seiner Freunde und seiner Familie gelesen.

Anmerkungen

1975 starben Hillarys Frau Louise und ihre 16-jährige Tochter bei einem Flugzeugunglück in der Nähe Kathmandus. 1989 heiratete er die Witwe seines engen Freundes Peter Mulgrew. Mulgrew hatten nach einer Expedition beide Füße  amputiert werden müssen. 1979 erklärte er sich bereit, für Hillary als Kommentator bei dem Air New Zealand Flug 901 einzuspringen, einem touristischen Rundflug über der Antarktis. Bei diesem Flug kamen alle 237 Passagiere und die Besatzung ums Leben.

Nach dem Tod Hillarys 2008 kam es zu häßlichen Erbstreitigkeiten zwischen Edmunds Sohn und seiner zweiten Frau.

Oss Kröher: Das Morgenland ist weit (1997)

Die hinreißenden Erinnerungen von Oss Kröher an eine nie mehr zu wiederholende Reise mit dem Motorrad beginnen mit den Sätzen:

Es war am Vormittag des 15. März 1951 in der Stadt Pirmasens, als vor dem Hause Klosterstraße 29 – unweit der Horebschule – ein kleiner Volksauflauf entstand. Die Menge umringte ein schier vorsintflutliches NSU-Motorrad, Baujahr 1928, das wundersamerweise den Krieg überlebt hatte und auf dem zwei abenteuerlich gewandete Gestalten saßen. Seitlich angekoppelt war ein heillos überladener Beiwagen, auf dessen Bug ein Schild mit der Aufschrift „Germany – India“ prangte. (S. 17)

Oss (eigentlich Oskar) Kröher (*1927 in Pirmasens) und sein Freund Gustav Pfirrmann brechen also im Frühjahr 1951 auf, um mit einem alten Motorrad samt Beiwagen bis nach Bombay in Indien zu fahren. Eine Reise, die fast anderthalb Jahre dauern wird.

Ihr Plan, die Haushaltskasse durch Vorführungen zu finanzieren, geht auf, und zwar spektakulärer, als sie das selbst erwartet hätten. Dabei ist Gustav für Zauberkunststücke und das Feuerschlucken zuständig, während Oss Volkslieder und Schlager samt Gitarrenbegleitung zu Gehör bringt. Immer wieder gewünscht vom Publikum wurde übrigens Lili Marleen.

Ich mußte es noch oft anstimmen, aber im ‚Arizona‘ über den Dächern von Damaskus sang ich es erstmals öffentlich. Vielleicht war mein Ausdruck deshalb so überzeugend, weil ich noch als Teenager an die Front gekommen war und nur durch außergewöhnliche Umstände das Kriegsende, wenn auch leicht lädiert, überlebt hatte. (S. 234)

Mit jugendlichem Überschwang nehmen sie es hin, dass sie schließlich sogar vom ersten indischen Premierminister Jawaharlal Nehru eingeladen werden.

Sie „fressen Staub“, „schlachten“ unzählige Wassermelonen, kämpfen mit Läusen, müssen so ziemlich alles reparieren, was an einem Motorrad kaputtgehen kann, schleppen bis zum Schluss zwei Feldbetten mit, freuen sich an der Schönheit der Menschen, der Moscheen und an den überwältigenden Natureindrücken. Sie fahren und spazieren mit offenem Blick durch die Natur, die Basare, Bars, Hurenviertel und Villen.

Mit der aufkommenden Nacht fuhren wir in eine Schlucht hinein, deren Felsblöcke sich zu beiden Straßenseiten die steilen Hänge emportürmten. Acht Kilometer rollten wir durch diese düstere Felsenwildnis aus geborstenen Säulen und Mauerresten der Antike, durch dies Niemandsland. Immer dunkler fiel die Nacht, immer steiler stieg die Straße zwischen den Zyklopenfelsen. Eine Eule flog lautlos vor uns her, und neben uns flüchtete ein Schakal in das Geröllfeld. Da hielten wir an und blickten ihm  nach, bis er auf dem Grat vor dem Nachthimmel noch einmal stehenblieb, zu uns herunterlugte – und dann verschwand. Kurz danach sperrte der syrische Schlagbaum die Straße. Der Grenzpolizist trug Khaki und begrüßte uns auf Französisch. Er hob den Schlagbaum und öffnete uns die Grenze. Wir waren in Syrien. (S. 210)

Sie geraten in Stürme, werden das Opfer von Sabotage, doch genauso werden sie vom Hauslehrer eines Scheichs eingeladen, der ihnen stolz seinen Wagenpark von fünfzehn Luxusfahrzeugen präsentiert, während seine Pächter wie Leibeigene leben.

Die beiden kommen einer Python ziemlich nah, geben in Bagdad Radio-Interviews und bewundern archäologische Kostbarkeiten, wie z. B. Ktesiphon, die Behistun-Inschrift oder die Ruinen von Babylon. Die Reisegefährten werden, wenn auch unbeabsichtigt, Zeuge der Bestattungsriten der Parsen, die die Leichen der Verstorbenen in den Türmen des Schweigens den Vögeln zum Fraß überlassen.

Sie hören Deutsch an den überraschendsten Stellen und ein Afghane überrascht sie mit seinem rheinischen Dialekt. Daneben gewinnen sie Freunde, mit denen sie z. T. Jahrzehnte später noch Kontakt halten, und erleben – gerade auch durch die Musik -, wie Menschen sich über Länder- und Sprachgrenzen hinweg verständigen und respektieren können.

Die lange Reise hatte uns unmerklich aufgeschlossen und bescheiden gemacht. Die Überheblichkeit unserer Jugend war der Achtung vor fremden Verhaltensweisen gewichen, und wir hatten gelernt uns der Ausstrahlung fremder Kulturen bereitwillig hinzugeben. (S. 493)

So sollte man reisen.

Was für ein großartiges Buch (und nein, ich fahre nicht Motorrad). Am liebsten möchte ich gleich wieder mit der Lektüre von vorn beginnen, habe ich doch die Fülle an Geschichten, befremdlichen und herzerwärmenden Eindrücken und skurrilen und gastfreundlichen Begegnungen und Informationen beim ersten Mal wie einen Abenteuerschmöker genossen.

Einmal [kurz vor Delhi] tauchte sogar eine Sänfte auf. Wir hatten uns gerade im Schatten niedergetan, als die vier Träger langsam näherkamen. Einer von ihnen mußte den Passagier darin auf uns hingewiesen haben, denn der Vorhang wurde zurückgezogen, und das Antlitz eines zwölfjährigen Knaben sah uns an. Über den dunklen Augen und der Bronzehaut der Stirn leuchtete der weiße Turban aus Seide, und mit anmutiger Geste hielt die Knabenhand den Vorhang gerafft. So zog die Sänfte fast lautlos an uns vorbei, denn die vier halbnackten Träger gingen barfuß; dann verschwand sie hinter uns im Schatten der dichtbelaubten Alleebäume. (S. 504)

Und – zu meiner Verblüffung – zeigt sich, dass eine solide Kenntnis der Bücher von Karl May damals aus Fremden rasch Vertraute machen konnte.

Daneben kann man das Buch auch zum Anlass nehmen, etwas über die bereisten Länder (Italien, Griechenland, Türkei, Syrien, Irak, Iran, Afghanistan, Pakistan und Indien) zu lernen. Oss Kröher spickt seine Erinnerungen nämlich mit vielen Informationen zur Geschichte, den heiligen Stätten, der Literatur und Kultur.

Dann aber, im Mongolensturm des Jahres 1258, büßte Bagdad seine Macht und Größe ein. Das arabische Reiterheer versank vor den Mauern der Stadt in Blut und Tod, als die mongolischen Bogenschützen auf ihren struppigen Ponies wie ein todbringendes Schicksalsrad das gelähmte Heer der Araber galoppierend  umkreisten und so lange mit Pfeilen überschütteten, bis sich nichts mehr rührte. Dann wurde die ehemals strahlende Märchenstadt von den Steppenreitern geplündert, verwüstet und verbrannt. Aus den Schädeln der Toten bauten sie eine Pyramide zum eigenen Ruhm. In unseren Geschichtsbüchern steht kaum etwas davon geschrieben. (S. 280)

Und während man dieses Zeitzeugnis liest, kann man ganz trübsinnig werden, weil ein Großteil mancher dieser Länder nun in Trümmern liegt, so dass in Vergessenheit zu geraten droht, welch Jahrtausende alte Kultur, Architektur, Literatur etc. da gerade zu einer Mondlandschaft zerbombt wird. Unser eurozentrischer Blick kommt an mehr als einer Stelle ordentlich an seine Grenzen.

In Hochstimmung näherten wir uns der ersten arabischen Stadt – es war Aleppo, im Norden Syriens. […] Ob Eselsgespann, Pferdekutsche oder amerikanische Straßenkreuzer mit Glitzer und Chrom; ob Omnibusse, die mit Landschaftsbildern bemalt waren, aber dafür keine Fensterscheiben hatten – wegen der Tageshitze -, ob tiefverschleierte Frauen oder europäisch gekleidete, sie alle waren offenbar emsig beschäftigt, und die Stadt atmete pulsierendes Leben. (S. 212)

Gleichzeitig zeigen Kröhers Erinnerungen, dass die ungeheuerliche, hoffnungslose Armut und die geringe Alphabetisierungsrate der Massen in Kombination mit dem selbstherrlichen Wüten der Kolonialmächte und den wirtschaftlichen Interessen des Westens schon lange ein explosives Gemisch gewesen sind. Ich war jedenfalls überrascht, wie viele westliche Ingenieure die beiden auf ihren Reisen getroffen haben und wie die zwei jungen Deutschen meist freundlich aufgenommen wurden, eben weil sie nicht zu den verhassten Kolonialmächten gehört hatten.

Heute, im letzten Jahrzehnt des zwanzigsten Jahrhunderts, könnten wir unsere bunte und friedliche Motorradreise von damals keinesfalls wiederholen. (S. 224)

Ich wäre auch noch länger mit an Bord geblieben, dabei hat das Buch schon 662 Seiten. Die Informationen über die Vorgeschichte des Unterfangens und über die beiden Freunde selbst hätten gern noch ausführlicher sein können und – ein bisschen Meckern muss erlaubt sein – ich hätte mich über noch mehr Fotos gefreut.

Und nach dem Lesen beziehe ich den Titel nicht mehr nur auf die vielen tausend Meilen zwischen Pirmasens und Bombay, sondern lese ihn auch so: Das Morgenland ist von großer und fast unvorstellbarer Weite und Vielfältigkeit.

Und wer wissen will, was die beiden jungen Männer auf ihrer langen Reise am tiefsten berührt hat, was sie mit Eleanor Roosevelt zu tun hatten, welche Fehler man lieber nicht machen sollte und auf welch geradezu märchenhafte Art und Weise Oss die Heimreise nach Deutschland angetreten hat, der muss das Buch nun doch noch selbst lesen.

Wir ließen die Hafenstadt hinter uns und fuhren in das Amanosgebirge hinauf. Da kamen uns Zigeuner entgegen mit Kind und Kegel, ihre armselige Habe war auf einem Maulesel-Karren verstaut. Pfannen und Töpfe hingen an den Seiten, und die Frauen trugen durchwegs lange, weite Röcke, unter deren rotbunten Falten die Barfüße herauslugten. Die rotznäsige Kinderschar, halbnackt und in zerlumpten Turnhosen, versuchte bei uns zu betteln, aber wir hielten nicht an. Einer der Männer, in längsgestreifter Pyjamahose und ärmelloser Weste, führte einen zottigen Braunbären an einer Nasenkette. (S. 207)

Anmerkungen

Oss Kröher trat übrigens später – zusammen mit seinem Zwillingsbruder Hein – jahrzehntelang als Liedermacher und Volksliedsänger auf. Hannes Wader sagte einmal über die beiden, dass er viele Volkslieder erst durch die Brüder kennengelernt habe.

Ein Literaturtipp, der sich aus dem Buch ableitet, wäre Die vierzig Tages des Musa Dagh (1933) von Franz Werfel.

Den Hinweis auf Das Morgenland ist weit verdanke ich Stefan von Lichtgewimmel. Also Danke für einen wunderbaren Tipp; ich kann jetzt verstehen, weshalb du damals das Buch vor der Buchapokalypse retten wolltest.

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Geert Mak: Amsterdam: A brief life of the city (1994)

The people who lived through Amsterdam’s history have vanished. Nobody can tell their stories; nevertheless, dumb witnesses to what happened still exist in their thousands. Time and again small fragments are released from this silent archive. Beneath the foundations of an old house in the Warmoesstraat, next to the red-light district of the Oudekerksplein, building workers found a barely deteriorated layer of fourteenth-century cow dung and straw, and a pair of bone skates, remnants of the time when the Warmoesstraat was still a dyke, and Amsterdam a little village on the IJ. […] Again, by the Herengracht, […] excavations for a new bank laid bare a bizarre combination of objects: the lower beams of an old mill; a silver medallion bearing a rose-shaped cameo; several skeletons in almost totally disintegrated coffins; a horn ointment press; smelling bottles […] a mediaval stone wall lamp; a single lady’s shoe. The builders had chanced upon the site of the provisional pesthouse from the seventeenth century; a place where thousands of victims of the Black Death spent their last days.

Mit diesem Zitat von Seite 1/2 bekommen wir schon einen guten Eindruck von dem wunderbaren Reiseführer in die Geschichte und Kultur Amsterdams von Geert Mak.

Die englischsprachige Übersetzung stammt von Philipp Blom. Die deutsche Ausgabe mit dem Titel Amsterdam: Biografie einer Stadt, übersetzt von Isabelle de Keghel, erschien im btb Verlag.

Mak, der mich schon mit Das Jahrhundert meines Vaters begeistert hat, zeichnet hier auf 338 Seiten die Entwicklung Amsterdams nach. Dazu benutzt er u. a. Tagebuchaufzeichnungen eines Mönchs aus dem 16. Jahrhundert, archäologische Funde, Recherchen in Archiven und Interviews.

Er geht ein auf die Anfänge als kleines Dorf:

When all is said and done, Amsterdam was an impossible city. Everything that was built sank into the mud, especially in later centuries when the harbour could only be reached by a complicated route made more difficult by sandbanks and headwinds. (S. 20)

Wir erleben die Bedeutung der Religion in der Stadt und den allmählichen Siegeszug der Reformation:

In the year 1500, Amsterdam had no fewer than 20 convents and monasteries, roughly one for every 500 inhabitants. (S. 44)

Und dieses Dorf steigt zu einer europäischen Großmacht auf, die die Meere und den Handel, u. a. mit Sklaven, beherrscht, sodass man das 17. Jahrhundert als das Goldene Zeitalter bezeichnet, in der die Künste florierten. Es geht um die Entdeckung neuer Handelsrouten und darum, dass nur ein Bruchteil der Schiffsmannschaften wieder heil nach Hause kam.

One in ten deck hands would not even survive the outward-bound journey. One in every 25 ships would sink on its way back from the West Indies. Of the 671,000 men who travelled out from Amsterdam, only 266,000 were to return. (S. 161)

Er beleuchtet die spezifische Regierungsform der alten Kaufmanns- und Handelsstadt, das lärmige und internationale Treiben am Hafen, die kriegerischen Auseinandersetzungen, in die die Stadt verwickelt war, das (grauenhaft brutale) Strafsystem im Mittelalter, die Lebensbedingungen der einfachen Leute und die entsetzlichen Hungerwinter, in denen die Grachten zufroren, die Stadt deshalb kein sauberes Trinkwasser mehr hatte und Menschen in ihren Häusern oder auf den Straßen erfroren.

Mak beschäftigt sich mit Architektur und Transport:

The building of the Central Station was the largest construction project in nineteenth-century Amsterdam, and the city’s greatest planning blunder ever. (S. 207)

Doch auch Wirtschaft, Politik, die Entstehung der Grachtenlandschaft und die Mentalität der Bewohner wird unter die Lupe genommen. Wir erfahren, warum Rembrandt ein Armengrab bekam und dass besondere Tulpenzwiebeln wie die der Semper Augustus schon mal so viel wie ein großes Haus samt Garten kosten konnten.

Famously, in 1636, the trading index of tulip bulbs had rocketed in Amsterdam and throughout the rest of Holland. (S. 154)

Wir erfahren etwas über die relative Toleranz gegenüber Andersgläubigen, den Aufstieg des Schiffsbaus, die Rolle der jüdischen Einwohner, die Besetzung durch Nazi-Deutschland, die unvorstellbaren Gräueltaten der Besetzer. Dabei setzt sich Mak auch mit der Kollaboration seiner Landsleute auseinander.

Die rasanten gesellschaftlichen Veränderungen im Nachkriegsholland kommen ebenfalls zur Sprache bis hin zu den anarchistischen Ausschreitungen bei der Hochzeit der späteren Königin Beatrix.

Fazit

Zwar hätte ich mir eine üppigere Illustration gewünscht, die sich hier ja wirklich angeboten hätte, dennoch:

Ein tolles Buch, allen zur Vorbereitung oder Nachbereitung einer Reise nach Amsterdam dringend empfohlen! Mak schafft es, übersprudelnd informativ und gleichzeitig unterhaltsam, spannend und interessant zu schreiben, da er immer ganz dicht am Leben der Menschen bleibt. Da finden sich dann so nette Passagen wie die folgende:

This specialization of trades [im 14. Jahrhundert] must have had momentous consequences, especially for women. Until the thirteenth century, they ground the grain by hand at home, made bread, wove garments and baked pots in the fire. By the end of the twelfth century, however, looms and potteries were beginning to be introduced, and soon these female tasks were taken over by male weavers and potters. This transition is clear from fingerprints found on earthenware dating from this time. With the help of fingerprint experts from the municipal police, Amsterdam city archaelogists were able to establish that the earliest pieces of earthenware were almost always handmade by women. Later, however, the pieces show the prints of men’s fingers. (S. 26)

IMG_0496Gemälde aus dem Het Scheepvaartmuseum in Amsterdam

Sylvain Tesson: In den Wäldern Sibiriens (OA 2011)

Die Marke Heinz vermarktet etwa fünfzehn verschiedene Saucen. Der Supermarkt von Irkutsk führt sie alle, und ich kann mich nicht entscheiden. Ich habe schon sechs Einkaufswagen mit Nudeln und Tabasco beladen. Der blaue Lastwagen wartet auf mich. Mischa, der Fahrer, hat den Motor nicht abgestellt, draußen herrschen minus 32 Grad. Morgen verlassen wir Irkutsk. In drei Tagen werden wir die Blockhütte am Ostufer des Sees erreichen. […] Fünfzehn Sorten Ketchup. Wegen solcher Dinge wollte ich dieser Welt den Rücken kehren.

Mit diesen Sätzen beginnt der großartig coole Reisebereicht In den Wäldern Sibiriens: Tagebuch aus der Einsamkeit (2014) von Sylvain Tesson. Das französische Original, ins Deutsche von Claudia Kalscheuer übersetzt, erschien 2011.

Ausnahmsweise fange ich mal mit einem Zitat aus einer Rezension an, das bringt es nämlich schon gut auf den Punkt: Blake Morrison schreibt im Guardian: „… he [Tesson] comes across as the brainiest, daftest, sternest, funniest, most companionable hermit you’ll ever meet.“

Der Schriftsteller, Journalist und Reisende Tesson (*1972) fasst auf der ersten Seite des Buches unter dem Titel Randnotiz zusammen, um was es eigentlich gehen soll:

Ich hatte mir vorgenommen, vor meinem 40. Lebensjahr als Eremit in den Wäldern zu leben.
Ich zog für sechs Monate in eine sibirische Hütte am Ufer des Baikalsees, an der Spitze des Nördlichen Zedernkaps. Das nächste Dorf, 120 Kilometer entfernt, keine Nachbarn, keine Zugangsstraßen, gelegentlich ein Besuch. Im Winter Temperaturen um die minus 30 Grad, im Sommer Bären an den Ufern. Kurz, das Paradies.
Ich nahm Bücher mit, Zigarren und Wodka. Alles Übrige – die Weite, die Stille und die Einsamkeit – war schon da.
In dieser Wildnis schuf ich mir ein schlichtes und schönes Leben, ich machte die Erfahrung eines aus einfachen Handlungen bestehenden Daseins. Im Angesicht von See und Wald betrachtete ich das Vorüberziehen der Tage. Ich hackte Holz, angelte mein Abendessen, las viel, wanderte durch die Berge und trank am Fenster Wodka. Die Blockhütte war ein idealer Beobachtungsposten, um noch die kleinste Bewegung der Natur zu erfassen.
Ich erlebte den Winter und den Frühling, das Glück, die Verzweiflung und am Ende den Frieden. In der tiefsten Taiga verwandelte ich mich. Die Bewegungslosigkeit gab mir, was das Reisen mir nicht mehr verschaffen konnte. Der Geist des Ortes half mir, die Zeit zu zähmen. Meine Einsiedelei wurde zum Laboratorium dieser Wandlungen.
Jeden Tag verzeichnete ich meine Gedanken in einem Heft. Dieses Tagebuch eines Einsiedlerlebens halten Sie in Händen.

2003 wanderte Tesson das erste Mal am Baikalsee. Das hinterließ einen so tiefen Eindruck, dass er beschloss, irgendwann wiederzukommen. Sieben Jahre später erfüllt er sich nun diesen Traum und bezieht seine Blockhütte am Ufer des ältesten und tiefsten Sees der Welt. Neben den streng überlebenswichtigen Vorräten hat er auch ein paar Luxusgüter im Gepäck: Beträchtliche Mengen an Wodka, Paracetamol (gegen die Wirkungen des Wodka), Zigarren und eine große Bücherkiste. Solarzellen liefern den Strom für seinen kleinen Computer. Das Satellitentelefon für Notfälle funktioniert nur ab und zu.

Als erstes räumt er den Müll des Vorgängers hinter die Hütte. Zunächst ist er allein, später kommen zwei Hunde dazu. Ab und an bekommt er Besuch von trinkfesten Fischern und Angestellten des Baikal-Lena-Naturreservats.

Im Abstand von 30 Kilometern beherbergen Stationen des Naturschutzgebiets Inspektoren […] Später werde ich in melancholischen Momenten, wenn ich das Bedürfnis verspüre, mit jemandem anzustoßen, nur einen Tag nach Süden oder fünf Stunden nach Norden wandern müssen. (S. 22)

Und so beginnt sein großes Abenteuer:

Ich bin an der Landungsbrücke meines Lebens angelangt. Ich werde endlich erfahren, ob ich ein Innenleben habe. (S. 33)

Über weite Strecken spürt man sein geradezu physisches Wohlbehagen, das er empfindet, ja manchmal macht ihn die Einsamkeit fast ein bisschen größenwahnsinnig: Sie

wirkt als Resonanzkörper: Alle Eindrücke sind wesentlich stärker, wenn man allein ist. Sie erlegt einem Verantwortung auf: Im menschenleeren Wald bin ich Botschafter der menschlichen Gattung. Ich muss dieses Schauspiel für alle genießen, denen es versagt ist. Sie […] wäscht alles Geschwätz von mir ab, erlaubt es, mein Inneres zu sondieren. Sie lässt Erinnerungen an geliebte Menschen aufsteigen… (S. 114)

Er wandert und klettert, angelt, beobachtet stundenlang den gefrorenen See, erlebt Stürme, geht später im Frühling den Bären aus dem Weg und protokolliert die feinsten Nuancen am Himmel und in der Eisdecke. Er füttert Meisen, wärmt sich an seinem Ofen und philosophiert dabei buchstäblich über Gott und die Welt. Er angelt und fährt stundenlang Schlittschuh, vermisst seine Liebste und genießt seinen nachhaltigen und konzentrierten Lebensstil, den er durchaus als Revolte gegen die Gesellschaft deutet.

Die Blockhütte, das Reich der Vereinfachung. Unter dem Schutz der Kiefern beschränkt sich das Dasein auf lebenswichtige Handlungen. Die den täglichen Aufgaben abgerungene Zeit füllt sich mit Ausruhen, Kontemplation und kleinen Freuden. Die Palette der zu erledigenden Dinge ist begrenzt. Lesen, Wasser holen, Holz hacken, schreiben und Tee eingießen werden zu einer Liturgie. In der Stadt geht jede Handlung auf Kosten von tausend anderen. Der Wald verdichtet, was die Stadt zerstreut. (S. 40)

In eine Hütte zu ziehen bedeutet, von den Kontrollschirmen zu verschwinden. Der Einsiedler löscht sich. Er sendet keine digitalen Spuren mehr, keine Telefonsignale, keine Bankkartenimpulse. […] er tritt aus dem großen Spiel aus. (S. 120)

Aber auch die dunklen Momente des Zweifels, des nicht enden wollenden Regens und der Verzweiflung verschweigt er nicht.

Gleichzeitig spürt Tesson die Notwendigkeit, sich und seinen Tag zu strukturieren, denn er weiß um die Gefahr, ohne die soziale Kontrolle der Mitmenschen den ganzen Tag nur verdreckt und betrunken in der Ecke zu liegen.

Robinson kennt diese Gefahr und beschließt, um nicht auf den Hund zu kommen, jeden Abend am Tisch und im Anzug zu dinieren, als empfange er einen Gast. […] Die Einsamkeit ist eine Bewährungsprobe […] Der Einsame muss sich der Pflicht der Tugend unterwerfen, sagt er, und darf sich keine Grausamkeit erlauben. Wenn er schlecht handelt, wird sein Einsiedlertum ihm eine doppelte Strafe auferlegen: Nicht nur wird er das durch seine eigene Bosheit verdorbene Klima zu ertragen haben, sondern er wird auch die Niederlage einstecken müssen, der menschlichen Gattung nicht würdig gewesen zu sein. (S. 99/100)

Er liest und wird immer mal wieder durch Besuche aufgestört, was dann regelmäßig in Besäufnissen endet. Wir wandern mit ihm durch die Jahreszeiten, erleben seine Entschleunigung, sehen, wie seine Konzentration sich verschiebt. Brauchte er in Paris den Trubel, Besuche und Betriebsamkeit, um die Tage zu bewältigen, reicht ihm hier schon der Besuch einer Meise am Fenster, um ihn einen ganzen Nachmittag zu entzücken.

Dabei sorgt aber die harsche Natur dafür, dass er nicht völlig abhebt. Auf einem Aussichtspunkt oberhalb des Sees sinniert er:

Im Leben braucht es drei Zutaten: Sonne, einen Ausblick und in den Beinen die milchsaure Erinnerung an die Anstrengung. Und kleine Montechristos. Das Glück ist flüchtig wie ein Wölkchen Zigarrenrauch. Es herrschen minus 30 Grad. Zu kalt für längere Kontemplationen.

Tesson ist ein belesener Reisender. Seine Bücherkiste enthält ca. 60 Titel, von den Stoikern, den Eremiten des 4. Jahrhunderts bis hin zu Shakespeare, Robinson Crusoe und einigen Krimis, aus denen er immer wieder zitiert, die er gedanklich verknüpft, denen er widerspricht, aus denen er entnimmt, was ihm nützlich erscheint. Schön auch die Lektüre der chinesischen Dichter, die sich schon vor Jahrhunderten so ihre Gedanken über den Rausch, die Schönheit und die Zurückgezogenheit gemacht  haben.

Es macht Spaß, Tesson dabei zu folgen. Beim nächtlichen Besuch seiner Latrine, 120 Schritte von der Hütte entfernt, fällt ihm beispielsweise die Geschichte von Daphne du Maurier ein, in der ein Mann in einer kalten Winternacht über die Wurzeln eines Baumes stolpert, den seine Frau einst gepflanzt hat.

Manchmal ist es auch einfach nur komisch. Da verkriecht sich einer im Winter am Ufer des Baikalsees und selbst dort ist er nicht vor Leuten sicher, die weder Sinn für die Schönheit des Ortes oder die Einsamkeit haben. Eines Nachts kommen Mitglieder aus Putins Partei in acht Geländewagen und  kampieren am Strand. Er ist niedergeschmettert, nicht zuletzt, weil sie die schöne Schneefläche komplett zertrampelt haben.

… der Lärm, die Hässlichkeit, das testosterongesteuerte Herdenverhalten. Und ich armer Tropf mit meinen Reden über Rückzug und meinem Exemplar von Jean-Jacques‘ Träumereien auf dem Tisch! Ich denke an die Benediktinerbrüder, die heute gezwungen sind, Touristen durch ihre Klöster zu führen … (S. 42)

Einmal besucht ihn der Meteorologe von einer der Inseln, in Begleitung einer australischen Touristin.

Die Australierin versteht einiges nicht ganz:
„Do you have a car?“ – „No“, sage ich.
„A TV?“ – „No.“
„If you ever have a problem?“ – „I walk.“
„Do you go to the village for food?“ – „There is no village.“
„Do you wait for a car on the road?“ – „There is no road.“
„Are those your books?“ – „Yes.“
„Did you write all of them?“

Selbst zwei Shivaisten, die vor ihm einen schwer verdaulichen „spirituellen Brei“  auswalzen und dabei aussehen wie „Killer einer Spezialeinheit“ verirren sich an sein einsames Ufer.

Tesson ist kein romantischer Spinner. Angesichts der begrenzten Ressourcen unserer Erde hält er zwar ein ökonomisches Nullwachstum für das Gebot der Stunde, doch glaubt er nicht, dass irgendeine Regierung den Mut hätte, ihrer Bevölkerung abzuverlangen, eher „Seneca zu lesen, als Cheeseburger zu verschlingen“. (S. 45)

Dabei ist er sich völlig im Klaren darüber, dass er sich mit diesen sechs Monaten einen Luxus leistet, der immer elitär bleiben wird. Würden das viele oder gar alle nachahmen, gäbe es diese fast unberührten Orte der Schönheit nicht mehr.

Wenn die Massen in die Wälder zögen, würden sie die Übel mitbringen, die sie fliehen wollten, indem sie die Stadt verließen. Es gibt keinen Ausweg. (S. 46)

Am Rande werden auch die Umweltzerstörung und der gedankenlose Raubbau an den Wäldern der Taiga erwähnt. So zerlegen chinesische Holzfäller russische Zedern, um daraus beispielsweise Essstäbchen herzustellen.

Zum Abschluss noch einmal seine Beweggründe, sich in eine Blockhütte zurückzuziehen:

Ich war zu geschwätzig
Ich wollte Stille
Zu viel unbearbeitete Post
und zu viele Leute zu treffen
Ich beneidete Robinson …

Sicherlich entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, wenn er seiner Geschwätzigkeit ein Schnippchen schlagen wollte und nun unzählige Tagebuchseiten vollgeschrieben hat. Egal.

Die wenigsten von uns werden sechs Monate in irgendeine Wildnis oder ein Kloster aufbrechen, doch die Fragen, die Tesson (sich) stellt, und die Einsichten, die er gewinnt, sind natürlich nicht nur für Eremiten von Belang:

Kann man sich selbst ertragen? (S. 50)

Es tut gut, kein Gespräch in Gang halten zu müssen. (S. 68)

Fazit

Keine Frage, unbedingt lesenswert! Selbst wenn mir Tessons Hang zu apodiktischen Aussagen manchmal auf die Nerven fiel.

Siebzig Jahre historischer Materialismus haben bei den Russen jedes ästhetische Empfinden zunichtegemacht. Woher kommt der schlechte Geschmack? Warum gibt es Linoleum und nicht nichts? Wie hat der Kitsch die Welt erobert? Der Run der Völker auf das Hässliche ist das Hauptphänomen der Globalisierung. […] Der schlechte Geschmack ist der gemeinsame Nenner der Menschheit. (S. 26)

Fand ich zunächst schade, dass hier in keiner Zeile davon erzählt wird, wie es Tesson nach seiner Rückkehr in die Zivilisation ergangen ist, ist es vielleicht gerade das Spannende? Wir malen uns aus, was wäre, wenn, und träumen ein bisschen, schreiben in unser Tagebuch und überlegen, wie auch wir ein bisschen geerdeter, ruhiger und konzentrierter leben können …

PS: Tesson empfindet seine Versuche, die ihn schier überwältigende Landschaft zu fotografieren, mehr und mehr als Frevel am Augenblick. So enthält das Buch leider keine Bilder. Hier gibt es immerhin einen kleinen Trailer auf YouTube.

2011 erhielt er für dieses Buch den französischen Literaturpreis Prix Médicis.

Fundstück von SylvainTesson

Hinweis zu der auf längeren Reisen mitzunehmenden Literatur:

Wenn man vor der Dürftigkeit seines Innenlebens Angst hat, muss man gute Bücher mitnehmen – so kann man die eigene Leere immer füllen. Falsch wäre es, ausschließlich schwierige Lektüre mitzunehmen, weil man sich vorstellt, das Leben in den Wäldern würde die geistige Temperatur auf einer sehr hohen Stufe halten. Die Zeit wird lang, wenn man für verschneite Nachmittage nur Hegel hat. (S. 28)

aus: SylvainTesson: In den Wäldern Sibiriens

Helge Timmerberg: In 80 Tagen um die Welt (2008)

Die Welt ist rund und kunterbunt, aber hin und wieder auch ungesund. Schon mal mit `nem Heißluftballon geflogen? Sie lösen die Leinen, und das Ding geht nach oben wie ein Fahrstuhl. Ab fünf Meter Höhe beginnt die Höhenangst, ab fünfzig Meter die helle Panik. Der Korb, in dessen Rand ich meine Hände kralle, vermittelte die Sicherheit eines fliegenden Katzenklos. Vom Wind verweht und schockerstarrt, hoffte ich schwer, daß der Herr Pilot wußte, was er tat.

Mit diesen Sätzen beginnt in 80 Tagen um die Welt (2008) von Helge Timmerberg.

Timmerberg, 1952 in einem kleinen Dorf in Nordhessen geboren, hat sich mehr oder weniger auf die Spuren des Phileas Fogg aus Jules Vernes Roman In achtzig Tagen um die Welt begeben und beglückt uns nun mit seinen Reiseimpressionen.

Warum er das tut, weiß ich bis jetzt, Seite 84, noch nicht. Ich meine, ich weiß weder, warum er diese Reise unternimmt noch warum ich das lesen soll.

Das für mich Interessante an diesem Buch waren deshalb nicht seine Reiseeindrücke, sondern sein Nachsinnen über das Älterwerden, das für ihn untrennbar mit seiner Haltung zum Reisen verknüpft ist, z. B. als er feststellt, dass er all die Flausen und Träumereien, mit denen er als junger Mann auf Tour gegangen ist, verloren hat.

Mir sind die Träume ausgegangen, von denen der Typ damals noch jede Menge hatte, tausendundeinen in jeder Tasche. (S. 58-59)

Das zieht sich dann als loser Faden der Sinnsuche durch das Buch. Er merkt, dass sich das Versprechen, das sich für ihn mit dem Reisen verbunden hat, nicht länger einlösen lässt.

‘Yesterday, all my trouble seemed so far away‘ – wenn ich auf Reisen war und keine Grenzen sah. Kein Ende von Raum und Zeit. Unendlich viele Straßen führten in die Unendlichkeit. Und das waren die Werte: Neu war gut, alt war schlecht. Bewegung bringt Heil. Eigentlich zu einfach. Eigentlich ein Kinderleben. Aber schön. […] Das Leben war ein Reiseroman. Wenn ich reiste, las ich ihn. Vierundzwanzig Seiten pro Tag. Er handelte von Liebe, Geld und Tod am Wegesrand. Vom Suchen und Finden, vom Weitergehen. Und überall wartete eine Berührung. Ein Lachen. Ein göttlicher Hauch. […] Ich träumte im Kreis. Vorbei. Das Spiel ist aus. Eine einfache Wahrheit hat Schluß damit gemacht. Reise ist Leben. Und Leben ist Leiden. Es macht keinen Unterschied. Gehen oder bleiben. (S. 185)

Der Traum, daß Reisen die Hintertür des Schicksals ist. Der Notausgang. Und eigentlich die Lösung für jedes Problem. Jetzt löst Reisen gar nichts mehr. Warum auch? Was hat Reisen mit dem Lösen von Problemen zu tun? (S. 205)

Das kennen bestimmt viele, die gern unterwegs sind: dass man während des Reisens vielleicht leichter und eher zu den Momenten gelangt, an denen man ganz gegenwärtig ist, der Sinn schon da ist und man sich nicht im banalen und anstrengenden Alltagskrimskrams verstrickt und verheddert.

Was ich sehr an diesem Buch mochte, war Timmerbergs flotte und entstaubte Sprache.

Und ich habe einen neuen Begriff kennengelernt. Timmerberg sei einer der deutschsprachigen Vertreter des Gonzo-Journalismus.

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Meike Winnemuth: Das große Los (2013)

Ich habe gerade 500 000 Euro bei ‚Wer wird Millionär‘ gewonnen. Glaube ich jedenfalls. „Da geht’s raus“, sagt Günther Jauch, und im Abgehen stolpere ich, geblendet von den Scheinwerfern, fast in die Kulisse. Wirklich ungemein realistisch, dieser Traum.

Es dauert ein bisschen, bis die Journalistin Meike Winnemuth kapiert, dass sie das nicht geträumt hat. Von den Folgen erzählt sie in ihrem Buch Das große Los.

Nach dem Gewinn wagt die Journalistin, sich einen langgehegten Traum zu erfüllen. Sie nimmt sich ein Jahr Auszeit, um durch die Welt zu reisen. Dabei gibt sie zu:

Freiheit ist erst mal eine Zumutung, niemand von uns hat gelernt, wie das geht. Wen einem niemand die Entscheidung abnimmt, womit der Tag zu füllen ist – kein Boss, keine Familie, keine Institution -, und man völlig ohne Strukturen lebt, ist das ebenso berauschend wie beunruhigend. Man muss regelrecht trainieren, freihändig zu gehen. Denn man verlässt mit dem engen heimischen Gehege eben auch die stabilen Geländer, an denen man sich immer entlanggehangelt hat. (S. 25)

Jeweils einen Monat verbringt sie in ihren Sehnsuchtsstädten und Ländern: Sie beginnt im lässig-entspannten Sydney, den Februar verbringt sie samt Tangokurs in Buenos Aires und den März in Mumbai. In Indien stellt sie  fest – surprise, surprise – , dass viele Menschen so arm sind, dass sie nicht einfach durch deren Wohnviertel laufen kann, wie sie das sonst so gern bei ihren Stadterkundungen macht.

Mit welcher Berechtigung hätte ich dort durchwandern dürfen? Nur um mal zu gucken, wie groß genau das Elend ist? Wie erbärmlich die Leute hausen? Es ging einfach nicht. Es reichte auch so. (S. 54)

Ursprünglich stand auch Tokio auf der Reiseliste. Doch nach dem Reaktorunglück in Fukushima entscheidet sie sich um und reist stattdessen nach Shanghai. Es folgen Honolulu, San Francisco und London. Sie setzt ihren Weltenbummel fort in Kopenhagen, Barcelona, Tel Aviv in Israel und den November verbringt sie in Äthiopien, dem Land, das sie am meisten überrascht, berührt und begeistert. Danach kann sie ihrer letzten Station Havanna auf Kuba, wo sie ständig von Männern dumm von der Seite angequatscht wird,  nicht mehr ganz so viel abgewinnen.

Da sie auch während der Reise ihrer Arbeit nachgehen und verschiedene Aufträge abarbeiten kann, muss sie weit weniger auf das Geld aus Wer wird Millionär zurückgreifen, als sie kalkuliert hatte, und das, obwohl sie sich, was den Lebensstil angeht, nicht wesentlich eingeschränkt hat. Sie lernt ein bisschen Ukulele spielen und besucht einen Tauchkurs in Israel. Über entsprechende Tauschbörsen mietet sie schöne, z. T. richtig luxuriöse Wohnungen. Letztlich stellt sie fest, dass sie sich so eine Auszeit auch hätte nehmen können ohne den Geldgewinn, doch erst der hat ihr den Kick und den Mut dazu gegeben.

Angst, so allein durch die Welt zu reisen, hat sie nicht:

Ich gehe nie vom worst case aus, warum sollte ich auch? Es ist ungleich wahrscheinlicher, bei einem Verkehrsunfall zu sterben als bei einem Terrorakt – hat mich das je davon abgehalten, auf die Straße zu gehen? Ängste sind Zeit- und Lebensverschwendung. Fast nie trifft das Befürchtete ein, und falls doch, dann wird man halt damit fertig. Der Mensch ist ein elastisches kleines Tierchen, jeder hält mehr aus, als er denkt. (S. 234)

Die Leser erfahren mal mehr, mal weniger über die Städte und Sehenswürdigkeiten. So beschließt sie, bei der nächsten Lebenskrise sofort die Koffer zu packen und eine Woche Totes Meer zu buchen, da es unglaublich entspannend sei, beim Schwimmen so getragen zu werden. Und die Gedenkstätte Yad Vashem beeindruckt sie tief.

Mein persönliches Highlight war die völlig schräge Theatervorführung in London im Barbican Centre, bei der es darum ging, die Zuschauer möglichst schnell in einen sanften Schlummer zu bringen. Man verbrachte dann die Nacht ganz stilecht im Theater in den extra im Zuschauerraum aufgestellten Betten.

Ich trug meinen neuen Marks & Spencer-Pyjama, und auch die anderen Besucher waren festlich gewandet: rot-grüne Pyjamahosen mit Aliens und Robotern, rosa Polyesterrüschen-Nachthemden, es war alles dabei. Eine Frau kuschelte mit ihrem Stoffhasen, ein Pärchen stritt leise. (S. 147)

Aufgewacht bin ich davon, dass ein kleines Gehege mit tschilpenden Küken in die Mitte des Raums getragen wurde. […] Die Bühnensonne ging auf, alle räkelten sich in den Betten. So ein gemeinsames Aufwachen unter Wildfremden ist ganz wunderbar. (S. 148)

Aber noch wichtiger ist das, was die Orte und die interessanten Menschen, denen sie begegnet, bei ihr auslösen: Gedanken und Erinnerungen an Kindheit, Elternhaus und verflossene Lieben nehmen viel Raum ein. Über ihre Erziehung schreibt sie beispielsweise im Brief an ihre Eltern:

Euer Aufzuchtprinzip war konsequente Freilandhaltung. Mit sieben oder acht war ich jeden Tag für ein paar Stunden verschwunden, und Ihr hattet keine Ahnung, wo ich war. (S. 77)

Bei einer solchen Reise kann es nicht ausbleiben, dass man sich auch mit den „großen“ Fragen beschäftigt: Was macht eigentlich ein sinnvolles Leben aus? Was will man mit der einem noch verbleibenden Lebenszeit anstellen?

Es braucht ja meist eine Zäsur, um sein Leben mal aus der Vogelperspektive zu betrachten und Inventur zu machen – in meinem Fall waren es gleich zwei Einschnitte, mein 50. Geburtstag im letzten Sommer und jetzt diese Reise. Also: Was habe ich, was fehlt mir, was funktioniert, was nicht mehr, wovon möchte ich mich verabschieden, wovon brauche ich mehr in meinem Leben? Was also will ich? (S. 87)

Was fange ich eigentlich mit meinen Kräften an, nutze ich sie auf die bestmögliche Weise? Macht es einen Unterschied, ob es mich gibt oder nicht? (S. 278)

Wie viel materielle Dinge braucht man, um glücklich zu sein? Wo ist Heimat? Wer ist man überhaupt? Und welchen Einfluss hat der jeweilige Ort auf einen oder, in den Worten Winnemuths: In welche Aggregatzustände versetzt einen ein fremdes Land, eine fremde Stadt? Welche Momente erlebt man als spirituell, als tief ins Menschsein greifend? Welche Antworten will man als nichtreligiöse Frau auf die letzten Fragen geben? Welche Freundschaften halten das Jahr aus und werden sogar vertieft? Welche neuen Freunde gewinnt man? Wie will man leben, wenn das kostbare Reisejahr vorüber ist? Was wird davon bleiben?

Das Wegsein verändert mich. Nicht fundamental, das nicht, aber es räumt auf in meinem Leben. Es sortiert mich. Umzüge haben eine ähnliche Wirkung: Man nimmt alles einmal in die Hand, überlegt, ob man damit weiterleben will, wirft die Hälfte weg und packt den Rest in die Kisten. (S. 151)

Ihre wichtigste Einsicht: Was für ein Glück, „in eines der reichsten Länder der Erde hineingeboren zu sein, jederzeit ein Dach über dem Kopf gehabt zu haben, dazu eine gute Ausbildung, einen Beruf […], die Freiheit, alles tun zu dürfen, was [man] will, reisen zu können […]. Nichts daran ist selbstverständlich, nichts davon verdient.“ (S. 282)

Fazit

Denis Scheck nannte Das große Los kurz und bündig „ein gutes Buch“. Ich würde dem mit einem entschiedenen „Jein“ antworten.

Eine intelligente, finanziell abgesicherte und prima vernetzte Frau Anfang 50 reist um die Welt, ohne dabei allzusehr auf Komfort und die technischen Errungenschaften wie Internet und Laptop zu verzichten. Das ist lockerluftig, voller Begeisterung, Entdeckerspaß und Ehrlichkeit erzählt, auch wenn mir manchmal der Stil ein bisschen zu sehr ins Kolumnenhaft-Girliemäßige abdrehte. Und bei Aussagen, wie sie reise „immer im Wissen, dass einem nicht das Geringste passieren kann. Oder doch: nur Gutes“, bekomme ich grüne Pickel.

Wenn ich ehrlich bin, hatte ich mir vielleicht doch mehr Einblick in die bereisten Städte und deren (kulturelle) Möglichkeiten erhofft, ein bisschen mehr Reisebericht. Interessanterweise gefiel mir der Abschnitt über Äthiopien am besten, hier lässt sie sich auf das Land und ihre Reisebegleiter ein und da bin ich ganz fasziniert mitgereist, ihr eigenes Staunen übertrug sich auf mich.

Winnemuths Reise entwickelt sich zu einer großen Selbsterkundung und die Fragen, die sie sich stellt, so ganz herausgelöst aus dem üblichen Alltagstrott, dürfen und sollten auch wir uns stellen, auch wenn wir dafür nicht bis nach Äthiopien reisen können. Beispielsweise verändert sich ihr Blick auf ihren Beruf.

Gleichzeitig bemerke ich, dass ich meinen Job […] gerade fast wie nebenbei erledige. Zuhause ist er das Zentrum meiner Gedanken und Planungen, mein Daseinszweck und meine Existenzberechtigung. Hier draußen sind andere Sachen wichtiger – und trotzdem oder gerade deshalb scheint die Arbeit davon zu profitieren, dass ihr nicht meine ganze Aufmerksamkeit gilt. Ich schaffe dasselbe, ich schaffe es nur schneller und lockerer, weil ich Besseres zu tun habe. Eigentlich müsste das doch auch zuhause möglich sein, oder? (S. 205)

Ihre Sicht auf die westliche Welt wird kritischer:

Vielleicht wollen wir aber auch – nur mal so als böser Verdacht – mit unserer ganzen Betriebsamkeit darüber hinwegtäuschen, dass sich dieser Tanz um eine verdammt leere Mitte dreht. Denn wenn man mal ehrlich ist: Unverzichtbar für den Fortbestand der Menschheit ist doch niemand von uns. […] Wozu also dauernd dieses hysterische ‚Ich bin so im Stress‘-Gestöhne? Wem wollen wir damit etwas vormachen? Den anderen? Uns selbst? (S. 113)

Was einem aus den Buchseiten geradezu entgegenspringt und -leuchtet und mich bei der Stange gehalten hat, ist der Spaß, den Winnemuth hat, an der Ungeplantheit der Tage, an den spontanen Entdeckungen und Entscheidungen, am Ausprobieren der wunderbaren Möglichkeiten, die uns die Welt bietet.

Auf der Kinderukulele habe ich dann tagelang den Song geübt. Vier Saiten, drei Akkorde, C, G, F, was kann daran so schwer sein? Alles. Für eine unmusikalische Stümperin wie mich war das wie Gehenlernen. Stolpern, auf die Nase fallen, aufstehen, ein paar Schritte machen, wieder hinfallen. Es war, mit einem Wort, großartig. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich zuletzt mit so viel Hingabe bei der Sache war. Denn das Wunderbare daran, von etwas überhaupt keine Ahnung zu haben: Du machst rasend schnell Fortschritte. Von geht überhaupt nicht zu geht schon ein bisschen ist es nur ein winziger Schritt, aber ein riesiges Glücksgefühl. (S. 16/17)

Spannend hätte ich übrigens noch ein Kapitel gefunden, in dem die Autorin darüber redet, wie es ihr vielleicht ein halbes oder ein ganzes Jahr nach der Reise geht, ob und was sich für sie in ihrem Leben grundsätzlich geändert hat.

Ich erinnere mich noch an den Moment, an dem ich das erste Mal bei Sonnenuntergang am Grand Canyon stand und ganz still wurde vor dieser Erhabenheit. Es war ein spiritueller Moment, wo Prioritäten und Bewertungsskalen komplett ins Rutschen kamen. Undenkbar, sich je wieder über Nichtigkeiten aufzuregen. Doch schon ein halbes Jahr später – war (fast) alles wie immer …

Anmerkungen

Wer auch ein bisschen Reisespaß haben möchte, dem empfehle ich zwei Anregungen von Winnemuth nachzugehen. Zum Einen sollte man den Franzosen Joel Henry recherchieren, der den „experimentellen Tourismus“ erfunden hat.

Zum Anderen ist sie im Nachhinein beschämt, nie vorher von den Felsenkirchen in Lalibela in Äthiopien gehört zu haben.

Wenn ich mir überlege, mit welchem banalen Mist ich mich oft beschäftigt habe, wenn ich mir weiter überlege, wie viel Schönheit und Reichtum und Wissen wohl noch auf Erden existiert und von mir in meinem Eurozentrismus einfach nie zur Kenntnis genommen wurde… (S. 273)

Und gern verweise ich auf die Besprechung auf dem Grauen Sofa, die mich überhaupt erst über das Buch stolpern ließ.

Wolfgang Büscher: Hartland – Zu Fuß durch Amerika (2011)

Eine Reiseerzählung, die ich sehr gern gelesen habe.

Im Jahr, als der Winter nicht enden wollte, ging ich nach Amerika hinunter, ein dunkler Punkt in der weißen Unendlichkeit der nördlichen Great Plains, eine Ameise im Schnee. Manchmal sah ich mich so, wenn der Geist sich löste und aufflog und einen Moment lang über mir flatterte, während die Füße mechanisch weiterstapften.

Wolfgang Büscher (*1951) beginnt mit seiner Schilderung an der Grenze zwischen Kanada und Amerika, genauer gesagt in North Portal, einem Dorf in der kanadischen Provinz Saskatchewan.

Schon der Grenzübertritt nach Nord-Dakota gestaltet sich nervenaufreibend. Die amerikanischen Grenzer finden die Vorstellung, dass ein Deutscher im Winter ohne Auto – aber dafür mit verdächtigen Stempeln aus China und Jordanien in seinem Reisepass – nach Amerika will, so absurd, dass sie ihn sich nur als getarnten Kriminellen vorstellen können, den es zu überführen gilt. Wer schon einmal die geradezu sprichwörtliche Unfreundlichkeit amerikanischer Grenzbeamter erlebt hat, kann nachvollziehen, wie angespannt die Stimmung in den stundenlangen Befragungen gewesen sein muss. Doch so sehr sie sich bemühen, etwas Belastendes zu finden, am Ende müssen sie ihn ziehen lassen.

Das Abenteuer kann beginnen. Büscher wird drei Monate lang und 3500 Kilometer von Nordamerika nach Mexiko bis zum Rio Grande laufen und trampen. Sein Vorwissen, die Bilder, die er im Kopf hatte, kommen ihm rasch abhanden:

Hätte ich mein reiches, überreiches Vorwissen in einem Beutel bei mir getragen, in diesem Augenblick wäre er in den Schnee geflogen. Nein, ich hatte dieses Land nicht gekannt, zu meinem Glück. Ich sah Amerika zum ersten Mal. (S. 27 der Taschenbuchausgabe)

Er lässt sich treiben und ist offen für alle neuen Eindrücke und Begegnungen, die man als Normalreisender nie erlebt. So trifft er mitten im Schneesturm einen ehemaligen Soldaten, der sich zum Sterben in eine einsame Waldhütte zurückgezogen hat, oder beschließt spontan, ein Fahrzeug zu überführen, das in drei Tagen in einer anderen Stadt sein muss. Seine Sprache ist oft poetisch:

Ich ging ohne Sorge, ohne Eile. Nichts gleicht dem Frieden, den fallender Schnee übers Gemüt des Wanderers wirft. […] Wie sanft fiel doch der Schnee, wie leicht wurde mir darin. Im lautlosen Flockengestöber gehen, in einer aufgeschüttelten Schneekugel, ringsum ein Taumeln – alles gleich, oben und unten, nah und fern, nicht mehr auszumachen, wo das Land endete und der Himmel begann. (S. 29)

Dabei bezieht er sich auch auf Reisende aus anderen Jahrhunderten. Beispielsweise zieht er immer wieder die Berichte des Prinzen Maximilian zu Wied-Neuwied (1782 – 1867) zu Rate, der nicht nur eine zweijährige Forschungsreise nach Brasilien, sondern auch – zusammen mit seinem Freund, dem Maler Karl Bodmer – von 1832 – 1834 eine Reise durch Nordamerika unternahm und so ein wichtiger Chronist der amerikanischen indigenen Völker wurde.

Außerdem berichtet er ausführlich über den Medizinmann der Oglala-Lakota-Indianer Black Elk (1863 – 1950), der zum Katholizismus konvertierte und 1931 seine Lebensgeschichte und seine Visionen dem Schriftsteller John G. Neihard und später auch Joseph Epes Brown anvertraute. Die daraus resultierenden Bücher gehören inzwischen zu den Standardwerken über indigene Kultur.

Das ist durchaus bedeutsam, denn noch heute kann man monatelang durch Nordamerika reisen und sich dabei wundern, weshalb man so gut wie nichts über die indianische Urbevölkerung und ihre grausame Vertreibung und gezielte Vernichtung erfährt, die Büscher allerdings an einer Stelle als das „unbegreiflich mächtige Rad“ der Geschichte (S. 86) verbrämt, dem die Indianer nichts entgegenzusetzen hatten.

Als er irgendwo auf einem Gruppenfoto – aufgenommen in New York City am 15. Oktober 1888 – indianische Häuptlinge sieht, die von der amerikanischen Regierung eingeladen worden waren, sich ein Bild von der „Überlegenheit des weißen Mannes“ (S. 67) zu machen, fallen ihm die klangvollen Namen der Indianer ins Auge: Thunder Hawk, Little No-Heart, Ugly White Horse, Pretty Eagle, White Ghost und Sky Bull.

O ja, das Neue hatte gesiegt, das um so vieles leichtere, uns erleichternde Neue, auch für mich hatte es gesiegt mit meiner Kreditkarte und in meinem roten Pickup, ich wußte es wohl und kannte die Einwände: O nein, sprach die Frau Vernunft, das Alte ist nicht das Bessere gewesen, nur Machos und sentimentale Idioten glauben das. Aber vielleicht das Schönere, sagte ich. Was hat es geholfen, fragte sie sanft. Nichts, sagte ich, und sie: Sich gegen das Neue zu stemmen, ist trotzig und dumm. Sei kein dummer Junge, sei gescheit. Schon gut, sagte ich, es klang müde. Aber die Verluste sind groß, auch wenn du das nicht verstehst. (S. 68)

Nun, das ist ein bisschen um den heißen Brei gefaselt. Es ging dabei nicht nur um alt oder neu, schön oder hässlich, sondern auch um handfestes Unrecht, von dem die ersten Siedler auch wussten. Warum sonst hätten sie sich so abgemüht, immer wieder neue Rechtfertigungen für ihre Vertreibung der Indianer zu finden? Da wäre die Lektüre von The Earth shall weep von James Wilson vielleicht aufschlussreich.

Doch davon abgesehen lesen sich Büschers Geschichten über seine Begegnungen und Impressionen am Wegesrand interessant, und sollte es mich unwahrscheinlicherweise je dorthin verschlagen, würde ich unbedingt dem Heimatmuseum in Beatrice, Nebraska, einen Besuch abstatten. In Beatrice nämlich landete einer der zwei Araberhengste, die der osmanische Sultan dem Bürgerkriegsgeneral und späteren Präsidenten Ulysses Grant im März 1878 geschenkt hatte. Das Pferd trug den hübschen Namen Zeizefoun oder Linden Tree. Nett auch der Hinweis, dass Karl May ganz fürchterlich über die Wildwestshows schimpfte, bei denen echte Indianer und Cowboys durch Europa und auch durch Deutschland tourten.

Die LeserInnen begleiten den Erzähler durch Sandböen, Stürme, nicht enden wollende Regentage, geschichtliche Exkurse, scheußliche Motels und eher befremdliche Situationen. Er trifft auf Indianer, Cowboys und Angehörige verschiedener Sekten. Als Fußgänger ist er für manche von vornherein krank oder kriminell, und so erregt er sofort den Argwohn zweier Sheriffs, die ihre Arbeit sehr ernst nehmen und ihn auf Waffen abtasten wie in einem schlechten Film. Auch auf der drittgrößten Ranch der Welt, der King Ranch in Texas, ist er zu Gast und unterhält sich mit dem alten mexikanischen Cowboy Beto, der seit 70 Jahren auf der Gehaltsliste der Ranch steht.

Büscher bewahrt sich einen unvoreingenommenen Blick, das spüren wohl auch viele seiner Gesprächspartner, die er in den Saloons oder beim Trampen kennenlernt und die ihm einen unverstellten Blick in ihre Denkweise erlauben.

Nils Minkmar konstatiert:

Es ist eine verkehrte Art des Reiseberichts, die dem Leser das Land fremd und rätselhaft macht, statt ihn etwa mit Tipps und Touren zu behelligen. (Frankfurter Allgemeine Zeitung, 29. Mai 2011)

Was mich an diesem Buch besonders beeindruckt, ist die Gelassenheit des Reisenden. Und sein unerschütterliches Vertrauen, dass ihm wohl nichts wirklich Arges zustoßen wird. Er beobachtet, nimmt wahr und verspürt nicht den Drang, alles gleich zu bewerten, zu interpretieren und einzuordnen. Kein Buch für hektische Schnellleser.

Da fallen ein paar kleine Metaphern-Unfälle gar nicht weiter ins Gewicht:

Am Mittag war Sommer, heiß, herrisch, mitleidlos. Nicht der höfliche Dr. Sommer von Wien oder Paris oder meinetwegen Boston machte hier seine Aufwartung, der Plains-Sommer preschte heran, ein Kerl mit sonnenverbranntem Nacken und rauhen Manieren. Die angestammte Folge der Jahreszeiten scherte ihn nicht, dem altersschwachen Winter gab er den Gnadenschuß, den zarten Frühling stieß er grob zur Seite, ein nutzloser Geck in seinen Augen, sollte er in den Avenuen der großen Städte flanieren, hier draußen hatte er nichts verloren – hier sprang jetzt der Sommer vom dampfenden Pferd und riß die Herrschaft an sich mit seinem wüsten Gefolge, einer Bande von Tornados. (S. 188)

Der einzige „Nachteil“ des Buches: Ich überlege ernsthaft, ob ich mir nun auch noch Büschers Berlin – Moskau. Eine Reise zu Fuß, die Reise in das Innere Nord-Americas von Maximilian zu Wied-Neuwied und den Bericht von Raymond J. Demallie über Black Elk zulegen muss.

Eine feine Besprechung des Romans von Klaus Birnstiel findet sich in der FAZ vom 7. Mai 2007.

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Susie Kelly: Best Foot Forward – A 500-mile walk through hidden France (2003)

January – Message posted to Internet: ‚Free use of French farm house in Poitou-Charentes in return for caring for animal (horses, dogs, cat, parrots, geese, fish) for six weeks while owner walks across France.‘

Mit dieser Anzeige beginnt der vergnügliche Reisebericht der Engländerin Susie Kelly. Sie lebt in Frankreich und ist 52, als sie beschließt, ihren Vorsatz, einmal quer durch Frankreich – von La Rochelle bis zum Genfer See – zu wandern, in die Tat umzusetzen.

It was not a project to undertake rashly, so I thought about it very carefully for twenty minutes before going to visit my friend and neighbour Gloria, to announce my intentions. (S. 1)

Mit Hilfe der Internetanzeige findet sie eine mutige Dame names Jennifer aus Texas, des Französischen nicht mächtig, die bereit ist, so lange Haus und Hof und ständig ausbüchsende Tiere zu hüten.

Susie ist trotz angeblicher monatelanger Übungsmärsche nicht sonderlich durchtrainiert und erschreckend schlecht ausgerüstet, als sie sich auf den Weg macht. Ihr Rucksack ist viel zu schwer, ihr Schlafsack zwar leicht, aber nicht warm genug und das Zelt hält weder Feuchtigkeit noch Kälte ab, dafür hat sie dann auch kein Handy und die Füße sind nach wenigen Tagen völlig kaputt und von Blasen übersät. Bereits nach sechs Tagen und knapp über 84 Meilen muss sie sich reumütig von ihren Freunden abholen lassen. Sie ist völlig erschöpft.

It had been a half-witted idea anyway. (S. 37)

Doch zurück zu Hause meldet sich eine trotzige Stimme in ihr, sie will nicht einfach aufgeben. Also überprüft sie, welche Gegenstände sie nicht wirklich braucht, packt ihren Rucksack neu, der dann immer noch 13 Kilo (ohne Wasservorräte und Nahrung) wiegt und packt ihre Füße in mehrere Lagen Watte und Pflaster ein. Und sie marschiert wieder los, diesmal wird sie nicht mittendrin aufgeben.

Wir begleiten sie dabei, wie sie gemächlich von Campingplatz zu Campinglatz wandert, oft bis zur totalen Erschöpfung, wie sie sich immer wieder verläuft, Hunde, die sich ihr anschließen wollen, zu ihren Herrchen zurückbringt und wie sie die Natur genießt – sie ist ausgesprochen tierlieb und muss jeden Käfer und jede Raupe von der Straße tragen.

Doch wir erfahren auch einiges über die Sehenswürdigkeiten am Wegesrand, die manchmal auch geöffnet haben (die Touristensaison hat noch nicht begonnen und eine Reihe von Campingplätzen und Museen sind noch geschlossen), und die allgegenwärtige Geschichte, wie sie z. B. in jedem Dorf, jeder Stadt Denkmale sieht, die an die Opfer der Nazis erinnern. Ab und an stilisiert sie sich vielleicht ein wenig als „eccentric foreigner“, aber das stört nicht wirklich. Aber so ganz kann sie ihre Nationalität auch nicht verleugnen:

Every day when I set out for a new destination, I had no idea where, what or when my next meal would be, which was rather disconcerting. The remedy was to carry plenty of provisions, despite the unwelcome extra weight. […] I frequently craved something piquant, and would have sold my soul for a jar of Marmite, that quintessentially English delicacy that only the English palate seems able to appreciate. When I had given Jennifer a taste she had pulled a face and asked incredulously: ‚Do you mean you eat this for PLEASURE?‘ (S. 113)

Der eigentliche Charme des Buches liegt darin, dass sie sich Zeit für die Menschen nimmt und sie mit offenen Augen betrachtet. Mit viel menschenfreundlichem Humor schildert sie die Gespräche und Begegnungen, die sich während ihrer Wanderungen, in den Cafes und Restaurants und auf den Campinglätzen ergeben. So werden manchmal auf einer halben Seite ganze Lebensgeschichten wie unter einem Scheinwerfer beleuchtet, ohne dass sie sich zum Richter aufschwingt.

Walking back to the campsite I passed an English couple unloading their car outside a small hotel and enjoying a bitter row. The female of the pair unloaded the luggage, her face pale and tight with anger, while her short, fat spouse stood stamping his little foot and spluttering, his face red with rage. As I passed I said: ‚I do hope you’ll enjoy your stay here.‘ They both stared open-mouthed. (S. 155)

Man kann die Menschen manchmal geradezu hören und sie wiedererkennen. Besonders die Holländer haben es ihr angetan: Immer wieder trifft sie liebenswürdige und hilfsbereite Menschen, die sie auf einen Tee oder ein Essen einladen, sich ihrer geschundenen Füße annehmen oder einfach einen netten Abend mit ihr verplaudern.

Ich konnte bei diesem Buch „mitwandern“ und bekam Lust, das mir unbekannte Frankreich zu bereisen, auch wenn es anscheinend immer noch einzelne Cafes oder Orte gibt, wo man als Deutscher offensichtlich nicht willkommen ist und nicht oder nur sehr widerwillig bedient wird.

Die einzigen Wermutstropfen: Obwohl sie einen Fotoapparat dabei hatte, enthält das Buch exakt null Fotos. Das ist doch mehr als ärgerlich. Und ich vermisste den Zusammenhang zu ihrem übrigen Leben. Man erfährt, abgesehen von dieser Wanderung, sehr wenig von ihr und dadurch hängt diese Reise ein bisschen „in der Luft.“

Wer bei diesem Buch ernsthafte und existenielle Reiseliteratur erwartet hat, wird allerdings dem namenlosen Reiselliteratur-Blogger zustimmen:

I found her lack of fitness, preparation, suitable equipment, or abilities to read a map or use a compass only partially endearing. It’s true that she has some funny encounters, and her self-deprecating style makes for an easy read. But that’s almost the problem: it’s too easy. There’s information and background on the places she visits, again told wittily; but the book lacks the depth of Bryson’s comedy travels or the insights of Nick Crane’s eccentric hikes.

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Heinrich Böll: Irisches Tagebuch (1957)

Als ich an Bord des Dampfers ging, sah ich, hörte und roch ich, daß ich eine Grenze überschritten hatte […] hier auf dem Dampfer war England zu Ende: hier roch es schon nach Torf, klang kehliges Keltisch aus Zwischendeck und Bar, hier schon nahm Europas soziale Ordnung andere Formen an: Armut war nicht nur „keine Schande“ mehr, sondern weder Ehre noch Schande: sie war – als Moment gesellschaftlichen Selbstbewußtseins – so belanglos wie Reichtum…

Mit diesem Absatz beginnt das nach wie vor lesenswerte Buch Irisches Tagebuch (1957) von Heinrich Böll.

Zur Entstehung

Böll, der eine besondere Beziehung zu Irland hatte und gemeinsam mit seiner Frau mehrere irische Autoren ins Deutsche übersetzte, hielt sich 1954 mehrere Monate in Irland auf und die daraus resultierenden „Irland-Impressionen“ wurden zunächst in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung veröffentlicht. Daraus entstand 1957 das literarisch durchgestaltete „Tagebuch“.

Zum Buch

In 18 Kapiteln umkreist Böll verschiedene Themen und Wahrnehmungen, die ihn auf seiner Reise beschäftigen: die Trinkfreudigkeit der Iren, die Armut (viele Kinder laufen auch im Herbst barfuß zur Schule) sowie die damit eng verknüpfte seit jeher enorm hohe Auswanderungszahl. Aber auch die Frömmigkeit (sichtbar z. B. an den Neon-Heiligenscheinen in den vielen Kirchen), den Regen, ein verlassenes Dorf, den Smalltalk und die Begegnungen mit den unterschiedlichsten Menschen.

Dann wieder geht es um die herbschöne Landschaft, das Prasseln der Torffeuer oder das Warten einer jungen Arztgattin, deren Mann auf halsbrecherischen Küstenstraßen zu einer Hochschwangereren fährt, um ihr bei der Geburt beizustehen. Der werdende Vater wird auch diese Geburt nicht miterleben, da er nur in England genügend Geld für seine Familie verdienen kann. Als Dankeschön wird der Arzt entlohnt wie ein König, und zwar mit dem uralten Kupferkessel der Familie, der angeblich noch von einem Schiff der Armada stammen soll.

Die Grenze zwischen Reisebericht und Fiktion ist also nicht streng gezogen; aber gerade in der fiktiven, bisweilen phantastischen Verlängerung des Tatsächlichen […] erweist sich der Blick des Dichters für die Eigenart des Landes. (Jochen Vogt: Heinrich Böll, Beck, München 1987, S. 59)

Das Motto, das Böll dem Buch vorangestellt hat, gilt über 50 Jahre später natürlich erst recht, wenn auch anders als damals:

Es gibt dieses Irland; wer aber hinfährt und es nicht findet, hat keine Ersatzansprüche an den Autor.

Irland hat in den letzten Jahrzehnten rasante und tiefgreifende Veränderungen erlebt, so dass das Buch schon fast dokumentarischen Charakter hat. Aber darüber hinaus ist es wunderschön zu lesen, nur ganz ganz selten rutscht Böll in die sprachliche Kitschkiste, so wenn er z. B. schreibt:

Entjungfert, ihres Siegels beraubt waren die Milchflaschen; grau, leer, schmutzig standen sie vor Türen und auf Fensterbänken, warteten traurig auf den Morgen, an dem sie durch ihre frischen, strahlenden Schwestern ersetzt werden würden, und die Möwen waren nicht weiß genug, das engelhafte Strahlen der unschuldigen Milchflaschen zu ersetzen… (S. 62)

Was so schön ist, das Buch strahlt eine Ruhe, eine Beruhigung aus, die vielleicht daher kommt, dass Böll so genau hingesehen und sich den Menschen und Eindrücken geöffnet hat, die ihm unterwegs begegnet sind. Diese Augen und Ohren und diese Nachdenklichkeit wünscht man sich als Reisender. Und natürlich liest man es unterschwellig als Vergleich und Kommentar zum Nachkriegsdeutschland.

Nach wie vor gilt:

‚Als Gott die Zeit machte‘, sagen die Iren, ‚hat er genug davon gemacht.‘ Zweifellos ist dieses Wort so zutreffend wie des Nachdenkens wert: stellt man sich die Zeit als einen Stoff vor, der uns zur Verfügung steht, um unsere Angelegenheiten dieser Erde zu erledigen, so steht uns zweifellos genug davon zur Verfügung, denn immer ist ‚Zeit gelassen‘. Wer keine Zeit hat, ist ein Ungeheuer, eine Mißgeburt… (S. 70/71)

Schade nur, dass über die konkreten Hintergründe und Gastgeber der Reise so wenig gesagt wird.

Abschließend sei Zuckmayer zitiert, der ebenfalls dem Charme dieses Buches erlag:

Das Irische Tagebuch – da ist alles locker und frei, auch das Beiläufige und nebenher Erzählte groß angelegt und wunderbar gesagt, Landschaft, Verhältnisse, Menschen, wenn auch nur wie mit einer Fahrradlampe kurz angeschnitten, gewinnen Kontur, prägen sich ein, nie wird eine verstimmende Absicht fühlbar, so stark und eindringlich auch das Denken und Empfinden des Mannes hervortritt, der hier seine Notizen poetisch zusammenfaßt und damit eine Welt und seine Persönlichkeit projiziert, man wird in diese Welt mitgenommen, man war weit weg, von Deutschland, von Europa, von der Aufdringlichkeit unserer Gegenwart, man hat eine lange, wunderliche Reise getan und merkt am Ende, daß man – heimlich geleitet – genau bei sich selbst angekommen ist, bei dem, was man ist oder sein sollte, was man am Leben liebt, worum man bangt und fürchtet, worauf man hofft, woran man glauben darf. Ich halte dieses Buch für eines der schönsten und wertvollsten, die in den letzten fünfzig Jahren geschrieben worden sind. (Carl Zuckmayer: Gerechtigkeit durch Liebe, in: Marcel Reich-Ranicki (Hrsg.): In Sachen Böll: Ansichten und Einsichten, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1968, S. 52)

Allen Foster: Around the world with Citizen Train: The sensational adventures of the real Phileas Fogg (2002)

George Francis Train’s birth was every bit as dramatic as his life. He came into the world during a snowstorm on March 24, 1829, at No. 21 High Street, Boston.

So beginnt die Biografie Around the world with Citizen Train: The sensational adventures of real Phileas Fogg (2002) von Allen Foster über eine besonders schillernde Gestalt im Amerika des 19. Jahrhunderts.

George Francis Train (1829 – 1904) arbeitete sich als Waisenjunge aus armen Verhältnissen zu einem reichen Geschäftsmann mit Verbindungen in die besten gesellschaftlichen Kreise auf mehreren Kontinenten empor.

Er war exzentrisch, landete in mehreren Gefängnissen, war ein begnadeter Redner und Alleinunterhalter, der auf einer Rednertribüne Hunderte in seinen Bann ziehen konnte, ein glückloser Präsidentschaftskandidat, ein Unterstützter der Frauenbewegung und ein unverbesserlicher Anhänger der Rassentrennung.

1870 unternahm er seine erste Reise rund um die Welt, die drei Jahre später Jules Verne zu In achtzig Tagen um die Welt inspirieren sollte.

Später weigerte er sich, anderen die Hand zu geben, am Ende umgab er sich am liebsten mit Kindern, Gerichtsverfahren erklärten ihn für verrückt. Er starb verarmt und sein Abgang sorgte noch einmal für ein riesiges Medienecho in den Zeitungen.

Er wiederholte noch zweimal seine Weltreise, immer mit dem Ziel, diese noch schneller mit den sich ständig verbessernden Transportmöglichkeiten und Verbindungen zu absolvieren.

In 1890, Train completed his third circumnavigation of the earth in 67 days, a world record at the time. (Wikipedia)

Er sah voraus, dass unser Wirtschaftssystem genau diese Schnelligkeit brauchen würde. Und er war es, der 1850 in Liverpool darauf bestand, dass im Hafen nicht nur tagsüber, sondern auch nachts gearbeitet werden müsse, um unproduktive Wartezeiten für die Schiffe und die Ladung zu verkürzen.

Heutzutage scheint mir das Umgekehrte das viel Wertvollere zu sein: Schön ist es, die Welt eben NICHT in wenigen Wochen „erobern“ zu müssen, sondern die Muße zu haben, aufmerksam dort zu verweilen, wo man bleiben möchte. Und heute haben wir Schichtarbeit und menschliche Hamster, die aus ihrem Hamsterrad nicht mehr herauskönnen, und wenn sie doch mal rauskommen, wissen sie nicht, was sie mit sich anfangen sollen.

Bei aller Anerkennung für die Recherchearbeit des Autors, die an vielen Informationen und all den Zitaten aus Zeitungen und Briefen spürbar wird, es ist eine Biografie wie durch ein umgedrehtes Fernrohr, die Hauptperson bleibt weit weg. Ein bisschen ermüdend.

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Clärenore Stinnes: Im Auto durch zwei Welten: Die erste Autofahrt einer Frau um die Welt 1927 bis 1929 (2007)

Soweit ich in meine Kindheitstage zurückblicken kann, war ich nie frei von dem Wunsch nach Abenteuern. In mir lag das Drängen nach dem großen Unbekannten, dem man in den unendlichen Steppen, in den schneeverwehten Urwäldern und in der hehren Einsamkeit der Berge näher zu sein glaubt. Trotz aller Mühe, die meine Mutter anwandte, um in mir die Liebe zu fraulichen Arbeiten zu wecken, überwog doch immer der Wunsch nach anderen Dingen. Sollte ich ihr bei der Näharbeit oder beim Strümpfestopfen helfen, so suchte ich nach allen möglichen Ausflüchten, um dem zu entgehen. Mich lockte es viel mehr, im Pferdestall die Geschichten unseres Kutschers Friedrich aus seiner Militärzeit zu hören, wobei er mir erlaubte, mich auf eines der Pferde zu setzen; oder ich saß vertieft in die Bücher germanischer Heldensagen, Indianer- und Abenteuergeschichten.

So beginnt Im Auto durch zwei Welten: Die erste Autofahrt einer Frau um die Welt 1927 bis 1929 (2007) von Clärenore Stinnes, erschienen 2007.

Schon spannend und irrwitzig, was die Industriellentochter und Rennfahrerin Clärenore Stinnes (1901-1990) sich da in den Kopf gesetzt und mit ihren Gefährten durchgezogen hat. Ursprünglich wurde sie bei ihrem Unterfangen, der erste Mensch zu sein, der mit einem Auto die Erde umrundet, von zwei Mechanikern und dem schwedischen Fotografen Söderström und wechselnden Botschaftsangehörigen und Übersetzern begleitet. Doch bis auf Söderström springen nach und nach alle von dem wahnwitzigen Unternehmen ab.

Mehr als einmal kam es zu lebensgefährlichen Manövern in straßenlosen Gegenden, wo nur enorm hilfsbereite Einheimische und Ochsenkraft die zwei Wagen noch vom Fleck bekamen. Einmal sind sie nur knapp dem Verdursten entkommen.

Fazit

Ein bisschen koloniale Selbstherrlichkeit kann man schon heraushören, was manchmal die Lesefreude etwas trübt: Irgendwo in Südamerika schreibt Söderström in seinem Tagebuch:

Dort hatten wir das große Glück, einen Amerikaner zu treffen, der schon acht Jahre im Land lebte. Er wusste genau, wie man die lokale Bevölkerung behandeln muss, um etwas bei ihr zu erreichen. Zwei Priester waren auf der Durchreise in der kleinen Niederlassung  und veranstalteten an diesem Tag ein Kirchenfest. An sie wandte sich mit Erfolg unser neuer Freund. Nach der Prozession hielten sie eine Rede an die Bauern und ermahnten sie, dass es Christenpflicht sei, uns den halben Weg bis Caraveli zu helfen. 22 Mann wurden ausgewählt und unter das Kommando von Don Calixto Velarde gestellt. Dazu kamen sieben Esel für unser Gepäck, für Wasser und Proviant, da wir jede unnötige Belastung des Autos vermeiden wollten. (S. 188)

Ich war dann allerdings ganz angetan von der Reaktion der Einheimischen, ihre „Arbeitsmoral“ sank innerhalb eines Tages um 90 Prozent und dann haben sie sich einfach aus dem Staub gemacht. Richtig so.

Stinnes ist sicherlich keine herausragende Reiseschriftstellerin, aber flott und interessant las sich das durchaus.

Wenig überraschend, dass sich Söderström nach den zwei gemeinsamen Reisejahren von seiner Frau hat scheiden lassen und dann mit Clärenore in Schweden glücklich geworden ist.

Anmerkung

Hier geht’s lang zu einem Bericht auf SPIEGEL ONLINE. Dort gibt es auch einige Fotos.

Jon Krakauer: Into the Wild (1996)

Hier erzählt der erfahrene Bergsteiger Jon Krakauer die Lebensgeschichte von Christopher McCandless nach, eines amerikanischen Jungen, der rebelliert, durchs Land zieht und schließlich beim Trampen in der Wildnis von Alaska zuerst die Freiheit findet und dann dort verhungert. McCandless lebte von 1968 bis 1992.

Das Buch ist an einigen Stellen fürchterlich in die Länge gezogen, da Krakauer der Versuchung nicht widerstehen kann, sich auch immer wieder selbst zum Thema des Buches zu machen, es ist sprunghaft erzählt und doch unglaublich faszinierend und entsetzlich. Es ließ mich kaum los, McCandless war jemand, der so klar wusste, was er wollte, diesen Traum kompromisslos, man kann auch sagen entsetzlich naiv gelebt hat. Ob er wirklich bereit war, diesen Traum mit seinem Leben zu bezahlen, ich glaube es nicht.

Wenn man etwas recherchiert, merkt man, dass Krakauer den Jungen wohl ein bisschen zum Thoreauschen Helden gemacht hat. Doch diejenigen, die mit der harschen Gegend und den Witterungsbedingungen dort vertraut sind, sind eher entsetzt gewesen, dass jemand, der ohne ausreichend Proviant, ohne Kompass, vernünftige Klamotten und ohne jemandem Bescheid zu sagen, einfach in die Wildnis Alaskas zieht, dann auch noch zum Helden stilisiert wird.

Trotzdem: ein verstörendes Buch, das einem die letztendliche Deutung schwer macht. Wirft es die Frage auf, wofür es sich zu leben lohnt, oder schildert es den Lebensweg eines verwirrten Menschen?

Das Foto, das Christopher, schon vom Verhungern gezeichnet, noch von sich aufgenommen hat und natürlich in der Grube des Internets zu finden ist, verfolgte mich noch Tage später.

Anmerkung

Auch Jahrzehnte später lässt die Frage, woran genau denn Christopher gestorben sei, die Menschen nicht los. Diverse Theorien wurden entwickelt und wieder verworfen.