Die Marke Heinz vermarktet etwa fünfzehn verschiedene Saucen. Der Supermarkt von Irkutsk führt sie alle, und ich kann mich nicht entscheiden. Ich habe schon sechs Einkaufswagen mit Nudeln und Tabasco beladen. Der blaue Lastwagen wartet auf mich. Mischa, der Fahrer, hat den Motor nicht abgestellt, draußen herrschen minus 32 Grad. Morgen verlassen wir Irkutsk. In drei Tagen werden wir die Blockhütte am Ostufer des Sees erreichen. […] Fünfzehn Sorten Ketchup. Wegen solcher Dinge wollte ich dieser Welt den Rücken kehren.
Mit diesen Sätzen beginnt der großartig coole Reisebereicht In den Wäldern Sibiriens: Tagebuch aus der Einsamkeit (2014) von Sylvain Tesson. Das französische Original, ins Deutsche von Claudia Kalscheuer übersetzt, erschien 2011.
Ausnahmsweise fange ich mal mit einem Zitat aus einer Rezension an, das bringt es nämlich schon gut auf den Punkt: Blake Morrison schreibt im Guardian: „… he [Tesson] comes across as the brainiest, daftest, sternest, funniest, most companionable hermit you’ll ever meet.“
Der Schriftsteller, Journalist und Reisende Tesson (*1972) fasst auf der ersten Seite des Buches unter dem Titel Randnotiz zusammen, um was es eigentlich gehen soll:
Ich hatte mir vorgenommen, vor meinem 40. Lebensjahr als Eremit in den Wäldern zu leben.
Ich zog für sechs Monate in eine sibirische Hütte am Ufer des Baikalsees, an der Spitze des Nördlichen Zedernkaps. Das nächste Dorf, 120 Kilometer entfernt, keine Nachbarn, keine Zugangsstraßen, gelegentlich ein Besuch. Im Winter Temperaturen um die minus 30 Grad, im Sommer Bären an den Ufern. Kurz, das Paradies.
Ich nahm Bücher mit, Zigarren und Wodka. Alles Übrige – die Weite, die Stille und die Einsamkeit – war schon da.
In dieser Wildnis schuf ich mir ein schlichtes und schönes Leben, ich machte die Erfahrung eines aus einfachen Handlungen bestehenden Daseins. Im Angesicht von See und Wald betrachtete ich das Vorüberziehen der Tage. Ich hackte Holz, angelte mein Abendessen, las viel, wanderte durch die Berge und trank am Fenster Wodka. Die Blockhütte war ein idealer Beobachtungsposten, um noch die kleinste Bewegung der Natur zu erfassen.
Ich erlebte den Winter und den Frühling, das Glück, die Verzweiflung und am Ende den Frieden. In der tiefsten Taiga verwandelte ich mich. Die Bewegungslosigkeit gab mir, was das Reisen mir nicht mehr verschaffen konnte. Der Geist des Ortes half mir, die Zeit zu zähmen. Meine Einsiedelei wurde zum Laboratorium dieser Wandlungen.
Jeden Tag verzeichnete ich meine Gedanken in einem Heft. Dieses Tagebuch eines Einsiedlerlebens halten Sie in Händen.
2003 wanderte Tesson das erste Mal am Baikalsee. Das hinterließ einen so tiefen Eindruck, dass er beschloss, irgendwann wiederzukommen. Sieben Jahre später erfüllt er sich nun diesen Traum und bezieht seine Blockhütte am Ufer des ältesten und tiefsten Sees der Welt. Neben den streng überlebenswichtigen Vorräten hat er auch ein paar Luxusgüter im Gepäck: Beträchtliche Mengen an Wodka, Paracetamol (gegen die Wirkungen des Wodka), Zigarren und eine große Bücherkiste. Solarzellen liefern den Strom für seinen kleinen Computer. Das Satellitentelefon für Notfälle funktioniert nur ab und zu.
Als erstes räumt er den Müll des Vorgängers hinter die Hütte. Zunächst ist er allein, später kommen zwei Hunde dazu. Ab und an bekommt er Besuch von trinkfesten Fischern und Angestellten des Baikal-Lena-Naturreservats.
Im Abstand von 30 Kilometern beherbergen Stationen des Naturschutzgebiets Inspektoren […] Später werde ich in melancholischen Momenten, wenn ich das Bedürfnis verspüre, mit jemandem anzustoßen, nur einen Tag nach Süden oder fünf Stunden nach Norden wandern müssen. (S. 22)
Und so beginnt sein großes Abenteuer:
Ich bin an der Landungsbrücke meines Lebens angelangt. Ich werde endlich erfahren, ob ich ein Innenleben habe. (S. 33)
Über weite Strecken spürt man sein geradezu physisches Wohlbehagen, das er empfindet, ja manchmal macht ihn die Einsamkeit fast ein bisschen größenwahnsinnig: Sie
wirkt als Resonanzkörper: Alle Eindrücke sind wesentlich stärker, wenn man allein ist. Sie erlegt einem Verantwortung auf: Im menschenleeren Wald bin ich Botschafter der menschlichen Gattung. Ich muss dieses Schauspiel für alle genießen, denen es versagt ist. Sie […] wäscht alles Geschwätz von mir ab, erlaubt es, mein Inneres zu sondieren. Sie lässt Erinnerungen an geliebte Menschen aufsteigen… (S. 114)
Er wandert und klettert, angelt, beobachtet stundenlang den gefrorenen See, erlebt Stürme, geht später im Frühling den Bären aus dem Weg und protokolliert die feinsten Nuancen am Himmel und in der Eisdecke. Er füttert Meisen, wärmt sich an seinem Ofen und philosophiert dabei buchstäblich über Gott und die Welt. Er angelt und fährt stundenlang Schlittschuh, vermisst seine Liebste und genießt seinen nachhaltigen und konzentrierten Lebensstil, den er durchaus als Revolte gegen die Gesellschaft deutet.
Die Blockhütte, das Reich der Vereinfachung. Unter dem Schutz der Kiefern beschränkt sich das Dasein auf lebenswichtige Handlungen. Die den täglichen Aufgaben abgerungene Zeit füllt sich mit Ausruhen, Kontemplation und kleinen Freuden. Die Palette der zu erledigenden Dinge ist begrenzt. Lesen, Wasser holen, Holz hacken, schreiben und Tee eingießen werden zu einer Liturgie. In der Stadt geht jede Handlung auf Kosten von tausend anderen. Der Wald verdichtet, was die Stadt zerstreut. (S. 40)
In eine Hütte zu ziehen bedeutet, von den Kontrollschirmen zu verschwinden. Der Einsiedler löscht sich. Er sendet keine digitalen Spuren mehr, keine Telefonsignale, keine Bankkartenimpulse. […] er tritt aus dem großen Spiel aus. (S. 120)
Aber auch die dunklen Momente des Zweifels, des nicht enden wollenden Regens und der Verzweiflung verschweigt er nicht.
Gleichzeitig spürt Tesson die Notwendigkeit, sich und seinen Tag zu strukturieren, denn er weiß um die Gefahr, ohne die soziale Kontrolle der Mitmenschen den ganzen Tag nur verdreckt und betrunken in der Ecke zu liegen.
Robinson kennt diese Gefahr und beschließt, um nicht auf den Hund zu kommen, jeden Abend am Tisch und im Anzug zu dinieren, als empfange er einen Gast. […] Die Einsamkeit ist eine Bewährungsprobe […] Der Einsame muss sich der Pflicht der Tugend unterwerfen, sagt er, und darf sich keine Grausamkeit erlauben. Wenn er schlecht handelt, wird sein Einsiedlertum ihm eine doppelte Strafe auferlegen: Nicht nur wird er das durch seine eigene Bosheit verdorbene Klima zu ertragen haben, sondern er wird auch die Niederlage einstecken müssen, der menschlichen Gattung nicht würdig gewesen zu sein. (S. 99/100)
Er liest und wird immer mal wieder durch Besuche aufgestört, was dann regelmäßig in Besäufnissen endet. Wir wandern mit ihm durch die Jahreszeiten, erleben seine Entschleunigung, sehen, wie seine Konzentration sich verschiebt. Brauchte er in Paris den Trubel, Besuche und Betriebsamkeit, um die Tage zu bewältigen, reicht ihm hier schon der Besuch einer Meise am Fenster, um ihn einen ganzen Nachmittag zu entzücken.
Dabei sorgt aber die harsche Natur dafür, dass er nicht völlig abhebt. Auf einem Aussichtspunkt oberhalb des Sees sinniert er:
Im Leben braucht es drei Zutaten: Sonne, einen Ausblick und in den Beinen die milchsaure Erinnerung an die Anstrengung. Und kleine Montechristos. Das Glück ist flüchtig wie ein Wölkchen Zigarrenrauch. Es herrschen minus 30 Grad. Zu kalt für längere Kontemplationen.
Fazit
Keine Frage, unbedingt lesenswert! Selbst wenn mir Tessons Hang zu apodiktischen Aussagen manchmal auf die Nerven fiel.
Siebzig Jahre historischer Materialismus haben bei den Russen jedes ästhetische Empfinden zunichtegemacht. Woher kommt der schlechte Geschmack? Warum gibt es Linoleum und nicht nichts? Wie hat der Kitsch die Welt erobert? Der Run der Völker auf das Hässliche ist das Hauptphänomen der Globalisierung. […] Der schlechte Geschmack ist der gemeinsame Nenner der Menschheit. (S. 26)
Tesson ist ein belesener Reisender. Seine Bücherkiste enthält ca. 60 Titel, von den Stoikern, den Eremiten des 4. Jahrhunderts bis hin zu Shakespeare, Robinson Crusoe und einigen Krimis, aus denen er immer wieder zitiert, die er gedanklich verknüpft, denen er widerspricht, aus denen er entnimmt, was ihm nützlich erscheint. Schön auch die Lektüre der chinesischen Dichter, die sich schon vor Jahrhunderten so ihre Gedanken über den Rausch, die Schönheit und die Zurückgezogenheit gemacht haben.
Es macht Spaß, Tesson dabei zu folgen. Beim nächtlichen Besuch seiner Latrine, 120 Schritte von der Hütte entfernt, fällt ihm beispielsweise die Geschichte von Daphne du Maurier ein, in der ein Mann in einer kalten Winternacht über die Wurzeln eines Baumes stolpert, den seine Frau einst gepflanzt hat.
Manchmal ist es auch einfach nur komisch. Da verkriecht sich einer im Winter am Ufer des Baikalsees und selbst dort ist er nicht vor Leuten sicher, die weder Sinn für die Schönheit des Ortes oder die Einsamkeit haben. Eines Nachts kommen Mitglieder aus Putins Partei in acht Geländewagen und kampieren am Strand. Er ist niedergeschmettert, nicht zuletzt, weil sie die schöne Schneefläche komplett zertrampelt haben.
… der Lärm, die Hässlichkeit, das testosterongesteuerte Herdenverhalten. Und ich armer Tropf mit meinen Reden über Rückzug und meinem Exemplar von Jean-Jacques‘ Träumereien auf dem Tisch! Ich denke an die Benediktinerbrüder, die heute gezwungen sind, Touristen durch ihre Klöster zu führen … (S. 42)
Einmal besucht ihn der Meteorologe von einer der Inseln, in Begleitung einer australischen Touristin.
Die Australierin versteht einiges nicht ganz:
„Do you have a car?“ – „No“, sage ich.
„A TV?“ – „No.“
„If you ever have a problem?“ – „I walk.“
„Do you go to the village for food?“ – „There is no village.“
„Do you wait for a car on the road?“ – „There is no road.“
„Are those your books?“ – „Yes.“
„Did you write all of them?“
Selbst zwei Shivaisten, die vor ihm einen schwer verdaulichen „spirituellen Brei“ auswalzen und dabei aussehen wie „Killer einer Spezialeinheit“ verirren sich an sein einsames Ufer.
Tesson ist kein romantischer Spinner. Angesichts der begrenzten Ressourcen unserer Erde hält er zwar ein ökonomisches Nullwachstum für das Gebot der Stunde, doch glaubt er nicht, dass irgendeine Regierung den Mut hätte, ihrer Bevölkerung abzuverlangen, eher „Seneca zu lesen, als Cheeseburger zu verschlingen“. (S. 45)
Dabei ist er sich völlig im Klaren darüber, dass er sich mit diesen sechs Monaten einen Luxus leistet, der immer elitär bleiben wird. Würden das viele oder gar alle nachahmen, gäbe es diese fast unberührten Orte der Schönheit nicht mehr.
Wenn die Massen in die Wälder zögen, würden sie die Übel mitbringen, die sie fliehen wollten, indem sie die Stadt verließen. Es gibt keinen Ausweg. (S. 46)
Am Rande werden auch die Umweltzerstörung und der gedankenlose Raubbau an den Wäldern der Taiga erwähnt. So zerlegen chinesische Holzfäller russische Zedern, um daraus beispielsweise Essstäbchen herzustellen.
Zum Abschluss noch einmal seine Beweggründe, sich in eine Blockhütte zurückzuziehen:
Ich war zu geschwätzig
Ich wollte Stille
Zu viel unbearbeitete Post
und zu viele Leute zu treffen
Ich beneidete Robinson …
Sicherlich entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, wenn er seiner Geschwätzigkeit ein Schnippchen schlagen wollte und nun unzählige Tagebuchseiten vollgeschrieben hat. Egal.
Die wenigsten von uns werden sechs Monate in irgendeine Wildnis oder ein Kloster aufbrechen, doch die Fragen, die Tesson (sich) stellt, und die Einsichten, die er gewinnt, sind natürlich nicht nur für Eremiten von Belang:
Kann man sich selbst ertragen? (S. 50)
Es tut gut, kein Gespräch in Gang halten zu müssen. (S. 68)
Schade fand ich zunächst, dass hier in keiner Zeile davon erzählt wird, wie es Tesson nach seiner Rückkehr in die Zivilisation ergangen ist.
Aber vielleicht ist gerade das das Spannende? Wir malen uns aus, was wäre, wenn, und träumen ein bisschen, schreiben in unser Tagebuch und überlegen, wie auch wir ein bisschen geerdeter, ruhiger und konzentrierter leben können …
PS: Tesson empfindet seine Versuche, die ihn schier überwältigende Landschaft zu fotografieren, mehr und mehr als Frevel am Augenblick. So enthält das Buch leider keine Bilder. Hier gibt es immerhin einen kleinen Trailer auf YouTube.
2011 erhielt er für dieses Buch den französischen Literaturpreis Prix Médicis.