Vor kurzem stellte ich hier Eveline Haslers Buch Mit dem letzten Schiff (2013) vor, in dem es auf S. 215 heißt:
Fry begann die Ereignisse der Marseiller Zeit aufzuschreiben, um auf diese Weise mit den verstummten Freunden verbunden zu bleiben, doch eine Veröffentlichung war noch zu heikel für alle Beteiligten. Als dann nach Kriegsende 1945 Varian Frys ‚Surrender on Demand‘ erschien, wurde das Buch von der Presse gelobt, verkauft wurde es schlecht.
Ja, das stimmt: Die Erinnerungen Varian Frys an die 13 Monate, in denen er in Marseille die Arbeit des Emergency Rescue Committee koordinierte, das von den Nazis verfolgten Intellektuellen und Künstlern zur Flucht verhelfen sollte, erschienen bereits 1945 unter dem Titel Surrender on Demand.
Die deutsche Erstausgabe Auslieferung auf Verlangen wurde von Jan Hans und Anja Lazarowicz übersetzt und 1986 im Hanser Verlag veröffentlicht.
Eine Neuausgabe erschien 1995 im Fischer Taschenbuch Verlag. Diese ist unbedingt lesenswert, doch was ich bei der Lektüre herausfand, geht weit über das hinaus, was ich erwartet habe. Ich stelle dabei zunächst einmal unkommentiert einige Textstellen von Fry und Hasler einander gegenüber.
Varian Fry (zitiert nach der Ausgabe des Fischer Taschenbuch Verlages, S. 13):
Vor dem Bahnhof gab es keine Taxen, aber viele Gepäckträger. Einer nahm meinen Koffer.
„Welches Hotel?“ wollte er wissen.
„Splendide“, sagte ich.
„Haben Sie ein Zimmer bestellt?“
„Nein.“
„Dann werden Sie wohl auch keines bekommen“, sagte er. „Versuchen Sie es lieber im Hotel Suisse. Das ist das einzige Hotel in der Stadt, wo es noch Zimmer gibt. In Marseille ist alles von Flüchtlingen belegt.“
Eveline Hasler (S. 11)
Im Taxi nannte Fry das Hotel Splendide.
„Haben Sie dort reserviert?“, fragte der Chauffeur.
Fry verneinte.
„Marseille quillt über von Reisenden und Emigranten, in den großen Hotels finden Sie heute garantiert keinen Platz!“
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Fry (S. 16)
Im Hotel tat man sehr geheimnisvoll, und ich mußte eine ganze Weile warten, bis man mir schließlich erlaubte, zu ihren Zimmern hinaufzugehen.
Hasler (S. 71)
Im vornehmen Hotel du Louvre et de la Paix, wo Fry an der Rezeption den Namen Werfel nannte, tat man geheimnisvoll. Erst nach längerer Diskussion bequemte man sich dazu, die Gäste in ihrer Suite zu benachrichtigen.
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Fry (S. 16)
Werfel sah genau so aus wie auf den Fotos: groß, untersetzt und bleich – wie ein zur Hälfte gefüllter Mehlsack.
Hasler (S. 73)
… doch mit dieser Statur eines halbgefüllten Mehlsacks (gemeint ist Werfel)
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Fry (S. 33)
… aber jeden Tag kamen waggonweise Soldaten, die entweder in Südfrankreich oder in Afrika demobilisiert werden sollten. Marseille war mit Soldaten ebenso überfüllt wie mit Flüchtlingen. Alle Waffengattungen der französischen Armee waren vertreten: Kolonialsoldaten mit leuchtend rotem Fes oder ‚Chechias‘ auf dem Kopf; Freiwillige der Fremdenlegion, die ihre ‚Kepis‘ in Staubschutzhüllen trugen; Zuaven in weiten türkischen Pluderhosen […]; Gebirgsjäger in olivgrünen Uniformen und mit gewaltigen Baskenmützen, die bis über das linke Ohr heruntergezogen wurden; staubige Schanzarbeiter aus den Tunneln der Maginot-Linie in grauen Pullovern; Kavallerieoffiziere in eleganten Khaki-Röcken, maronfarbenen Reithosen und, statt Kepi oder Stahlhelm, mit verwegenen, velourbraunen Mützen; schwarze Senegalesen mit Turbanen …
Hasler (S. 47)
Was für ein Ort, dachte Justus. […] Am auffälligsten die Militärs: Soldaten aus den Kolonien mit rotem Fes. Tiefschwarze Senegalesen mit Turbanen. Freiwillige der Fremdenlegion mit weißen Kepis in Staubhüllen. Zuaven mit türkischen Pluderhosen. Gebirgsjäger in olivgrünen Uniformen und mit gewaltigen Baskenmützen. Kavallerieoffiziere in eleganten Khakiröcken und mit verwegenen samtbraunen Mützen…
——
Fry (S. 36)
Noch bevor meine erste Woche in Marseille zuende ging, hatte es sich offenbar in der gesamten nicht besetzten Zone herumgesprochen, daß ein Amerikaner aus New York angekommen war, wie ein Engel vom Himmel gefallen sei, Taschen voller Geld und Pässe und einen direkten Draht zum State Department habe, so daß er jedes beliebige Visum im Handumdrehen besorgen konnte. Jemand erzählte sogar, daß es in Toulouse einen tüchtigen Geschäftsmann gab, der meinen Namen und meine Adresse für 50 Francs an Flüchtlinge verkaufte.
Hasler (S. 52)
[Hertha Pauli im Gespräch mit Walter Mehring]: „Ein Amerikaner ist vom Himmel gefallen! Mit Taschen voller Dollars und einer Namensliste, wer von den Künstler und Intellektuellen unbedingt zu retten sei. …“
[als Gedanke Miriam Davenports, S. 54]: In Toulouse, so erzählte man, verkaufe ein tüchtiger Geschäftsmann bereits Name und Adresse von Varian Fry für fünfzig Francs, der Amerikaner könne im Handumdrehen jedes beliebige Visum besorgen! Das kam ihr übertrieben vor.
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Fry (S. 56)
Jedesmal, wenn ein Zug ankam und abfuhr, hörte man unten auf dem Pflaster das tausendfüßige Getrappel von Menschen, die die große Treppe hinaufliefen oder heruntereilten.
Hasler (S. 76)
In diesem Moment fuhr oben im Bahnhof rumpelnd ein Zug ein, für Minuten war nichts anderes zu hören als Zurufe und das Getrappel der Ankommenden auf den Marmorstufen.
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Fry (S. 65)
Wir steckten Mehring im Splendide ins Bett. Der Arzt kam, sah ihn kurz an und schrieb dann ein sehr eindrucksvolles Attest. Es besagte nicht nur, daß Monsieur Mehring krank und somit unfähig war, wegen der Verlängerung seiner Aufenthaltserlaubnis auf der Präfektur vorzusprechen, es bestätigte auch noch, daß Mehring nicht vor Mitte November in der Lage sein würd, sein Zimmer zu verlassen.
Ich brachte Barellet das Attest, und er verlängerte Mehrings Aufenthaltsgenehmigung unverzüglich um zwei Monate. Für einen nicht-französischen Flüchtling war das äußerst ungewöhnlich, meistens wurde der Schein höchstens um zwei Wochen verlängert.
Hasler (S. 90)
Der Arzt kam und schrieb nach kurzer Visite ein eindrückliches Attest mit der Feststellung, Mehring sei nicht in der Lage, sein Bett vor Mitte November zu verlassen. Barallet wiederum verlängerte den Aufenthaltsschein gnädig um zwei Monate anstelle der üblichen zwei Wochen.
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Fry (S. 73)
Harry Bingham [der amerikanische Vizekonsul] wohnte in einer Villa in der Rue du Commandant Rollin, einer Straße, die hinter der Corniche ein ganzes Stück vom Stadtzentrum entfernt liegt. Ich rief ihn an, nachdem ich vom Scheitern des Schiffsplans erfahren hatte. Er lud Bohn und mich zum Essen ein.
Es begann schon zu dämmern, als wir auf der Cannebiere in die Bahn zur Rue Paradis einstiegen, und es wurde dunkel, als wir das Gartentor aufstießen und den langen Weg zum Haus hinaufgingen. Auf der Kiesterrasse saß an einem kleinen Eisentisch Feuchtwanger – Harry [Bingham] hatte gerade sein Bad in einem seichten Fischteich etwas weiter unten beendet. […] Feuchtwanger war ein kleiner, verhutzelter Mann, aber er sprühte nur so vor Energie und Ideen.
Hasler (S. 93/S. 94)
Der Vizekonsul wohnte außerhalb der Stadt, an der Rue du Commandant Rollin, hinter der Corniche. Mit der Straßenbahn, von der Canebiere aus, war das Haus bequem zu erreichen. Als die beiden Besucher die Gartentür öffneten, begann es zu dämmern, […] Aus einem dieser Gewässer stieg nun etwas an Land, das einem Neptun glich, sich jedoch am Ufer in einen kleinwüchsigen Mann verwandelte, der in einen Bademantel schlüpfte und über eine Terrasse im Haus verschwand. ‚Es ist Feuchtwanger‘, flüsterte Bohn. […] Feuchtwanger […] zeigte sich an diesem Abend voller Energie und sprühte nur so vor Ideen.
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Fry (S. 81)
[Einer der Helfer von Fry während der Rettungsaktion für Golo Mann, Heinrich und Nelly Mann und die Werfels: ‚Der Grenzbeamte meint], ihr solltet es trotzdem versuchen. Er sagt, man weiß nie, was passiert. Es könnte sein, daß morgen schon ein neuer Befehl aus Vichy kommt und er euch alle verhaften muß. Deshalb glaubt er, ihr solltet hier weg, solange ihr noch könnt. Er ging sogar mit mir nach draußen, um mir den besten Weg zu zeigen.‘
Ich sah mir den Berg an. Er war ziemlich hoch, und es war ziemlich heiß.
‚Mensch, Ball‘, sagte ich. ‚Ich glaube nicht, daß Werfel das jemals schafft. Er ist zu dick, und Heinrich Mann ist zu alt.‘
Hasler (S. 101)
‚Er hat uns aber geraten, es trotzdem zu versuchen. Es könne sein, dass morgen ein neuer Befehl aus Vichy komme und er uns alle verhaften muss. Er ging sogar mit mir vor den Bahnhof, um mir den besten Weg zu zeigen.‘
Fry schaute zum Berg hinauf. Er war ziemlich hoch, und der Tag drohte sehr heiß zu werden.
‚Mensch, Ball‘, murmelte Fry. ‚Ich glaube nicht, dass Werfel das schafft. Er ist zu dick, und Heinrich Mann ist zu alt.“
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Fry (S. 260)
Ich war genau um elf Uhr in seinem Büro [dem Büro des Marseiller Polizeichefs], und er ließ mich eine dreiviertel Stunde warten – eine feinsinnige Form der Folter. Auf einen Summton hin wurde ich schließlich in ein großes Büro geführt. Am Ende des Raumes stand vor einem großen Fenster der Schreibtisch, hinter dem de Rodellec du Porzic saß. Das durch das Fenster einfallende Licht blendete mich aber so, daß es einige Minuten dauerte, bis ich sein Gesicht deutlich erkennen konnte. […] Schließlich sah er auf.
‚Sie haben meinem lieben Freund, dem Generalkonsul der Vereinigten Staaten, viel Verdruß bereitet‘, sagte er.
‚Ich denke, der Konsul kann seine Probleme selbst lösen‘, antwortete ich.
‚Mein Freund der Generalkonsul berichtete mir, daß Sie sowohl von Ihrer Regierung als auch von dem amerikanischen Komitee, das Sie hier vertreten, aufgefordert wurden, unverzüglich in die Vereinigten Staaten zurückzukehren‘, fuhr er fort.
Hasler (S. 196/197)
Fry erschien pünktlich bei Rodellec du Porzic [dem Polizeichef von Marseille]. Der Chefbeamte, wohl um seine Macht zu demonstrieren, ließ den Amerikaner eine Dreiviertelstunde warten, dann endlich wurde Fry in du Porzics Heiligtum eingelassen. In den durch das Fenster eindringenden Sonnenstrahlen war du Porzics Kopf ganz in sanftes Licht getaucht, Fry musste warten, bis seine geblendeten Augen die Gesichtszüge seines Gegenübers erfassen konnten. […] Schließlich blickte er [du Porzic] auf und begann: ‚Mister Fry, Sie haben meinem lieben Freund, dem Generalkonsul der Vereinigten Staaten, viel Verdruss bereitet!‘
‚Ich denke, der Konsul kann seine Probleme selbst lösen‘, antwortete Fry.
‚Es wird mir berichtet‘, fuhr du Porzic fort, ‚dass Sie von Ihrer Regierung und von dem Komitee, das Sie vertreten, aufgefordert werden, unverzüglich heimzureisen.‘
Und so könnte man diesen Textvergleich noch eine ganze Weile weiterführen. Muss man aber nicht.
Fazit
I am not amused und nehme mein positives Urteil zu Eveline Haslers Buch zurück.
Natürlich kann ein Buch wie das von Hasler nicht ohne Recherche entstehen, und einige wenige Male kennzeichnet sie wörtlich von Fry übernommene Stellen mit Hinweisen wie „wie Fry später sagen würde“. Aber was ist mit all den anderen unzähligen Stellen, die sie nicht als Zitat gekennzeichnet hat, bei denen sie dreist aus den Erinnerungen Frys zitiert oder Passagen nur unwesentlich umformuliert und hin und wieder dabei sogar Details verändert hat?
Und die Stellen, die ich zunächst bei Hasler für die gelungeneren hielt, sind just die, die direkt auf Frys Bericht zurückgehen.
Also: Wer sich für die Arbeit des Emergency Rescue Teams interessiert, der lese unbedingt das Buch Auslieferung auf Verlangen von Varian Fry und vergesse das Buch von Hasler. Fry erklärt ohnehin sowohl Details als auch Zusammenhänge wesentlich besser. Hasler war ja über die ganzen bürokratischen Feinheiten bei der Visa-, Pass-, Transit- und Ausreisegenehmigungsbeschaffung, in denen ein wesentlicher Bestandteil der Flüchtlingshilfe lag, sehr luftig-locker hinweggeglitten.
Auch Frys Mitarbeiter und Unterstützer, die sich nicht scheuten, Gangster und andere dubiose Gestalten in ihr Rettungswerk miteinzubeziehen, werden im Original wesentlich klarer konturiert. Der Leser erlebt, in welchen Gefahren das Team immer wieder schwebte, erfährt von gescheiterten Rettungsversuchen, von dem Entsetzen, als man Verräter und Spitzel in den eigenen Reihen entdeckt, und wie Fry schließlich – auf Betreiben des amerikanischen Konsuls in Marseille und des französischen Polizeichefs – aus Frankreich ausgewiesen wird.
Ich stand auf und wollte gehen. Dann drehte ich mich aber doch noch einmal um, um [dem Marseiller Polizeichef] eine letzte Frage zu stellen. ‚Sagen Sie mir offen, warum Sie mich so hartnäckig bekämpfen‘
‚Parce que vous avez trop protégé des juifs et des anti-Nazis‘, antwortete er. ‚Weil Sie Juden und Nazigegner geschützt haben.‘ (S. 262)
Fry schreibt präzise, informativ und spannend. Und einige Stellen sind auf einmal auch psychologisch wesentlich stimmiger, selbst wenn die Unterstützung durch weibliche Mitarbeiter in seinem Text wohl ein wenig zu kurz kommt. Sein Bericht umfasst 280 Seiten, dazu kommt in der Ausgabe des Fischer Taschenbuch Verlages ein 60-seitiger Anhang mit hilfreichen Erläuterungen, abgedruckten Briefen und einem ausführlichen Namensregister.
Dem Fazit aus dem Nachwort von Wolfgang D. Elfe kann ich nur zustimmen:
Die Geschichte der Rettungsaktionen des ERC, die Fry in seinem Buch geschrieben hat, ist ein Dokument der Geschichte des antifaschistischen Exils wie auch der intellektuellen Emigration in die USA. Doch hat Fry mit diesem Buch nicht nur ein historisches Dokument hinterlassen, sondern zugleich ein Werk von einiger literarischer Qualität. Fry erweist sich – ohne dadurch die Realitätstreue seines Berichts in Frage zu stellen – als spannender Erzähler. Das gilt insbesondere für die Schilderung seiner konspirativen Tätigkeit. Er verlebendigt viele Situationen durch dialogische Gestaltung und zeigt sich als Meister der Charakterisierung. Es gelingt ihm auch, viel Atmosphärisches einzufangen und die Jahre 1940-41 in Vichy-Frankreich lebendig vor dem Leser erstehen zu lassen. Ungeachtet des großen Ernstes der Situation, einer deprimierenden Weltlage und des Scheiterns verschiedener Rettungsaktionen […] erzählt Fry häufig mit Witz und Komik. Im übrigen erhöht an vielen Stellen typisches angelsächsisches Understatement die Lesbarkeit seines Berichtes. (S. 300)
Hasler dagegen entpuppt sich als eine Trittbrettfahrerin, die auf 219 Seiten ohne jeglichen Anhang Frys Bericht in vereinfachter und gekürzter Form nacherzählt – ohne das je kenntlich zu machen – und dabei das Ganze noch ein bisschen aufpeppt mit Personen, die mit Frys Geschichte gar nichts zu tun haben.
Anmerkung
Hier noch eine Würdigung von Fritz J. Raddatz zum „Engel von Marseille“ aus der ZEIT.