Nellie Bly: Ten Days in a Mad-House (1887)

On the 22nd of September I was asked by the World [Zeitschrift, für die sie arbeitete] if I could have myself committed to one of the asylums for the insane in New York, with a view to writing a plain and unvarnished narrative of the treatment of the patients therein and the methods of management, etc. 

So beginnt die Reportage Ten Days in a Mad-House (1887) von Nellie Bly, die im Deutschen unter dem Titel Zehn Tage im Irrenhaus: Undercover in der Psychiatrie erschien.

Diese nur knapp 90 Seiten über die Zustände in der damaligen Psychiatrie gehen einem ans Herz.

Nellie Bly (1864 – 1922), mit bürgerlichem Namen Elizabeth Jane Cochrane, war eine der Pionierinnen des investigativen Journalismus. Sie war u. a. diejenige, die später allein eine Reise um die Welt unternahm.

Trotz diverser anspruchsvollerer Reportagen wurde Bly von ihrem Arbeitgeber zunächst auf „typische Frauenthemen“ wie Theater und Gärtnerei festgelegt. Als sie das endgültig satt hatte, ging sie nach New York und ergatterte einen Auftrag für die New York World von Joseph Pulitzer: Sie sollte eine Geisteskranke spielen, sich einweisen lassen und so aus erster Hand über die Zustände im Women’s Lunatic Asylum auf Blackwell’s Island berichten.

Ihr Plan gelingt. Erschreckend einfach und schnell wird sie eingewiesen. Nach zehn Tagen wird sie – wie vereinbart – befreit. In ihrer Reportage erzählt sie von dem vergammelten Essen, den z. T. gleichgültigen oder sadistischen Wärterinnen, den katastrophalen Unterkünften, der unzureichenden Kleidung und der fehlenden Hygiene. Die Insassen werden entweder sich selbst überlassen oder gefesselt und bei „Fehlverhalten“ bestraft, geschlagen oder in eiskaltes Wasser getaucht und dann ohne Decke zum Schlafen geschickt.

Bly deckt aber nicht nur die grausamen und inhumanen Zustände auf Blackwell’s Island auf, sondern erzählt auch von ihren Begegnungen mit den anderen Frauen, manchmal reichen schon ein paar Sätze und ein ganzes Schicksal taucht vor dem Leser auf.

Erschütternd auch die Tatsache, dass einige der Frauen dort überhaupt nicht krank waren, jedoch keinerlei Möglichkeiten fanden, aus diesem Gefängnis wieder herauszukommen. Es hat einfach niemanden interessiert und eine gründliche Untersuchung war wohl oft gar nicht im Interesse der Angehörigen. Auch Bly selbst hatte sich nach ihrer erfolgreichen Einweisung wieder völlig normal und vernünftig verhalten und entsprechend kommuniziert, aber genau das wurde dann wieder als Beleg für ihr „Irresein“ gewertet.

The insane asylum on Blackwell’s Island is a human rat-trap. It is easy to get in, but once there it is impossible to get out. (S. 85 der Taschenbuchausgabe)

Vermutlich gehen diverse – auch finanzielle – Verbesserungen in den psychiatrischen Kliniken in New York tatsächlich auf ihr Konto.

Bin beim Nachlesen ihrer Biografie noch auf die Experimente von David Rosenhan gestoßen, deren Ergebnisse er 1973 veröffentlichte. Was soll man da noch zu sagen?

Benjamin Maack hat zu der erst 2011 ins Deutsche übersetzten Reportage auf Spiegel Online einen Artikel veröffentlicht und auch der Neuen Zürcher Zeitung war das einen Artikel wert.

Weitere Besprechungen gibt es bei:

Einen weiteren Buchtipp zu diesem Thema findet ihr in der Netten Bücherkiste, nämlich: Women of the Asylum – Voices from behind the Walls, 1840-1945.

 

Autor: buchpost

- mein buchregal: schon lange ein gegengewicht zu beruf und engstirnigkeit - ziele: horizont weiten, mich vergnügen und das wichtige behalten

9 Kommentare zu „Nellie Bly: Ten Days in a Mad-House (1887)“

    1. Nun, ich habe dabei ein bisschen geschummelt, mein Beitrag stammt noch aus der Anfangszeit meines Blogs und dein Beitrag brachte mich auf die Idee, meine Erinnerung aufzufrischen und den Artikel dann gleich noch mal hochzuladen. Ich mag das, wenn ich sehe, wie andere an ein Buch herangehen, was ihnen auffiel, welches Fazit sie ziehen. Wobei das Interessante ist, dass ich jetzt vermutlich gar nicht mehr zu diesem Buch gegriffen hätte. Die Leseinteressen verschieben sich, als ob es Zeitfenster für bestimmte Bücher gibt. Und das wiederum ist eher erschreckend, weil ich mich dann gerade frage, ob die Zeitfenster für die ungelesenen Bücher in der Wohnung wohl schon alle geschlossen sind. LG, Anna

  1. Liebe Anna,
    erst las ich dabei bei Marina, nun bei Dir – das sind zwei starke Empfehlungen. Ich habe ja einige Jahre als Pressesprecherin für einige psychiatrische Kliniken gearbeitet und da war das Thema, wie schwer sich die Psychiatrie von ihrer dunklen Vorgeschichte befreien konnte, immer wieder aktuell. Zumal in Deutschland dann ja die Nazis noch furchtbar wüteten und erst spät in den 1960ern eine Reform in Gang kam. Bis heute aber ist die psychiatrische Disziplin immer noch so ein Stiefkind im Gesundheitswesen.
    Solche Bücher leisten einen wichtigen Beitrag, hoffe ich jedenfalls, die Leser dafür zu sensibilisieren, dass man auch heute noch darauf achtet, wie man mit den Themen „Menschenwürde“ in psychiatrischen Kliniken umgeht.

    1. Hallo Birgit,
      ja wie rasch das möglich war, seine Würde abgesprochen zu bekommen. Erschreckend. Ich hoffe/denke/erwarte immer, dass man sich für die Geschichte – und dazu gehören auch die Irrwege und Verfehlungen – seiner eigenen Disziplin interessiert, schon um selbst weniger borniert an Sachverhalte heranzugehen. Aber das gilt wohl nie für jeden. Aber da hast du sicherlich interessante Einblicke gewinnen können. LG, Anna

      1. Liebe Anna, ich hatte in diesen beruflichen Zeit schon den Eindruck (und auch die Gewissheit), dass sich die überwiegende Mehrheit der Ärzte + Pfleger intensiv für ihre Patienten einsetzte (und auch für eine Aufarbeitung der Geschichte, mit der Intension, daraus zu lernen). Dass die Psychiatrie lange brauchte, um einen gewissen Stellenwert in Sachen Anerkennung und Finanzierung zu bekommen, ist, denke ich, weniger ein Problem des Fachs, sondern der gesamtgesellschaftlichen Haltung: Psychisch Kranke machen uns immer noch „Angst“, psychische Erkrankungen sind mit Vorurteilen belegt – und das spiegelt sich natürlich auch in der Haltung der Entscheidungsträger (Politiker im Gesundheitswesen), wenn es um Verteilung von Ressourcen geht. Wobei da in den letzten 25 Jahren sich schon sehr viel zum Positiveren verändert hat. Viele Grüße, Birgit

  2. Ich habe vor Kurzem „Women of the Asylum“ gelesen, dass sich mit ebendiesem Thema beschäftigt. Erschreckend. Vor allem, dass Männer/Väter ihre Frauen/Töchter so einfach mit einer seichten Begründung loswerden konnten…

    1. Danke für den Hinweis, hab ich gleich verlinkt 🙂 Aber manches mag man sich gar nicht näher ausmalen… LG, Anna

  3. Das hört sich erschütternd an. Psychiatrische Krankheiten bereiten unserer Gesellschaft noch immer große Herausforderungen. Es gibt noch großen Bedarf an Forschung und menschenwürdiger Behandlung.

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