Nachdem ich In der Fremde sprechen die Bäume arabisch gelesen hatte, wollte ich mehr von dem Schriftsteller, Übersetzer und Literaturwissenschaftler Usama Al Shahmani lesen. Und so geht es heute um den 2016 in Zusammenarbeit mit der Journalistin Bernadette Conrad (*1963) entstandenen Band Die Fremde – ein seltsamer Lehrmeister, der im Limmat Verlag veröffentlicht wurde. Das Buch handelt schwerpunktmäßig von den Erfahrungen und Erinnerungen Al Shahmanis, der 2002 in die Schweiz flüchtete und sich seitdem dort ein Leben und ein Zuhause aufgebaut hat, auch wenn Conrad ebenfalls einige Kapitel und Interviewfragen beisteuert.
Es ist wieder ein berührendes Buch und ein wichtiges Buch. Ganz zu Beginn zitiert Conrad einen Satz von Al Shahmani:
Und manchmal habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich Dich durch meine Geschichten aus dem Irak traurig mache. (S. 8)
Conrad ist sich jedoch sicher:
Ich denke, dass nicht nur nichts verkehrt daran ist, dass wir uns von denen, die Krieg, Folter, Diktatur erlebt haben, traurig machen lassen, sondern dass dies im Gegenteil wichtig ist. Nicht nur, weil Entsetzen und Trauer die angemessenen Gefühle sind, um auf menschengemachtes Grauen zu reagieren. Diese Trauer zuzulassen ist auch eine Reverenz; ein Minimum, dass man als jemand, der von diesen Erfahrungen verschont geblieben ist, beitragen kann gegen eine Spaltung der Welt. (S. 8)
Al Shahmani schildert seine Kindheit und Jugend unter einem rigiden Vater und die brutalen Schulerfahrungen, die Angst, die eine ganze Gesellschaft zermürbt, lähmt und vergiftet. Die erste Flucht – noch im Irak – in die Literatur.
Ich war kaum zwanzig, als Frischs Roman ‚Mein Name sei Gantenbein‘ auf Arabisch veröffentlicht wurde, übersetzt von einem Ägypter. Ich hatte es von meinem alten Schulfreund Riad ausleihen können. (S. 131)
Dann erzählt Al Shahmani von seinem regimekritischen Theaterstück, das der Auslöser für seine lebensgefährliche Flucht war.
Die ersten keineswegs guten Jahre in der Schweiz, die Monotonie und Einsamkeit in den verschiedenen Flüchtlingsunterkünften, sein beharrliches Lernen der deutschen Sprache, Erinnerungen an Freunde und Studienkollegen, die kurzzeitige Hoffnung, nach dem Sturz Saddams wieder zurückkehren zu können. Familienangehörige, wie die Onkel und Bruder Ali, die Krieg und Diktatur zum Opfer fielen. Der gefolterte Freund, den er nach dessen Haftentlassung erst nicht erkennt.
Aber auch die Freude über das Kennenlernen seiner späteren Frau Nada, die Geburt ihrer beiden Kinder, das allmählich Heimischwerden in der Schweiz, neue Freundschaften und die Desorientierung, als er viele Jahre später zurück in den Irak reist, um seine Familie zu besuchen.
Es wäre müßig, hier noch viel zum Inhalt zu sagen. Ich möchte es so ausdrücken: Al Shahmani erzählt uns, verschont uns nicht. Er zeigt sowohl die widerwärtige Fratze des Saddam-Regimes und dessen Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft, die allmählich verroht und abstumpft, als auch die Widersprüche und Brüche und Traumata eines Menschen, der die ersten 30 Jahre in Krieg und unter dieser Diktatur gelebt hat und der die seelischen Narben nicht mit dem Grenzübertritt nach Europa hinter sich gelassen hat.
Eines Tages zeigte das irakische Fernsehen einen Vater, der seinen Sohn der Sicherheitsbehörde eigenhändig auslieferte, weil er den Waffendienst an der Front ablehnte, um anschließend zu flüchten. Nachdem der Sohn von den Sicherheitskräften verfolgt wurde, um anschließend auf der Flucht erschossen zu werden, erschien dessen Vater im Fernsehen in Begleitung von Saddam. Saddam verlieh ihm zu Ehren eine Auszeichnung und nannte ihn ‚den wahrhaftigsten und rechtschaffensten irakischen Bürger.‘ (S. 112)
Die Einblicke in seine Herkunftskultur und seine irakische Familie, die Al Shahmani uns gestattet, helfen uns ebenfalls, ein wenig besser zu verstehen. Sehr vielsagend dabei die zwei Familienfotos, die Usama mit seinen Eltern einmal in den Siebzigerjahren und einmal 1998 zeigen. Ein kompletter gesellschaftlicher Wandel, illustriert mit nur zwei Bildern.
Dennoch strahlt auch dieses Buch eine zarte Hoffnung aus, ist es doch von einem geschrieben, der seine persönliche Antworten auf das Grauen in der Flucht, der Sprache und der Literatur gefunden hat. Er hat einen Weg gefunden, fremd und doch heimisch zu sein und seine Fremdheit als neuen Raum zu begreifen, den es zu gestalten gilt. Und der nun als ehrenamtlicher Flüchtlingshelfer seine Erfahrungen an andere Geflüchtete weitergibt.
Al Shahmani erzählt uns das so, als säße er bei uns in der Küche, er nimmt einen quasi an die Hand und schafft etwas ganz Seltenes: Er erweitert meine mentale Landkarte um ein Land namens Irak, dessen Leid ich mir bisher gut auf Abstand halten konnte. Ein Land, für das keine Hoffnung auf Besserung besteht, solange es unter der Fuchtel religiöser Hardliner bleibt.
Dass jeder Geflüchtete eine Geschichte mitbringt, ist eine Binsenweisheit, sollte aber dennoch nachdenklich machen, auch wenn sie kaum jemand so wie Al Shahmani wird erzählen können.
Für mich ist die Sprache die einzige Sache, die ich als meine absolute Heimat bezeichne. Ich habe meine Heimat nicht verloren, weil ich meine Muttersprache behielt. (S. 37)
Ich selbst habe mich erst dann willkommen gefühlt, als ich die Sprache konnte. Diese Tür muss man selbst öffnen. (S. 150)