Usama Al Shahmani/Bernadette Conrad: Die Fremde – ein seltsamer Lehrmeister (2016)

Nachdem ich In der Fremde sprechen die Bäume arabisch gelesen hatte, wollte ich mehr von dem Schriftsteller, Übersetzer und Literaturwissenschaftler Usama Al Shahmani lesen. Und so geht es heute um den 2016 in Zusammenarbeit mit der Journalistin Bernadette Conrad (*1963) entstandenen Band Die Fremde – ein seltsamer Lehrmeister, der im Limmat Verlag veröffentlicht wurde. Das Buch handelt schwerpunktmäßig von den Erfahrungen und Erinnerungen Al Shahmanis, der 2002 in die Schweiz flüchtete und sich seitdem dort ein Leben und ein Zuhause aufgebaut hat, auch wenn Conrad ebenfalls einige Kapitel und Interviewfragen beisteuert.

Es ist wieder ein berührendes Buch und ein wichtiges Buch. Ganz zu Beginn zitiert Conrad einen Satz von Al Shahmani:

Und manchmal habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich Dich durch meine Geschichten aus dem Irak traurig mache. (S. 8)

Conrad ist sich jedoch sicher:

Ich denke, dass nicht nur nichts verkehrt daran ist, dass wir uns von denen, die Krieg, Folter, Diktatur erlebt haben, traurig machen lassen, sondern dass dies im Gegenteil wichtig ist. Nicht nur, weil Entsetzen und Trauer die angemessenen Gefühle sind, um auf menschengemachtes Grauen zu reagieren. Diese Trauer zuzulassen ist auch eine Reverenz; ein Minimum, dass man als jemand, der von diesen Erfahrungen verschont geblieben ist, beitragen kann gegen eine Spaltung der Welt. (S. 8)

Al Shahmani schildert seine Kindheit und Jugend unter einem rigiden Vater und die brutalen Schulerfahrungen, die Angst, die eine ganze Gesellschaft zermürbt, lähmt und vergiftet. Die erste Flucht – noch im Irak – in die Literatur.

Ich war kaum zwanzig, als Frischs Roman ‚Mein Name sei Gantenbein‘ auf Arabisch veröffentlicht wurde, übersetzt von einem Ägypter. Ich hatte es von meinem alten Schulfreund Riad ausleihen können. (S. 131)

Dann erzählt Al Shahmani von seinem regimekritischen Theaterstück, das der Auslöser für seine lebensgefährliche Flucht war.

Die ersten keineswegs guten Jahre in der Schweiz, die Monotonie und Einsamkeit in den verschiedenen Flüchtlingsunterkünften, sein beharrliches Lernen der deutschen Sprache, Erinnerungen an Freunde und Studienkollegen, die kurzzeitige Hoffnung, nach dem Sturz Saddams wieder zurückkehren zu können. Familienangehörige, wie die Onkel und Bruder Ali, die Krieg und Diktatur zum Opfer fielen. Der gefolterte Freund, den er nach dessen Haftentlassung erst nicht erkennt.

Aber auch die Freude über das Kennenlernen seiner späteren Frau Nada, die Geburt ihrer beiden Kinder, das allmählich Heimischwerden in der Schweiz, neue Freundschaften und die Desorientierung, als er viele Jahre später zurück in den Irak reist, um seine Familie zu besuchen.

Es wäre müßig, hier noch viel zum Inhalt zu sagen. Ich möchte es so ausdrücken: Al Shahmani erzählt uns, verschont uns nicht. Er zeigt sowohl die widerwärtige Fratze des Saddam-Regimes und dessen Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft, die allmählich verroht und abstumpft, als auch die Widersprüche und Brüche und Traumata eines Menschen, der die ersten 30 Jahre in Krieg und unter dieser Diktatur gelebt hat und der die seelischen Narben nicht mit dem Grenzübertritt nach Europa hinter sich gelassen hat.

Eines Tages zeigte das irakische Fernsehen einen Vater, der seinen Sohn der Sicherheitsbehörde eigenhändig auslieferte, weil er den Waffendienst an der Front ablehnte, um anschließend zu flüchten. Nachdem der Sohn von den Sicherheitskräften verfolgt wurde, um anschließend auf der Flucht erschossen zu werden, erschien dessen Vater im Fernsehen in Begleitung von Saddam. Saddam verlieh ihm zu Ehren eine Auszeichnung und nannte ihn ‚den wahrhaftigsten und rechtschaffensten irakischen Bürger.‘ (S. 112)

Die Einblicke in seine Herkunftskultur und seine irakische Familie, die Al Shahmani uns gestattet, helfen uns ebenfalls, ein wenig besser zu verstehen. Sehr vielsagend dabei die zwei Familienfotos, die Usama mit seinen Eltern einmal in den Siebzigerjahren und einmal 1998 zeigen. Ein kompletter gesellschaftlicher Wandel, illustriert mit nur zwei Bildern.

Dennoch strahlt auch dieses Buch eine zarte Hoffnung aus, ist es doch von einem geschrieben, der seine persönliche Antworten auf das Grauen in der Flucht, der Sprache und der Literatur gefunden hat. Er hat einen Weg gefunden, fremd und doch heimisch zu sein und seine Fremdheit als neuen Raum zu begreifen, den es zu gestalten gilt. Und der nun als ehrenamtlicher Flüchtlingshelfer seine Erfahrungen an andere Geflüchtete weitergibt.

Al Shahmani erzählt uns das so, als säße er bei uns in der Küche, er nimmt einen quasi an die Hand und schafft etwas ganz Seltenes: Er erweitert meine mentale Landkarte um ein Land namens Irak, dessen Leid ich mir bisher gut auf Abstand halten konnte. Ein Land, für das keine Hoffnung auf Besserung besteht, solange es unter der Fuchtel religiöser Hardliner bleibt.

Dass jeder Geflüchtete eine Geschichte mitbringt, ist eine Binsenweisheit, sollte aber dennoch nachdenklich machen, auch wenn sie kaum jemand so wie Al Shahmani wird erzählen können.

Für mich ist die Sprache die einzige Sache, die ich als meine absolute Heimat bezeichne. Ich habe meine Heimat nicht verloren, weil ich meine Muttersprache behielt. (S. 37)

Ich selbst habe mich erst dann willkommen gefühlt, als ich die Sprache konnte. Diese Tür muss man selbst öffnen. (S. 150)

Usama Al Shahmani: In der Fremde sprechen die Bäume arabisch (2018)

Usama Al Shahmani ist mir erst seit dem Literaturclub vom 31. Mai 2022 ein Begriff. Der 1971 in Bagdad geborene Literaturwissenschaftler, Schriftsteller und Übersetzer flüchtete 2002 in die Schweiz, lebte fast zwei Jahre in Flüchtlingsheimen, brachte sich selbst Deutsch bei und lebt heute mit seiner Familie in Frauenfels. Und jetzt möchte ich jedes seiner Bücher lesen.

Doch zunächst zu dem nur 189 Seiten umfassenden zweiten Buch, das Al Shahmani auf Deutsch veröffentlicht hat, das zuerst im Limmat Verlag erschien, später auch im Unionsverlag.

Es ist ein leises, sehnsüchtiges, ein widerständiges, trauriges und hoffnungsvolles Buch über Flucht, Verlust, Bäume und Heimat von einem, der lernen musste, die aberwitzigsten Gegensätze, die ein Menschenleben ausmachen können, auszubalancieren. Dass man sich während und nach der Lektüre mit Schrecken die Eckdaten der neueren irakischen Geschichte in Erinnerung ruft, wird wohl nicht ausbleiben.

Al Shahmani erzählt schlicht, ohne die große Geste, ohne den Leser*innen eine Bewertung oder Beurteilung aufzuzwingen, vielleicht ist das einer der Gründe, weshalb sein Buch so eindrücklich ist.

In der Fremde sprechen die Bäume arabisch beginnt mit einer im Nachhinein witzigen Szene kurz nach seiner Ankunft in der Schweiz. Die schon seit Jahrzehnten in der Schweiz lebende Tante seines ebenfalls im Flüchtlingsheim untergebrachten Freundes fragt die beiden Männer, ob sie Lust haben, mit ihr einmal wandern zu gehen. Die beiden sind entsetzt. Wandern ist allenfalls noch als Bestandteil einer Pilgerreise vorstellbar, ansonsten fährt man lieber mit dem Auto oder bleibt daheim.

Es war für mich unbegreiflich zu hören, dass die Leute in der Schweiz einfach so zu Fuß gehen – in den Wäldern, Bergen, Tälern, auf schwierigen Wegen, um einfach nur zu wandern. Ich dachte, sie erzählt uns einen Witz, als sie uns berichtete, dass sie mit ihrem Mann fast jedes Wochenende wandern gehe. (S. 7, Taschenbuchausgabe des Unionsverlages)

Nun, bei dieser reflexhaften Ablehnung wird es nicht bleiben. Al Shahmani probiert es dann doch irgendwann aus und findet, was er vermutlich nicht erwartet hat. Das Wandern, genauer gesagt die Natur und vor allem die Bäume, trösten ihn. Ihnen kann er auf Arabisch erzählen, was ihn bedrückt, besorgt, beglückt und ängstigt. Seine große Freude, als er unvoreingenommenen SchweizerInnen begegnet, die ihm vertrauen und versuchen, ihm zu helfen und Mut zu machen, aber auch die Erfahrung, fremd zu sein, ausgebeutet zu werden, seine Verzweiflung, die Probleme beim innerlichen Ankommen in einem fremden Land und vor allem sein Heimweh.

Wenn ich das Wort ‚Heimat‘ ausspreche, steht vor meinem inneren Auge eine Dattelpalme. […] Dass die Dattelpalme aus meinem Leben verschwunden ist, seit ich in der Schweiz lebe, hat bei mir eine Lücke hinterlassen. (S. 124)

Seine ersten Arbeitserfahrungen als Hilfsarbeiter in verschiedensten Jobs bis hin zu der Tätigkeit in einem Beschäftigungsprogramm, bei dem forstwirtschaftliche Arbeiten im Wald erledigt werden müssen.

Ein Tauchgang in den Wald hilft mir immer wieder, die Vergangenheit ruhen zu lassen und an einen neuen Anfang zu denken. Neige dich und schwanke, sei wie die Bäume im Wind, verhalte dich wie ein Baum und lass alles fließen, denn alles wird vergehen. Auch das, womit du dich jetzt beschäftigst, ist vergänglich, sagte ich mir und betrachtete die Knospen an den Zweigen. (S. 80)

Dann die Erinnerungen an seine Kindheit und seine Geschwister. Besonders an seinen Bruder Ali, der sich weigert, Bagdad zu verlassen, wo er Französisch studiert und seine Freunde hat. Unter anderem deshalb will er nicht zu seiner Familie zurück in den Südirak, auch wenn es dort weniger gefährlich ist. Niemand in der Familie hat das notwendige Geld, um Ali ebenfalls zur Flucht ins Ausland zu verhelfen. Doch dann erfährt Al Shahmani im April 2006 von Naser, seinem zweiten Bruder, dass Ali verschwunden ist. Wie so viele im Irak, vermutlich direkt von der Straße weg verhaftet, verschleppt. Ein Trauma, mit dem nun die Familie im Irak und Al Shahmani in der Schweiz umgehen müssen.

Auf einem meiner Fotos steht der junge Ali in einer unermesslichen Wüste namens hemade. Der weite Horizont verleiht dem Bild eine große Tiefe, und der Horizont zwischen dem Blau des Himmels und der hemade sieht aus wie eine Linie zwischen Traum und Wahrheit. Er war im ersten Jahr seines Studiums. Sein ganzes Wesen strahlte eine bedingungslose Liebe zum Leben aus. Er freute sich, die französische Sprache und Literatur zu studieren. Einmal im Leben wollte er nach Paris reisen. (S. 176)

Alle Versuche, das Schicksal Alis in diesem vom Bürgerkrieg zerrissenen und korrupten Land aufzuklären, scheitern. Egal, wie häufig Naser die Gefängnisse, Krankenhäuser, Polizei, den Geheimdienst oder die Leichenhäuser aufsucht, in denen Menschen nach ihren zu Tode gefolterten Angehörigen suchen. Egal, ob man wertvolles Land verkauft, um Geld für einen Scharlatan zu haben, der sich brüstet, mit seinen guten Kontakten vielleicht doch etwas über den Verbleib des Verschwundenen herauszufinden. Die Mutter Alis wird über dem ungeklärten Schicksal ihres Sohnes fast verrückt.

Nicht nur der Regen, der Schnee und die Sonne, auch die Zeit hat im Wald eine andere Dimension. Den Regen im Wald zu erleben, hat meine Seele erfüllt, ich kam wie neugeboren heraus und fühlte mich erleichtert. Viele Schichten meines Leidens hat dieser Regen weggewaschen. (S. 110)

Die vernünftige Erkenntnis, dass man als Exiliraker nicht mehr davon träumen kann, irgendwann zurück in die Heimat zu gehen, da das Land so tiefgreifend zerstört ist. Dennoch sehne sich die Seele nach der Heimat. In den Worten eines irakischen Künstlers:

Meine Beziehung zum Irak habe ich für immer beendet – wie wenn man ein Grab zuschüttet. Frag mich nicht wieso, du musst selbst dorthin gehen. Die Diktatur lebt weiter in der Politik wie im sozialen Gewebe, und der Krieg hat die Menschen bis einem Grad verstümmelt, dass selbst der Gedanke, eine Reform zu versuchen, eine Art Verrücktheit geworden ist. (S. 106)

Weder hat Al Shahmani die Angst vor dem irakischen Sicherheitsdienst oder  den schwarzen Regen vergessen, der 1991 fiel, als Saddams Truppen beim Rückzug aus Kuweit die Ölquellen in Brand stecken ließ, noch den Fundamentalismus im Irak. Sein guter Freund Meran musste seine Geige immer bei den Nachbarn verstecken, da dessen Vater so religiös war, dass er weder Musik noch Instrumente duldete. Aber es geht auch um die Dankbarkeit und Hoffnung, mit der er sein Leben in der Schweiz gestaltet.

Ich bin der Fremde.
Ich habe Hoffnung
und einen Koffer voller Geheimnisse.
Beides trage ich und gehe,
wie ein Sufi, der geduldig
zu blühen versucht, wo immer
der Herr ihn hingepflanzt hat.
(S. 17)
Hier lang zu einem Interview mit Usama Al Shahmani.

Min Jin Lee: Pachinko (2017)

History has failed us, but no matter.

Die Geschichte hat uns im Stich gelassen, aber was macht das schon.

Mit diesem Satz beginnt der ca. 500 Seiten starke Roman der Amerika-Koreanerin Min Jin Lee – von Barack Obama für seine Schilderung von Resilienz und Mitgefühl hochgelobt und einer der National Book Award Finalists von 2017. Das Buch erzählt über mehrere Generationen hinweg die Geschicke einer koreanischen Immigrantenfamilie in Japan. Lesenswert, wenn auch nicht das vollkommene Meisterwerk, das manche amerikanische Kritiker aus ihm machen wollten.

Die deutsche Übersetzung Ein einfaches Leben von Susanne Höbel erschien 2018. Anscheinend war den deutschen LeserInnen der englische Titel, dessen Bedeutung sich erst später erschließt, aber dadurch doch auch reizvoll und letztlich wesentlich treffender ist, nicht zuzumuten.

Die Handlung umfasst die Jahrzehnte von 1910 bis 1989 und beginnt mit der 16-jährigen Südkoreanerin Sunja, die nie ein freies Korea erlebt hat. Seit 1905 galt Korea als Protektorat Japans, 1910 wurde es als Kolonie eingegliedert. Sunjas Familie ist arm und hält sich mit einer kleinen Herberge über Wasser. Das junge Mädchen verliebt sich in einen reichen älteren Landsmann, den Fischhändler Koh Hansu, der dem naiven, aber willensstarken Mädchen Geschenke mitbringt und ein wenig Aufmerksamkeit widmet. Sie ist sicher, er wird sie ehelichen, doch Hansu ist längst mit der Tochter eines – freundlich formuliert – einflussreichen Mannes in Japan verheiratet, ein Umstand, den er zu erwähnen vergaß. Als Sunja schwanger wird, ist Hansu durchaus erfreut und will sie irgendwo als Mätresse unterbringen und sich um ihren Lebensunterhalt und die Erziehung des Kindes zumindest finanziell kümmern. Doch das kommt für die stolze Sunja nicht in Frage.

Gleichzeitig würde aber ein uneheliches Kind unauslöschliche Schande über sie und ihre Mutter bringen, deshalb willigt sie ein, den freundlichen Prediger Isak zu heiraten, der auf dem Weg nach Japan ist, um dort in einer kleinen christlichen Gemeinde zu arbeiten. Die Ehe der beiden wird wider Erwarten glücklich und Sohn Noa hält Isak lange für seinen leiblichen Vater.

Ihr Leben in Japan ist hart. Sie sind arm und auf die Unterstützung von Isaks Bruder und Schwägerin angewiesen, in dessen Häuschen sie auch leben. Der Familienzusammenhalt ist enorm, gleichzeitig steht Sunja öfter vor dem Dilemma, ihrem Schwager gehorchen zu müssen, auch wenn sie seine Entscheidungen nicht immer gutheißen kann. Überhaupt, die Rolle der Frau, ein Sprichwort besagt, das Los der Frau sei es zu leiden, was eigentlich nur bedeutet, das auszulöffeln, was die Männer eingebrockt haben. Hansu, der Vater von Sunjas Sohn Noa, wird ebenfalls noch eine Rolle spielen.

Das war spannend, anrührend und interessant, wusste ich bis dahin doch so gut wie nichts über Korea im 20. Jahrhundert und über den (institutionalisierten) Rassismus und die Diskriminierung, der koreanische Einwanderer, Zwangsarbeiter oder gar Christen in Japan ausgesetzt waren. Gleichzeitig zeigt der Roman, wie sich Stück für Stück die Lebenswelt der nachfolgenden Generationen verändert. Durch die Entbehrungen, die unfassbare Arbeit und Beharrlichkeit der Elterngeneration kann die nächste Generation dann schon zur Schule geschickt werden und versuchen, aus dem Hamsterrad von nicht enden wollender körperlicher Arbeit auszusteigen.

Die beiden Söhne, Noa wissbegierig, intelligent und fleißig, Mozasu eher praktisch veranlagt und schnell mit den Fäusten, schlagen deshalb schon ganz andere Wege ein als Mutter, Tante und Onkel. Und erst für Noa und Mozasu öffnen sich Entscheidungsspielräume und stellen sich Identitätsfragen. Gleichzeitig wird die emotionale Bindung an die ursprüngliche Heimat der Eltern geringer, irgendwann wird nicht mehr von Rückkehr gesprochen. Der gesellschaftlich verankerte Rassismus und die Diskriminierungserfahrungen bleiben, aber sie sehen anders aus. Passt man sich an und ist vielleicht sogar besser als die Einheimischen, wird man beneidet und angegiftet. Geht man beruflich in die Bereiche, mit denen ein „anständiger“ Japaner nichts zu tun haben will, ist man ein Krimineller. Der eine kommt damit zurecht und sieht nicht ein, sich davon sein Leben verleiden zu lassen, ein anderer geht daran zugrunde.

So verkörpert diese Familie fast schon prototypisch das Schicksal ungeliebter Immigranten überall auf der Welt.

Der erste Teil des exzellent recherchierten Romans war wie aus einem Guss, ein traditionell erzählter und detailreicher Familienschmöker mit unvergesslichen Szenen, der ab und an an die Romane des 19. Jahrhunderts erinnert und trotz gewisser Süßlichkeiten nicht ohne Anspruch ist.

Es ist unmöglich, nicht an Sunjas Familie und ihrem Ergehen Anteil zu nehmen oder die aktuellen Bezüge zu unserer Gegenwart wahrzunehmen. Es gefiel mir auch, dass nicht alle Emotionen und Gedanken ausbuchstabiert wurden. Das passte zu dieser schlichten, doch würdevollen und sturen Frau und die großen politischen Umwälzungen werden hier ausschließlich anhand ihrer Auswirkungen auf die einfachen Leute erzählt. Das ist stimmig und schockierend zugleich.

Doch irgendwann zerfaserte die Geschichte; die Autorin Min Jin Lee (*1968 in Südkorea) wollte einfach zu viel. Ihre Absicht, alle möglichen denkbaren Lebenswege der nachfolgenden Generationen und damit auch alle nur denkbaren Immigrationserfahrungen zur Sprache kommen zu lassen, war zu offensichtlich. Lee verzettelt sich in Namen und Schicksalen, die zum Teil auf maximale Dramatik gebürstet werden, mich dann aber kalt gelassen haben. Hätte die Autorin Sunja und ihre direkten Nachkommen als Zentrum der Handlung zwischendurch nicht so aus den Augen verloren, kurzum das Buch um 150 Seiten gekürzt, wäre ein wirklich beeindruckendes Werk entstanden.

PS: Manche Rezensenten erklären gleich zu Beginn, woher der englische Titel Pachinko kommt. Ich fand viel interessanter, das erst zu klären, als der Begriff das erste Mal im Roman auftaucht.

Eine Verfilmung ist geplant.

Der Sidney Morning Herald bringt es auf den Punkt:

Is Pachinko a masterpiece? No. But it is one of those books that takes a mighty bite of big-time subject matter and has its own kind of grandeur.

Sigrid Nunez: A Feather on the Breath of God (1995)

Nachdem ich The Friend von Nunez gelesen hatte, wollte ich mehr von dieser Autorin lesen und landete bei ihrem Debütroman A Feather on the Breath of God, der 1999 auch auf Deutsch erschien.

Das schmale Werk von 180 großzügig gesetzten Seiten ist stark autobiografisch und erkundet die dauerhaften Beschädigungen, die eine Immigrantenkindheit aus – wie wir heute sagen würden – bildungsfernen Verhältnissen mit sich bringen kann. Auch Nunez‘ Mutter war – wie die der Ich-Erzählerin – Deutsche, ihr Vater hatte chinesisch-panamaische Wurzeln. Die Eltern hatten sich in Deutschland kennengelernt, waren dann gemeinsam nach Amerika gegangen und haben sich und den drei Töchtern dann ein höchstmöglich dysfunktionales Familienleben beschert.

Nunez selbst hat das Buch als ihr „real hybrid genre book“ bezeichnet.

Even though there are parts that are based on my parents, with little distance between author and narrative, it isn’t really a memoir, because there’s a sufficient amount of distortion and invention. (Renée H. Shea: The Secret Facts of Fiction: A Profile of Sigrid Nunez, 2006)

Der erste große Abschnitt Chang geht den Erinnerungen an die Vaterfigur nach, der entweder abwesend ist, weil er sieben Tage die Woche den kärglichen Lebensunterhalt mit mies bezahlten Jobs verdient oder abends stumm in der Küche sitzt, während die anderen sich im Wohnzimmer aufhalten. In der Wohnung gibt es nichts, was auf die Heimat des Vaters hindeutet, er spricht zeit seines Lebens schlecht Englisch, doch es kommt auch niemand auf die Idee, dass es eine gute Idee sein könnte, den Kindern Chinesisch beizubringen.

We must have seemed as alien to him as he seemed to us. To him we must always have been „others“. Females. Demons. No different from other demons, who could not tell one Asian from another, who thought Chinese food meant chop suey and Chinese customs were matter for joking. I would have to live a lot longer and he would have to die before the full horror of this would sink in. And then it would sink in deeply, agonizingly, like an arrow that has found its mark. (S. 23)

Das zweite Kapitel Christa beschäftigt sich mit der Mutter, die seit ihrer Ankunft in Amerika heimwehkrank und unglücklich ist, sie lässt das an den drei Töchtern, doch auch vor allem an ihrem Mann aus, dem sie vorwirft, zu wenig zu verdienen, den sie klein und verächtlich macht, weil er die deutschen Namen der Töchter nicht richtig aussprechen kann, dem sie die Trennung androht, nur um dann doch alles beim Alten zu lassen. Im Laufe ihres Lebens sagt sie schreckliche Dinge, von denen die Tochter sagt:

Some things it would be death to forgive. (S. 180)

Aus dieser wenig Halt gebenden und unberechenbaren Atmosphäre flüchtet die Tochter lange in die Traumwelt des Balletts –  A Feather on the Breath of God – bis sie erkennt, dass ihr die wirkliche Begabung dazu fehlt. Im Nachhinein ist sie möglicherweise auch froh gewesen, ihrem Körper nicht länger die Schmerzen und den Hunger zufügen zu müssen, nur damit dieser den männlich geprägten Schönheitsvorstellungen des Balletts entspricht.

Now, of course, I can say precisely what it was that was happening to me. I had discovered the miraculous possibility that art holds out to us: to be a part of the world and to be removed from the world at the same time. (S. 101)

Lange fragte ich mich, wozu ich als Leserin die nüchtern und fast klinisch sachlich geschilderte Ehehölle, diese Kindheit und Jugend überhaupt kennenlernen musste, in der die Kinder außerdem damit zurechtkommen mussten, als „half-breeds“ beschimpft zu werden.

The last thing I would have believed back then was that one day it would be fashionable to be Chinese; or that I had only to wait a few years, till I reached adolescene, to hear people say that they envied me my exotic background. (S. 85)

Doch im vierten und letzten Teil Immigrant Love beantwortet sich das. Die Ich-Erzählerin erzählt von einer Affäre, die sie als gestandene Sprachlehrerin mit einem ihrer Schüler, einem verheirateten 37-jährigen Ex-Junkie aus Russland eingeht.

Und hier – gegen Ende – bindet Nunez mit nur einem Satz plötzlich das ganze Werk zusammen, man sieht, wie alles zusammenhängt, dass niemand von uns seinen Kindheitskatastrophen und -versehrungen unbeschadet entkommt, die im Falle einer missglückten Immigration der Eltern umso tiefgreifender sind.

Doch obwohl besonders der Schluss, ja ein einziger Satz,  mich mit der Kunst von Nunez versöhnte, bin ich überrascht, wie wenig nach zwei drei Wochen mir noch erinnerlich ist, wie wenig der Roman nachhallt. Vermutlich waren es mir dann doch zu viele assoziativ aneinandergereihte Erinnerungen, wie Bilder aus einem fremden Familienalbum, wobei die Gefühle und Gedanken der Beteiligten über weite Strecken verborgen blieben.

Der poetische Titel verdankt sich übrigens einem Zitat Hildegard von Bingens.

End of the semester. It is very late and I am alone in my room. A narrow desk by the window, overlooking the courtyard that is slowly filling up with snow. Books open on the desk, bright lamp, cigarettes, a boyfriend’s photograph. I will sit there all through the night, I will smoke all the cigarettes, and in the morning I will cross the courtyard to answer questions about literature and the tragic sense of life. The sound of a pen scratching in the night ist a holy sound. I want to get down something T. S. Eliot said: Human beings are capable of passions that human experience can never live up to. (S. 118)