Michael Frank, selbst preisgekrönter Schriftsteller und Publizist, hatte 2015 das Glück, die damals 92-jährige Stella Levi bei einem Vortrag an der New York University kennenzulernen, bei dem es um Fragen der Erinnerungskultur ging.
Aus diesem Zufallskontakt entstand Jahre später dieses Buch, das auf Deutsch 2023 unter dem Titel Einhundert Samstage – Stella Levi und die Suche nach einer verlorenen Welt erschienen ist, übersetzt von Brigitte Jakobeit.
In den folgenden sechs Jahren trifft Michael Frank die alte Dame an einhundert Samstagen in ihrer New Yorker Wohnung und taucht mit ihr ein in deren Lebensgeschichte. Manchmal dauert es, bis Levi besondere oder besonders schmerzhafte Erinnerungen mitzuteilen bereit ist, die oft genug nicht einmal ihr eigener Sohn kennt. Irgendwann treffen Frank und Levi sich sogar auf Rhodos, wo Stella Levi mit ihrer Familie im jüdischen Viertel aufgewachsen ist.
Lange hat sich Levi, die 1923 geboren wurde, geweigert, ihre Geschichte zu erzählen, da sie sich niemals ausschließlich über ihr Leiden während der Zeit des Nationalsozialismus hatte definieren wollen. Sie wollte gerade nicht von Schulklasse zu Schulklasse tingeln, um dort Vorträge zu halten, da sie ihr langes Leben schließlich auch vor Auschwitz und nach Auschwitz gelebt habe.
Doch sie erkennt, dass sie allmählich zu den letzten Überlebenden gehört, die überhaupt noch die Geschichte ihrer Herkunft, die Geschichte einer untergegangenen, nein, sinnlos vernichteten Welt erzählen können. Aus diesem Grund wird der Kindheit und der Jugend Stellas ein Drittel des Buches eingeräumt, und das ist wahrlich faszinierend.
Stella Levi wuchs in La Juderia auf, dem alten jüdischen Viertel im Ostteil der Altstadt von Rhodos. Dort lebten sie als die Nachfahren sephardischer Juden, die Ende des 15. Jahrhunderts aus Spanien vertrieben worden waren. Es ist eine lärmige, eine enge, aber auch liebevolle Welt zwischen Aberglaube, alten Wundermittelchen, strenger Nachbarschaftskontrolle, jüdischen Traditionen und Feiertagen, den ersten Anzeichen der Moderne, zwischen relativer Armut und reichen Verwandten, engen Familienbindungen, Bildungshunger und dem meist friedlichen Neben- und Miteinander verschiedener Sprachen, Religionen und Milieus.
… Stella reminds me that the Rhodes of her youth was undergoing a multifaceted transition toward modernity. While her grandmothers‘ generation was still alive, yes, they continued to respect their beliefs and embrace their treatments, but even then there was an understanding that other choices, other ways, might be called for. (S. 26)
So wird nach dem Tod ihrer Großmutter Sara ihre Tante Tia Rachel rüde von ihrem Bruder zurück ins Haus beordert, als diese den traditionellen Klagegesang vor dem Haus anstimmen wollte.
… it wasn‘t fitting, it was almost unseemly, Mazliah whispered, to have the dead woman‘s daughter standing outside, ululating in public. ‚Not today,‘ Mazliah told his sister. ‚We‘ve moved beyond this sort of thing now.‘ Tia Rachel turned around and sat down, quietly humiliated, and that was the end of los lloros in Stella‘s family … (S. 35)
Ganz selbstverständlich gehen die Frauen der Familie einmal die Woche ins türkische Bad, man picknickt mit griechischen Freunden, zu denen man sein eigenes kosheres Essen mitbringt, und die Kinder sprechen Judäo-Spanisch, Griechisch und lernen Französisch und später auch Italienisch in der Schule. Stella hat zwei Brüder und vier Schwestern, von denen besonders Felicie als intellektuell gilt. Sie liest Thomas Mann und Freud und schämt sich für althergebrachte Heilmethoden und abergläubische Praktiken, doch Levi erklärt, dass vieles davon funktioniert habe bzw. früher einen ganz praktischen Sinn erfüllt habe. Wenn die Großmutter mit dem Kind, das auf der Straße gefallen und sich wehgetan hat, zu genau der Stelle ging und dort Salz auf die Straße streute, dann sei das nicht einfach dumpfes Mittelalter gewesen:
The salt or sugar being thrown down into the street where people fell, or were afraid to fall, and the prayer recited afterwards? This, Stella points out, is connected to the topography of the Juderia and its history. Before the Italians came, before there was electricity, after nightfall, the narrow streets of the Juderia were indeed verifiably dangerous, and people were afraid of falling and not being found until morning, so someone devised a response using the tools at hand (salt, sugar, a prayer). (S. 26)
Schwester Renée hingegen geht noch ganz in den alten Traditionen auf und bestickt mit Hingabe ihre Aussteuer für die Hochzeit mit einem Bräutigam, den sie sich nicht selbst aussuchen wird.
Doch vor allem ist es eine bunte, eine menschliche und quicklebendige Welt.
The Juderia was such an alive place. It was alive with scent, color, taste, movement, sound – so much sound, for so many hours of the day. When Stella wasn‘t sleeping over at Nisso‘s house she would often be awakened even earlier, by the first call to prayer in the morning, which boomed out from the minaret that towered over the mosque nearby. If she drifted back to sleep, and even if she didn‘t, the next thing Stella would hear was the gurgle of coffee being put up downstairs, which was quickly followed by the whisking and mixing and kneading and banging about that started as her mother, or her neighbors‘ mothers, with all their windows and doors flung open to the bright morning light, would get an early start on the day‘s cooking. Next came the housemaids – for those who had them – who while they worked would sing to, and with, one another across the kortijos in Judeo-Spanish […] in a call-and-response that seemed to stand out of time. As the morning advanced, along came the broom-maker hawking his wares, the Turkish vendors with the vegetables and their yogurt. […] Next: the men reciting the morning prayers from the courtyard of the synagogue. After that, and threaded all through the day, singing: as children walked to school and back, as babies were put down for their naps, as young people gathered, and as women cooked or, later, as they embroidered deep into the night. (S. 30-31)
Stella erzählt nicht nur vom Frauen- und Männerbild, von der Nahrungszubereitung, ihren ersten Freundschaften zu Männern, den sich ändernden Trauerritualen, sondern auch vom nachbarschaftlichen Zusammenhang und den verwandtschaftlichen Beziehungen (bei denen ich schon früh den Überblick verloren habe).
Bemerkenswert fand ich dabei, dass es schon immer Verwandte und Bekannte gab, die außerhalb Europas ihr Glück gesucht haben. Stellas Bruder Morris wanderte zwei Jahre vor Stellas Geburt mit Verwandten nach Amerika aus. Über einen Heiratsvermittler wird Selma, ihre ältere Schwester, mit einem Mann in New York verheiratet, der ihr gerade einmal bis zur Schulter reichte. Und ihr Bruder Victor verließ Rhodos 1939, um nach Belgisch-Kongo auszuwandern. Schwester Felicie schafft es 1940, mit dem letzten Dampfer von Rhodos aus nach Amerika zu flüchten.
Noch unter italienischer Besatzung nimmt die antisemitische Gesetzgebung Fahrt auf. Stellas Vater, der als Kaufmann gearbeitet hat, wird quasi enteignet und De Vecchi lässt den Jahrhunderte alten jüdischen Friedhof verlegen, um Platz für einen öffentlichen Park zu schaffen. 1938, Stella ist 15 und eine Musterschülerin, wird jüdischen Kindern der Schulbesuch untersagt. Eine traumatische Erfahrung, die auf ihr ganzes weiteres Leben abfärbt. Einer Schulklasse erklärt sie später:
It would take you a lifetime to understand what that meant to your sense of who you are, what you deserve in life. I am what I am today because of what happened to me in 1938. I took it very personally. It felt like my family and I were being treated like animals – animals don’t need to work or study, do they? (S. 76)
Einige couragierte italienische Lehrer bieten noch ein paar Jahre Nachmittagsunterricht für interessierte jüdische Schüler und Schülerinnen an. Doch trotz aller Einschränkungen und selbst nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Herbst 1943 können oder wollen sich die meisten Juden nicht vorstellen, dass es noch schlimmer kommen könnte.
Im Frühjahr 1944 beginnen die britischen Bombardierungen der Insel.
Doch die Nazis halten ihre Vernichtungsmaschinerie nicht an. Am 19. Juli 1944 sollen sich die jüdischen Männer einfinden, am nächsten Tag die Frauen einschließlich all ihrer Wertgegenstände. Täten sie das nicht, würden die Männer erschossen.
‚We still – still – had no idea why they were collecting us,‘ Stella says. ‚We thought they were taking us to a camp, maybe another island, to work. And that we would need money to pay for our food. It‘s amazing how the human mind tries to make sense out of —‘. She pauses. ‚Anyway we did as we were told. We went home, and we packed our bags. (S. 115)
Am Morgen des 23. Juli, einem Sonntag, lassen die Nazis die Sirenen heulen, die vor einem Luftangriff warnen, damit sich niemand auf die Straße traut. Die über 1.700 Juden von Rhodos werden durch die Stadt getrieben, auf Boote verfrachtet und auf entsetzliche Art und Weise dann später mit Zügen nach Auschwitz gebracht. Über 90 Prozent werden die Lager nicht überleben.
Die Frage, wie es möglich war, dass innerhalb nur weniger Tage eine Handvoll SS-Offiziere die komplette jüdische Bevölkerung identifizieren, zusammentreiben und verschiffen konnte, ließ sich nach Durchsicht der Aktenberge klären, die Jahrzehnte später, nämlich 2011, in der Polizeistation von Rhodos entsorgt werden sollten, um Platz zu schaffen. Historiker konnten nach diesem Fund nachweisen, dass die italienischen Behörden nach polizeilicher Aufforderung bereits im April eine Liste aller Juden auf Rhodos angefertigt und diese Liste an die Deutschen weitergeleitet hatten. Es gab auf anderen griechischen Inseln auch Proteste und Solidarität mit den Juden, die man beispielsweise versteckte oder mit gefälschten Papieren ausstattete, doch nicht auf Rhodos.
Stella Levi erzählt auch von ihrem Erleben in Auschwitz, dem herzzerreißenden Erkennen, dass ihre Eltern, Onkel und Tante vergast worden sind, ihrem Überlebenswillen, den traumatischen Erlebnissen und dem Glück, dass sie und ihre Schwester Renée überlebt haben, dem endgültigen Verlust der Heimat und dem langen Warten auf gültige Papiere in Italien, dessen Staatsbürger sie ja noch waren, bis sie endlich zu ihren Geschwistern in die USA reisen konnten. Frank zeichnet dabei ebenfalls den beruflichen und privaten Lebensweg dieser beeindruckenden und hellwachen Frau bis ins hohe Alter nach, doch der Schwerpunkt liegt auf ihrer Jugendzeit und den Erfahrungen während des Krieges.
Ein Buch, das – das schreibt sich so leicht und ist doch so bedeutsam – den Jüdinnen und Juden auf Rhodos ein Denkmal setzt, das uns eine Welt zeigt, die die Nazis vernichtet haben, und das uns sehr schlicht und gänzlich unpathetisch mahnt.
Mich beunruhigt es zutiefst, dass wir wieder Politiker in unserem Land haben, die alles tun, um derlei Menschenverachtung und völkische Herrenmenschenfantasien wieder an die Macht zu bringen, und dass wir Wähler und Wählerinnen haben, die genau das wollen und gutheißen. Oder in Stellas Worten:
In the end we are all similar, everyone with differences and defects. What‘s essential is to value humanity. (S. 199)
In Lärbro auf Gotland in Schweden wurden seit 1942 in einem Kriegslazarett auch Opfer des Nazi-Regimes und Überlebende aus Auschwitz behandelt. Nicht alle konnten gerettet werden. Und so finden sich – ungewöhnlich für einen christlichen Friedhof – auch neun jüdische Gräber auf dem Friedhof an der Kirche.