Anita Brookner: Hotel du Lac (1984)

Für ihren vierten Roman Hotel du Lac wurde Anita Brookner 1984 mit dem Booker Prize ausgezeichnet, was viele Kritiker gegen sie aufbrachte , da deren Meinung nach unbedingt Empire of the Sun von James Graham Ballard diese Auszeichnung hätte bekommen müssen. Die deutsche Übersetzung des Romans stammt von Dora Winkler.

Anita Brookner (1928 – 2016), Tochter polnischer Einwanderer – der Nachname lautete ursprünglich Bruckner -, promovierte Kunsthistorikerin, zeitlebens unverheiratet, veröffentlichte ihren ersten Roman 1981 im Alter von 53 Jahren. Brookners Bücher sind das Gegenteil dessen, was Edith Hope, die Protagonistin in Hotel du Lac schreibt. Hope ist nämlich Verfasserin anspruchsloser Romanzen.

Die Enddreißigerin Edith erklärt ihrem Verleger, warum sich ihre Trivialromane gut verkaufen.

It‘s because they [die Leserinnen] prefer the old myths, when it comes to the crunch. They want to believe they are going to be discovered, looking their best, behind closed doors, just when they thought that all was lost, by a man who has battled across continents, abandoning whatever he may have had in his in-tray, to reclaim them. (S. 27)

Nach einem Mini-Skandal hatten ihre Freunde Edith dringend eine Auszeit angeraten, in der sie sich sortieren und Gras über die Sache wachsen könne. Am Genfer See, einquartiert im titelgebenden Hotel du Lac, versucht Edith Hope, sich nun also darüber klarzuwerden, wie sie ihr weiteres Leben leben möchte. Als brave Ehefrau eines langweiligen und ungeliebten Mannes? Oder als ewige Affäre des verheirateten Davids, der ihretwegen ganz sicher nicht seine Familie aufgeben würde?

They were sensible people. No one was to be hurt. She prided herself on giving nothing away, so that he never knew of her empty Sundays, the long eventless evenings, the holidays cancelled at the last minute. (S. 61)

Äußerlich passiert nicht viel in diesen 184 Seiten, doch es macht durchaus Freude, den tapferen und auch manchmal verwirrten Bemühungen Ediths zu folgen, ihr kurzzeitiges Hotelexil zu gestalten, ihre vor allem weiblichen Mitgäste zu entschlüsseln und sich einen Reim auf den zynischen Mr Neville zu machen.

Der Traurigkeit und Einsamkeit muss dabei immer wieder Paroli geboten werden, weil es sonst einfach nicht zum Aushalten wäre.

And, sitting in the deserted salon, the first to arrive from the dining room, the felt her precarious dignity hard-pressed and about to succumb in the light of her earlier sadness. The pianist, sitting down to play, gave her a brief nod. She nodded back, and thought how limited her means of expression had become: nodding to the pianist or to Mme Bonneuil, listening to Mrs Pusey, using a disguised voice in the novel she was writing, and with all of this, waiting for a voice that remained silent, hearing very little that meant anything to her at all. The dread implications of this condition made her blink her eyes and vow to be brave, to do better, not to give way. But it was not easy. (S. 62)

Der ironische Blick bewahrt dabei das Buch vor dem Abkippen ins gar zu Melancholische. Doch der Blick der Erzählerin auf die Beschädigungen aufgrund der Geschlechterrollen, die hier vor allem die Frauen davontragen, ist zutiefst pessimistisch. Die Spielregeln werden von den Männern bestimmt. Und fast immer spielen die Frauen mit.

Elizabeth Taylor: Mrs Palfrey at the Claremont (1971)

Anlässlich der Übersetzung ins Deutsche noch einmal ein Blick zurück auf einen sprachlich besonders feinen Roman.  Mrs Palefrey at the Claremont (1971) stellt sich unerschrocken, kühl, manchmal ironisch und immer unsentimental den Themen Alter und Einsamkeit. Sehr gern gelesen. Das Buch zwickt und zwackt auch dann noch, wenn man es längst ausgelesen hat. Es beginnt mit den Sätzen:

Mrs Palefrey first came to the Claremont Hotel on a Sunday afternoon in January. Rain had closed in over London, and her taxi sloshed along the almost deserted Cromwell Road, past one cavernous porch after another, the driver going slowly and poking his head out into the wet, for the hotel was not known to him. This discovery, that he did not know, had a little disconcerted Mrs Palefrey, for she did not know it either, and began to wonder what she was coming to. She tried to banish terror from her heart. She was alarmed at the threat of her own depression.

Dieses Buch ist der elfte und damit letzte Roman der britischen Autorin Elizabeth Taylor (1912 – 1975), der noch zu ihren Lebzeiten veröffentlicht wurde. Taylor wurde zwar schon immer von ihren SchriftstellerkollegInnen geschätzt, doch von der Öffentlichkeit erst in den letzten Jahren wirklich entdeckt. Robert McCrum nahm den Roman Mrs Palefrey at the Claremont sogar in seine Liste der 100 besten englischsprachigen Romane auf, die 2015 im Guardian veröffentlicht wurde und – wie immer bei solchen Listen – zu munteren Diskussionen und alternativen Vorschlägen führte.

Im Februar 2021 erschien unter dem Titel Mrs Taylor im Claremont im Dörlemann Verlag die Übersetzung von Bettina Abarbanell. Endlich – kann man da nur sagen; das war längst überfällig. Doch zurück zum Inhalt.

Da Mrs Palefrey, Witwe eines kolonialen Verwaltungsbeamten, nicht mehr besonders gut zu Fuß ist, überlegt sie, ob es nicht vernünftiger wäre, ihr Haus Rottingdean aufzugeben, in dem sie mit ihrem Mann Arthur nach dessen Pensionierung mehrere glückliche Jahre verbracht hat.

Und so beschließt sie, für ihre letzte Lebensetappe, die sie noch bei halbwegs guter Gesundheit verbringen kann, ein Hotel zu ihrem Wohnsitz zu machen. Ihre Wahl fällt auf das Londoner Claremont Hotel, das mit verbilligten Wintertarifen wirbt. Ein Wechsel, der verständlicherweise schmerzhaft ist.

She thought of Rottingdean, imagined it, with the leaves coming down – or down already – on the lawns, and this softness in the air; but at the very idea of ever going back there, her heart heeled over in pain. (S. 189)

Doch mit einer „stiff upper lip“-Haltung versucht sie vom ersten Tag an, ihre Traurigkeit über die neue Situation unter Kontrolle zu halten, was ihr nicht immer so recht gelingt, zumal die Beziehung zu ihrer in Schottland lebenden Tochter recht kühl und nichtssagend ist und ihr Enkel es kaum für nötig erachtet, sie überhaupt einmal im Hotel zu besuchen, obwohl er ebenfalls in London lebt.

The silence was strange – a Sunday-afternoon silence and strangeness; and for the moment her heart lurched, staggered in appalled despair, as it had done once before when she had suddenly realised, or suddenly could no longer not realise that her husband at death’s door was surely going through it. Against all hope, in the face of all her prayers. (S. 4)

Wir lernen auch die anderen Dauergäste kennen, einsame alte Menschen, nach Kontakten und Neuigkeiten dürstend, nahezu vergessen von der Welt, abhängig von den Launen der Verwandtschaft, die ab und an zur Gewissensberuhigung ihre Pflichtbesuche absolviert.

So kämpfen alle einen Kampf gegen die Verengung des eigenen Handlungsspielraums und gegen die Langeweile, in der sogar das Studieren des eintönigen Speiseplans eine willkommene Abwechslung darstellt.

… Mrs Palefrey considered the day ahead. The morning was to be filled in quite nicely; but the afternoon and evening made a long stretch. I must not wish my life away, she told herself; but she knew that, as she got older, she looked at her watch more often, and that it was always earlier than she had thought it would be. When she was young, it had always been later.

I could go to the Victoria and Albert Museum, she thought – yet had a feeling that this would be somehow deferred until another day. (S. 8)

Ein weiterer Feind ist die drohende körperliche Hinfälligkeit, denn alle wissen, dass sie das Hotel verlassen müssen, sobald sie gebrechlich oder gar inkontinent werden. Schon das Überqueren der Straße kann dabei ein Angst auslösender Vorgang sein, weil da kein Arm ist, der einen stützen könnte.

Eines Tages stürzt Mrs Palefrey auf einem ihrer Spaziergänge und lernt so den jungen mittellosen Schriftsteller Ludo kennen. Da sie sich schämt, dass ihr eigener Enkelsohn sie noch nicht besucht hat, gibt sie Ludo den anderen Mitbewohnern kurzerhand als ihren Enkel Desmond aus. Ludo spielt das Spiel in einer Mischung aus Langeweile und Mitleid mit, zumal er immer wieder Zitate und Situationen aus dieser Bekanntschaft als Material für sein Romanprojekt verwenden möchte.

Für Mrs Palefrey ist Ludo allerdings unwahrscheinlich wichtig, da er außerhalb der Hotelwelt der einzige ist, mit dem sie ab und an Kontakt hat.

Sprachlich superb. Als Ludo ihr ein Küsschen auf die Wange gibt, heißt es:

At the same time, he registered the strange, tired petal-softness of her skin, stored that away for future usefulness. And the old smell, which was too complex to describe yet. (S. 35)

Falls meine Notizen zum Inhalt ein bisschen dröge wirken, täuscht das, denn auch wenn der Roman natürlich kein Action-Thriller ist, lebt das Buch von einer inneren Spannung. Es ist fast unmöglich, sich der Einsamkeit des Alters, die hier ganz kühl und scheinbar beiläufig seziert wird, zu entziehen.

When she was young, she had had an image of herself to present to her new husband, whom she admired; then to herself, thirdly to the natives (I am an Englishwoman). Now, no one reflected the image of herself, and it seemed diminished … (S. 3)

Symptomatisch ist, dass nur an einer Stelle der Vorname der Hauptfigur genannt wird. Es gibt einfach niemanden mehr, der so vertraut mit Mrs. Palefrey ist, dass er sie mit ihrem Vornamen anreden könnte.

Und die Mitbewohner, mit denen Mrs Palefrey nun ihre Tage verbringt, werden ja nicht deshalb zu Freunden, nur weil man ihnen dauernd nahe ist. Im Gegenteil, spitze Bemerkungen werden ausgetauscht, Denkweisen und Temperamente, die früher nicht kompatibel gewesen wären, sind es auch jetzt nicht.

Manche kommen besser mit der Situation zurecht – dabei ist es hilfreich, wenn man geistig eher schlicht gestrickt ist -, andere schlechter. Der eine sieht einen Ausweg in der Illusion einer späten Ehe, der andere im Trinken. Die dritte in einer unablässigen Neugier.

Der ganze Handlungsstrang um Ludo, der ebenfalls einsam ist, hat mich persönlich weniger angesprochen. Viel interessanter fand ich die kühlen und genauen Beobachtungen, mit denen uns der Erzähler Mrs Palefrey nahebringt.

Although she felt too old to do so, she knew that she must soldier on, as Arthur might have put it, with this new life of her own. She would never again have anyone to turn to for help, to take her arm crossing a road, to comfort her; to listen to any news of hers, good or bad. She was helplessly exposed – to the idiosyncrasies of other old people, the winter coming on, her aches and pains and loneliness … (S. 189)

Aber wir sehen auch ihre Sehnsucht nach Gesehenwerden und ihre Herzlichkeit, mit der sie Ludo beschenkt. Ihr so menschlicher Wunsch nach Zuwendung. Manchmal finde ich ihre Fähigkeit zur Selbstreflektion und ihre – seltenen – Anflüge von Heiterkeit, in denen sie sich völlig unsentimental Rechenschaft über ihre Situation gibt, geradezu altersweise.

Als sie überlegt, dass sie – als ihr Mann noch lebte – das Glück ihrer langen Ehe als selbstverständlich ansah, ohne damals überhaupt verstanden zu haben, dass sie glücklich war, heißt es am Ende:

People are sorry for brides who lose their husbands early, from some accident, or war. And they should be sorry, Mrs Palefrey thought. But the other thing is worse. (S. 64)

Und am Ende habe ich auch verstanden, warum sie dann tatsächlich nie das Victoria and Albert Museum besucht hat.

Wer sich nun fragt, wer Elizabeth Taylor war und ob man noch mehr von ihr lesen sollte, der möge hier weiterlesen.

Ilja Leonard Pfeijffer: Grand Hotel Europa (OA 2018)

Ein Roman von über 500 Seiten von einem Schriftstellers, der mal wieder zeigt, dass aus den Niederlanden faszinierende, freche und unbekümmert kluge Bücher kommen. Ins Deutsche übersetzt wurde das Werk des renommierten Dichters und Autors (*1968) von Ira Wilhelm.

Im Spiegelkabinett zwischen Realität und Fiktion erzählt hier ein Schriftsteller namens Ilja Leonard Pfeijffer in der Ich-Form, wie er sich nach großem Liebeskummer in das altehrwürdige und ein wenig aus der Zeit gefallene Grand Hotel Europa einmietet, das gerade von einem chinesischen Investor übernommen wurde und dementsprechend langsam umgemodelt wird, um mehr Gäste aus China anzulocken. In dieser Abgeschiedenheit will er schreibenderweise verstehen, was ihn in seine jetzige Lage gebracht hat. Der Kummer gilt der Dame seines Herzens, einer betörend schönen italienischen Kunsthistorikerin, die er in Genua, wo er schon seit Jahren lebt, kennengelernt hat.

Ich musste alles präzise aufschreiben, obwohl mir klar war, dass der Drang, es zu erzählen, um es mit Aeneas‘ Worten an Dido zu sagen, den Verdruss wieder auffrischen würde. Es gibt kein Ziel ohne Klarheit darüber, von wo man aufgebrochen ist, und keine Zukunft ohne eine deutbare Version der Vergangenheit. Ich kann besser nachdenken, wenn ich dabei ein Schreibwerkzeug in Händen halte. Tinte klärt. Nur durch das Schreiben bringe ich meine Gedanken unter Kontrolle. Das war meine Aufgabe. Deshalb war ich hier.  Aufschieben war zwecklos. (S. 15)

Und so flanieren wir mit dem kunstbewanderten (und chauvinistischen) Erzähler und seiner Partnerin in der Vergangenheit durch Genua und Venedig, Orte, die wunderbare und geschichtssatte Bühnen für ihre temperamentvolle Liebesgeschichte bieten.

Wir lernen aber auch die anderen Hotelgäste kennen, z. B. die Amerikanerin Jessica, die „ein langes schwarzes Kleid in den Dimensionen einer Schutzhaube für einen mittelgroßen Lieferwagen“ trug, sowie ihren Mann, der sich für das „Schlichte entschieden“ hatte:

breite braun-beige Krawatte zu grau-blau kariertem Hemd und farblich passendem braun-grün kariertem Jackett mit sportlichen Wildlederapplikationen an den Ellbogen. Er sah aus wie ein Jagdaufseher bei einem Benefizabend zur Bewahrung der Biberbaue. (S. 279]

Dazu kommen noch der Majordomus des Hotels, Herr Montebello, und der Page Abdul, ein geflüchteter junger Mann, der nichts lieber täte, als seine Vergangenheit zu vergessen. Während der Schriftsteller die ein oder andere Zigarette mit Abdul raucht, entlockt er ihm dabei dann doch nach und nach seine Geschichte, die wiederum einige Überraschungen birgt.

Obwohl ich hierhergekommen war, um in meiner eigenen jüngeren Vergangenheit Ordnung zu schaffen, indem ich auf dem Papier rekonstruierte, welche Kette von Ereignissen dazu führte, dass ich mir diese Aufgabe auferlegte, und obwohl ich mich gerade deshalb für das Grand Hotel Europa als Aufenthaltsort entschieden hatte, weil ich kaum erwartete, dass hier etwas geschähe, was mich von der gewissenhaften Erledigung meiner Aufgabe ablenken könnte, beeindruckte mich die Geschichte von Abduls jüngerer Vergangenheit so sehr, dass ich mich dazu verpflichtet fühlte, sie aufzuschreiben. Ich konnte nur mit großer Mühe den Gedanken verdrängen, dass meine Geschichte verglichen mit seiner eitel und nichtig war. Meine einzige Entschuldigung dafür, so viel Zeit und Energie auf die Wiederaufführung eines Luxusdramas zu verwenden […], bestand darin, dass es sich bei dem Luxusdrama nun mal um meine Geschichte handelte und dass sie mich aus diesem Grund stark berührte. Doch Abduls Geschichte werde ich ebenfalls erzählen. Alle Schriftsteller Europas sollten die Geschichten aller Abduls erzählen. (S. 75/76)

Darüber hinaus geht es um die letzten Gemälde des Malers Caravaggio, das Schicksal von ertrunkenen Schiffsflüchtlingen und eine seltsame Crew aus Holland, die überlegt hatte, mit dem berühmten Schriftsteller einen Film über die verschiedenen Spielarten des Tourismus zu drehen. 

In all diese Handlungsfäden sind verschiedene Themenkomplexe verwoben, zu denen sich der Erzähler so seine Gedanken macht. Auch in den diversen Dialogen spielen diese Aspekte immer wieder eine wichtige Rolle. Sei es der überall in Europa erstarkende Rechtspopulismus, die Notwendigkeit, uns Geschichten zu erzählen, oder die Überlegungen dazu, was Europa eigentlich ausmacht. Hat das ideale Europa der Kunst, der Kultur, der Philosophie überhaupt noch eine Zukunft oder wird es allmählich zum künstlichen und letztlich austauschbaren Spielgarten asiatischer und arabischer Konsumgelüste? Stichworte wie die Verramschung von Venedig und Amsterdam, die an ihrer eigenen Schönheit und den dadurch angelockten Massen zu ersticken drohen, die Immobilienhaie oder die megalomanen Pläne einer Außenstelle des Louvre in den Arabischen Emiraten sind nur einige der weiteren Aspekte.

Eng damit verbunden sind die Fragen nach den Ursprüngen des Reisen und was genau der moderne Tourist eigentlich sucht und selten findet. Der Tourist ist für den Erzähler eine höchst ärgerliche Herdenfigur der Globalisierung, grundsätzlich miserabel gekleidet, respektlos, infantil und gierig; kurzum ein Mensch, der eigentlich nichts anderes tut, als zum Absaufen von Venedig und dem Verlust von Authenzität beizutragen, von der Kunst, die er sich anschaut, keine Ahnung zu haben, und den Einheimischen saumselig im Weg zu stehen.

Man sieht sich die Mona Lisa in echt an, weil man die Erfahrung machen will, die Mona Lisa in echt gesehen zu haben. Walter Benjamin nennt das die Aura des Kunstwerks. Nicht das Kunstwerk selbst ist der Sinn und Zweck seiner Betrachtung, sondern die Erfahrung von dessen Nähe, am besten besiegelt mit einem Foto oder einem Selfie. Der Besuch der Mona Lisa im Louvre führt zu keinen tieferen Einsichten, zu keinem ästhetischen Genuss oder Vergnügen, auch gerührt ist man nicht durch den Anblick, sondern man ärgert sich nur über die anderen Touristen. […] Wir wollen uns das berühmte Kunstwerk für einen Moment durch unsere Anwesenheit aneignen. Das ist der einzige Zweck  hinter dem Besuch. Dann machen wir auf unserer Liste ein Häkchen. Wir können sagen, wir haben die Mona Lisa gesehen. (S. 108)

Und wenn Europa so sehr an der angeblich idealen Vergangenheit klebe und keine Vision einer Zukunft entwickele, könne es auch nicht angemessen auf die Ankunft von Flüchtlingen reagieren, die vor allem an der Zukunft interessiert sind. Dabei stellten gerade sie eine Chance für den alten und müden Kontinent dar.

Es ist großes Kino, wie leicht Pfeijffer diese verschiedenen Stränge miteinander verknüpft. Die Figuren sind in aller Überzeichnung so lebensecht, die Beschreibungen und Dialoge so bissig auf den Punkt gebracht, dass ich mich mit Freude – jedenfalls fast immer – durch die Seiten gepflügt habe.

Eine Erzählstimme, die mal missmutig, snobistisch, gelehrt, melancholisch, dann wieder polemisch, zynisch, boshaft, dozierend, selbstironisch, urkomisch und auch ein bisschen arrogant und größenwahnsinnig ist.

Vor allem aber wird man danach die Austauschbarkeit der meisten Hotelzimmer und die immergleichen Plastik-Souvenirshops kaum noch ertragen, niemals Backwaren mit Nutella in Amsterdam kaufen und vermutlich nie wieder so auf Reisen gehen wie zuvor.

Und man wird eine Ahnung, eine Idee von Europa bekommen, die erstrebenswert, wunderschön, idealistisch-verklärt und gleichzeitig utopisch ist und für die es doch, wenn man dem Ich-Erzähler glaubt, vielleicht schon zu spät ist.

IMG_2380

Eugene Dabit: Hôtel du Nord (1929)

Ein trübes Licht hing zwischen den verschlissenen Vorhängen, die ausgeblichene Blümchentapete ließ die Wände trostlos wirken, das Bett stand eingezwängt zwischen einem hellen Holzschrank und dem Waschtisch, in der Ecke lag neben dem Toiletteneimer ein Paar alter Schuhe. Die Enge, die Ärmlichkeit, der Geruch dieses Ortes, das alles sorgte für Unbehagen.

So also sehen die Zimmer aus im Hôtel du Nord, dem Schauplatz des Romans Hôtel du Nord (1929) von Eugène Dabit. Zwei Jahre später erhielt der Autor dafür den 1929 geschaffenen französischen Literaturpreis Prix du roman populiste, der Werke auszeichnen sollte, die einfache Menschen als handelnde Personen in den Mittelpunkt stellen.

Die Neuübersetzung ins Deutsche stammt von Julia Schoch (2015) und erschien bei Schöffling & Co. Doch nun zum Inhalt.

Emile Lecourvreur und seine Frau, die Arbeiterin Louise, kaufen mit Geld, das sie von Louises Bruder geliehen haben, ein schäbiges Hotel an einem Kanal in Paris.

Nebeneinander, vereint, schreiten sie in eine Welt voller Hoffnungen. Ihre Augen leuchten. Wie schön es doch ist, einen Abend wie diesen zu erleben, zu der Stunde, da die Straßenlaternen angehen, die Lichterketten und Reklameschilder, die schillernden Auslagen. Die alten Nöte sind vergessen … Louise sieht sich bereits beim Schlussverkauf […] in den Stofffluten wühlen. (S. 17)

Dabit breitet in locker miteinander verwobenen Episoden, in denen jeweils andere Gäste im Mittelpunkt stehen, ein Milieu- und Sittenbild aus, das nichts mit dem Paris der prächtigen Boulevards und großen Museen zu tun hat.

Denn in diesem Hotel mit den 40 Zimmern steigen keine Touristen ab, sondern gewöhnliche Menschen leben dort, manchmal wenige Tage, öfter jedoch Monate oder Jahre, denn Wohnungen können sich die Arbeiter, Näherinnen, Wäscherinnen, arme Ehepaare oder auch Liebespaare von ihrem kärglichen Lohn nicht leisten. Auch die trinkfesten Rollkutscher des benachbarten Fuhrunternehmens gehören zu den Stammgästen. (Rollkutschen waren einfache Pferdefuhrwerke, die dem Transport von Waren dienten).

Für die neuen Besitzer bedeutet das Hotel – neben der finanziellen Absicherung – vor allem eines: Arbeit. Louise kümmert sich – von einem Dienstmädchen unterstützt – um die Zimmer, die sie nach und nach verschönert, während Emile in der Bar des Hotels arbeitet und zusätzlich seinen Dienst als Nachtportier versieht. Louise ist dabei diejenige, die ohne viel Aufhebens ihr Möglichstes versucht, damit das Hotel ein Ort der Menschlichkeit ist und dabei nicht zum Stundenhotel verkommt. Sie besucht kranke Mieter im Krankenhaus und wirft auch das Dienstmädchen nicht raus, obwohl es ein Kind erwartet.

Doch letztlich ändert Louises Freundlichkeit nichts am Lauf der Dinge. Der kranke Mieter stirbt und die Mädchen vom Land bleiben naiv und fallen auf den erstbesten Schürzenjäger herein, werden schwanger, die Väter verschwinden, das Kind muss zu einer Amme aufs Land gegeben werden. Die alleinstehenden Frauen sind einsam; die Gefahr, vergewaltigt zu werden oder käuflich zu werden, ist allgegenwärtig.

Die Männer langweilen sich, trinken viel, arbeiten hart, doch eine Perspektive auf Veränderung hat kaum jemand von ihnen.

Das liest sich süffig und ist zunächst ein interessanter Einblick in eine andere Welt. Dabit schreibt ganz ohne erhobenen Zeigefinger, ohne Pathos und ohne Mitleid. Ein Stück weit können wir nachvollziehen, warum Menschen in solch auch geistig beengten, harten und schmutzigen Verhältnissen grob werden und Träume von einer schöneren Zukunft wie Seifenblasen platzen.

Schlecht rasiert, kaum gewaschen, haben ihre starren Gesichter die Farbe des Morgengrauens. Die Müdigkeit lässt ihre Stimme belegt klingen, und ihre Lider flattern. Mit Flüchen, mit einem lauten ‚Scheißarbeit‘ reißen sie sich aus ihren Träumen. Manchmal lassen sie sich auf einen Stuhl fallen, strecken sich durch; ihr eintöniges Dasein drückt sie nieder. […] Mechanische Existenzen, unwiderruflich an Aufgaben ohne Größe gekettet. (S. 41/42)

Die Abstumpfung der Menschen wird fast schon fatalistisch konstatiert, aber weder beklagt noch psychologisiert. Ein Ehemann brüstet sich damit, seine Frau „ordentlich verdroschen“ zu haben:

Wird ihr eine Lehre sein. Mir jeden Abend Wurst vorzusetzen! (S. 116)

Allerdings blicken wir nur oberflächlich in die einzelnen Leben hinein. Und auch wenn die Protagonisten selbst sich vielleicht auch nicht mit mehr Tiefe betrachten (können) oder ihnen dafür die Sprache fehlt, irgendwann rauschten die grobkörnig erzählten Geschichten und Episoden an mir vorbei.

Wirklich Anteil genommen habe ich nicht. Das spricht aber vielleicht gar nicht gegen die Qualität des Romans, sondern zeigt, dass es dem Autor gelungen ist, die Worte von Jean Guéhenno umzusetzen, die er seinem Werk vorangestellt hat:

Keiner von uns, der besonders wäre, unverwechselbar. An uns ist nichts, das die Blicke auf sich zieht, die Aufmerksamkeit und Liebe weckt. Nicht einmal originell sind wir. Wir sind weder liebenswert noch rührend. Jeder von uns gäbe einen schlechten Romanhelden ab. Er ist unbedeutend, und unbedeutend ist sein Leben. Es entrinnt niemals dem Prinzip ‚gewöhnliches Elend‘.

Anmerkungen

1923 kauften die Eltern des Schriftstellers das Hôtel du Nord. Eugène hat dort so manche Schicht als Nachtwächter gearbeitet. Das Gebäude gibt es übrigens immer noch.

Das Schicksal wollte es, dass ich lange Zeit im Hôtel du Nord lebte und arbeitete. Hier habe ich die Figuren meines Romans ankommen und wieder fortgehen sehen, ohne ihnen später je wieder zu begegnen. Nichts ist erschütternder und trostloser als ihr Dasein, ein Leben ohne Poesie, ohne Aufbegehren, auch ohne Traum… Nichts von ihnen ist geblieben. Ein Name? Nur selten. So kam mir der Wunsch, sie wieder lebendig werden zu lassen, sie zu verstehen, zu lieben. (aus dem Nachwort von Julia Schoch, S. 211)

Das Buch wurde 1938 verfilmt.

Vicki Baum: Menschen im Hotel (1929)

Schon mit den ersten Sätzen des 10. und immer noch lesenswerten Romans Menschen im Hotel (1929) holt uns Vicki Baum aus unserer Zeit der Smartphones heraus und versetzt uns in das Berlin der zwanziger Jahre des letzten Jahrhundert. Genauer gesagt ins Grand Hotel, das vornehmste Hotel der Stadt.

Als der Portier aus der Telefonzelle 7 herauskam, war er ein wenig weiß um die Nase herum; er suchte seine Mütze, die er im Telefonzimmer auf die Heizung gelegt hatte. „Was war’s denn?“ fragte der Telefonist an seinem Schaltbrett, Hörer vor den Ohren und rote und grüne Stöpsel in den Fingern.

Georgi, der kleine Volontär, fasst am Ende des Romans die Handlung ganz zutreffend zusammen:

… kolossaler Betrieb. Immer ist was los. Einer wird verhaftet, einer geht tot, einer reist ab, einer kommt. Den einen tragen sie per Bahre über die Hintertreppe davon, und zugleich wird dem anderen ein Kind geboren. Hochinteressant eigentlich. Aber so ist das Leben – (S. 308)

Im Grand Hotel treffen Menschen aufeinander, deren Lebenswege sich für kurze Zeit kreuzen und die danach nicht mehr die sein werden, die sie vorher waren.

Im Zentrum der Handlung stehen zum einen die alternde Balletttänzerin Grusinkaya, die spürt, dass ihre besten Tage hinter ihr liegen, und die noch einmal der Liebe begegnet. Zum anderen trifft der Leser den charmanten, lebenslustigen Hochstapler Baron von Gaigern, der ganz und gar seinem Vergnügen lebt und nun nach den überstandenen Gefahren des Krieges nach Wegen sucht, wieder zu Geld zu kommen. Dabei kämen ihm die wertvollen Perlen der Grusinkaya gerade recht. Außerdem begegnen wir dem braven Familienvater Generaldirektor Preysing, der schwierige, ja eigentlich ausweglose Geschäftsverhandlungen zu führen hat und dem in Berlin seine lang gepflegte Wohlanständigkeit abhanden kommt.

Von Kriegstraumata gezeichnet ist hingegen Doktor Otternschlag, der verzweifelt darauf hofft, dass irgendetwas passiert, das ihn aus seiner Lethargie und Einsamkeit erlösen könnte.

Er hatte einmal eine kleine persische Katze besessen, Gurbä mit Namen; seit die mit einem gewöhnlichen Dachkater davongegangen war, sah er sich darauf angewiesen, seine Dialoge mit sich selber zu erledigen. (S. 15)

Otternschlag ist auch derjenige, der seine hoffnungslose Sicht auf die Welt dem Hilfsbuchhalter Kringelein erklärt:

Gott weiß, was für Wunder Sie erwarten von so einem Hotel. Sie werden schon merken, was los ist. Das ganze Hotel ist ein dummes Kaff. Genau so geht’s mit dem ganzen Leben. Das ganze Leben ist ein dummes Kaff, Herr Kringelein. Man kommt an, man bleibt ein bisschen, man reist ab, Passanten, verstehense. Zu kurzem Aufenthalt, wissense. Was tun Sie im großen Hotel? Essen, schlafen, herumlungern, Geschäfte machen, ein bißchen flirten, ein bißchen tanzen, wie? Na, und was tun Sie im Leben? Hundert Türen auf einem Gang, und keiner weiß was von dem Menschen, der nebenan wohnt. Wennse abreisen, kommt ein andrer an und legt sich in Ihr Bett. Schluß. (S. 52/52)

Am interessantesten fand ich jedoch Kringelein – aus Preysings Fabrik -, der kurz zuvor erfahren hat, dass er unheilbar krank ist.

Kringelein hatte von Geburt an das normale Leben des Kleinbürgers geführt, das etwas verdrossene, aufschwunglose und verzettelte Leben des kleinen Beamten in der kleinen Stadt. Er hatte früh und ohne starken Antrieb geheiratet, ein Fräulein Anna Sauerkatz, Tochter des Kolonialwarenhändlers Sauerkatz, eine Person, die ihm von der Verlobung  bis zur Hochzeit sehr hübsch vorkam, aber kurz nach der Heirat häßlich wurde, unfreundlich, geizig und voll kleinlich-wichtiger Schwierigkeiten. (S. 26)

In einem Brief schwindelt er seiner Frau vor, noch einige Arzttermine vor sich zu haben, bevor er in ein Erholungsheim geschickt werde. Doch in Wahrheit hat er sein Erspartes und eine kleine Erbschaft an sich genommen und will nun im Grand Hotel herausfinden, wie sich Leben eigentlich anfühlt. Doch zu Beginn bekommt er erst einmal seine gesellschaftliche Randstellung zu spüren. Im Hotel wird er zunächst in einem der schlechtesten Zimmer untergebracht, der erste Abend war „mit Verlegenheiten durch Trinkgelder, falsche Ausgänge, mit verwirrten Fragen und kleinen Peinlichkeiten aller Art“ (S. 46) gefüllt.

Doch er gewinnt Baron von Gaigern als – keineswegs uneigennützigen – Mentor. Mit seiner Hilfe kleidet er sich bei einem teuren Herrenausstatter ein und erlebt zum ersten Mal „das taumelnde Leichtwerden, das zum Geldausgeben gehört“ (S. 187).

Doch zeigt Baum dabei geradezu liebevoll, dass der Erwerb der hochwertigen und passenden Kleidung nicht nur einen Konsumrausch darstellt, sondern Kringelein eben auch in die Lage versetzt, sich wie ein feiner Mann zu verhalten, alte Rollenmuster zu verlassen und sich selbst neu kennenzulernen. Er hat seinen großen Auftritt, als er seinem Chef gegenüber nicht mehr katzbuckelt, sondern ihm ins Gesicht sagt, was für ein hundsmiserabel mieser und gedankenloser Chef Preysing all die Jahrzehnte gewesen ist. Überhaupt spielt Geld eine entscheidende Rolle in vielen der geschilderten Episoden.

Gaigern lädt ihn zu einer Spritztour mit seinem Wagen ein – für Kringelein die erste Autofahrt überhaupt – und organisiert sogar einen Flug für ihn. Kringelein ist stolz, seine Ängste zu überwinden, und verlangt gierig nach immer neuen Eindrücken auf der Suche nach dem wahren Leben.

Indirekt verdankt Kringelein seinem Chef Preysing, dass er in der Person Flämmchens, einer lebenslustigen hübschen Frau, sogar die Schönheit findet:

Das gibt es, dachte er, das gibt es. So etwas Schönes gibt es wirklich. Es ist nicht gemalt wie ein Bild und nicht ausgedacht wie ein Buch und nicht so ein Schwindel wie auf dem Theater. Das gibt es, daß ein Mädchen nackt ist und so wunderbar schön, so ganz schön, so ganz – er suchte ein anderes Wort, fand aber keines. Ganz schön, konnte er nur denken, ganz schön. (S. 278)

Kringelein, der Todkranke, ist derjenige, der der Aufenthalt im Grand Hotel im Gegensatz zu den anderen nicht bereut:

Denn – lang oder kurz – es ist der Inhalt, der das Leben macht; und zwei Tage Fülle können länger sein als vierzig Jahre Leere: das ist die Weisheit, die Kringelein mitnimmt, […] (S. 303)

Baums bildhafte Sprache hat vielleicht gerade durch die Patina, die ihr die vergangenen 80 Jahre verliehen haben, ihren Reiz, auch wenn ihr Stil vielen als einfach und kunstlos galt, eben als der typische Stil einer erfolgreichen Unterhaltungsautorin.

Vom Neubau her hopste die Musik aus dem Tea-Room in Synkopen an den Wandspiegeln entlang. Der butterige Bratenduft der Diner-Zeit fächelte diskret daher, aber hinter den Türen des großen Speisesaales war es noch leer und still. (S. 7/8)

Nur Begriffe, die wir inzwischen zu Recht als rassistisch lesen, klingen uns heute unangenehm in den Ohren. Doch davon abgesehen, habe ich den Roman gern und mit Interesse gelesen.

Werner Fuld bescheinigt dem Werk in seinem Aufsatz „Die Drehtür als Schicksalsrad“ eine elegante Leichtigkeit und erläutert, dass die amerikanische Literaturkritik für diesen Roman den Begriff der „group novel“ geprägt habe.

Die Handlung war aus dem bisher obligaten Privatbereich der Wohnung in die ungeschützte Öffentlichkeit eines Hotels verlegt, in dem sich Menschen begegnen, die sich privat nie kennenlernen würden. Sie sind ihrer gewohnten Sphäre entledigt, sie brechen sogar mit ihrer Vergangenheit, um nur noch in einer veränderten Gegenwart zu leben, die jeder für sich, und sei es auf Kosten des anderen, nutzen will. (zitiert nach: Marcel Reich-Ranicki, Hrsg.: Romane von gestern – heute gelesen 1918 – 1933, Fischer 1989, S. 157)

Zwar wurde moniert, dass die Personen eher Typen statt Individuen wären, doch da jede für sich versucht, Antworten auf die Fragen nach dem Sinn im Leben zu stellen, fand ich sie erstaunlich wenig schablonenhaft.

Anmerkungen

Ein hübscher Artikel zu Vicki Baum erschien 1950 im Spiegel.

Eine begeisterte Besprechung findet sich auf dem englischsprachigen Blog Beauty is a sleeping cat. Auch Karthauses Bücherwelt hat den Roman gern gelesen.

Und hier gibt es die Besprechung auf Sätze&Schätze.

Doktor Otternschlag jedenfalls meint:

Gibt es das Leben überhaupt, wie Sie sich es vorstellen? Das Eigentliche geschieht immer woanders. Wenn man jung ist, denkt man: Später. Später denkt man: Früher war es das Leben. Wenn man hier ist, dann denkt man, es ist dort, in Indien, in Amerika, am Popokatepetl oder sonstwo. Aber wenn man dort ist, dann hat sich das Leben gerade weggeschlichen und wartet ganz still hier, hier, von wo man davongerannt ist. (S. 51)

Die Zitate wurden der sehr ansprechend gestalteten Ausgabe der Büchergilde Gutenberg entnommen.

Zur Autorin

Vicki Baum, eigentlich Hedwig Baum, wurde 1888 als Kind einer jüdischen Familie in Wien geboren. Sie arbeitete zunächst als Harfenistin und wurde zu einer der erfolgreichsten Schriftstellerinnen der Weimarer Republik.

1931 ging sie nach Amerika, da ihr bekanntester Roman Menschen im Hotel mit Greta Garbo verfilmt werden sollte. 1932 siedelte sie nach Kalifornien über, 1933 fielen auch ihre Werke der Bücherverbrennung zum Opfer. 1938 nahm sie die amerikanische Staatsbürgerschaft an und schrieb fortan nur noch in Englisch. 1960 starb sie in Hollywood.

Deborah Moggach: The Best Exotic Marigold Hotel (2004)

Muriel Donnelly, an old girl in her seventies, was left in a hospital cubicle for forty-eight hours. She had taken a tumble in Peckham High Street and was admitted with cuts, bruises and suspected concussion. Two days she lay in A & E, untended, the blood stiffening on her clothes. It made the headlines. TWO DAYS! screamed the tabloids.

So beginnt der doch sehr kitschbehaftete Roman These Foolish Things (2004) von Deborah Moggach, der später auch unter dem Titel der Verfilmung The Best Exotic Marigold Hotel wurde.

Eine Reihe britischer Pensionäre macht sich – aus den unterschiedlichsten Gründen – auf den Weg nach Indien, um dort in einem ehemaligen Hotel statt in heruntergewirtschafteten englischen Altersheimen ihren Lebensabend zu verbringen.

Muriel, die zwei Tage ohne Behandlung in einem Londoner Krankenhaus ausharren musste (weil sie sich weigerte, sich von einem „Darkie“ behandeln zu lassen), hofft, dort ihren Sohn zu finden, der wegen krimineller Machenschaften untergetaucht ist. Andere wiederum glauben, dass in Indien das Klima angenehmer und vor allem wärmer sei. Manch einem ist das England der Gegenwart auch fremd und bedrohlich geworden, während ein weiterer seinen Kindheitserinnerungen nachgehen möchte.

Und nicht zuletzt: Die Lebenshaltungskosten sind in Indien wesentlich günstiger als in Großbritannien, auch wenn man dann dafür in Kauf nehmen muss, dass die angebliche Krankenschwester eigentlich nur eine medizinische Fußpflegerin ist.

Letztendlich führt sie alle auch die Einsamkeit so weit weg von ihrem bisherigen Zuhause. Den erwachsenen Kindern will  man nicht zur Last fallen oder sie leben in der ganzen Welt verstreut, falls man überhaupt welche hat, doch die meisten der alten Herrschaften sind verwitwet oder geschieden, fühlen sich ungeliebt, nicht mehr gebraucht, ja unsichtbar.

Fazit

Das Buch stellt einem zwar die unbequeme Frage, wie man wohl selbst seinen Lebensabend verbringen wird. Doch für die meisten von uns wird die Antwort wahrscheinlich nicht so zuckersüß ausfallen.  Und dass sich viele Fragen lösen, neue Lieben entstehen und der vermisste Sohn dann ausgerechnet durch unglaubwürdige Handlungsverrenkungen just an Weihnachten vor der Tür steht, ist wirklich nur für hartgesottene Kitschfans zu ertragen.

Allerdings gibt es einige durchaus treffende Seitenhiebe auf die unerfreulichen Entwicklungen in der britischen Gesellschaft: Rassismus, fehlende Integration, Kriminalität, die Einsamkeit im Alter. Leider werden die indischen Protagonisten entweder als fremdartig, unverständlich oder als kindlich und alles Britische anhimmelnd gezeichnet.

Doch auch wenn die Charaktere blass bleiben, selbst die zaghafte Ironie ändert daran nichts – als Film ist das vielleicht eher zu ertragen, zumal sie erstklassige Schauspieler engagiert haben, so ein Gute-Laune-Film, bei dem es wahrscheinlich nicht schlimm ist, dass man sich nicht immer streng an der Handlung des Buches orientiert hat.

Übrigens hat die Autorin ganz ernsthaft dafür plädiert, die Alten „outzusourcen“, z. B. nach Indien, da das einfach günstiger sei und wir schließlich alle so fürchterlich lange leben. Erste Projekte in diese Richtung gibt es inzwischen.