Schon mit den ersten Sätzen des 10. und immer noch lesenswerten Romans Menschen im Hotel (1929) holt uns Vicki Baum aus unserer Zeit der Smartphones heraus und versetzt uns in das Berlin der zwanziger Jahre des letzten Jahrhundert. Genauer gesagt ins Grand Hotel, das vornehmste Hotel der Stadt.
Als der Portier aus der Telefonzelle 7 herauskam, war er ein wenig weiß um die Nase herum; er suchte seine Mütze, die er im Telefonzimmer auf die Heizung gelegt hatte. „Was war’s denn?“ fragte der Telefonist an seinem Schaltbrett, Hörer vor den Ohren und rote und grüne Stöpsel in den Fingern.
Georgi, der kleine Volontär, fasst am Ende des Romans die Handlung ganz zutreffend zusammen:
… kolossaler Betrieb. Immer ist was los. Einer wird verhaftet, einer geht tot, einer reist ab, einer kommt. Den einen tragen sie per Bahre über die Hintertreppe davon, und zugleich wird dem anderen ein Kind geboren. Hochinteressant eigentlich. Aber so ist das Leben – (S. 308)
Im Grand Hotel treffen Menschen aufeinander, deren Lebenswege sich für kurze Zeit kreuzen und die danach nicht mehr die sein werden, die sie vorher waren.
Im Zentrum der Handlung stehen zum einen die alternde Balletttänzerin Grusinkaya, die spürt, dass ihre besten Tage hinter ihr liegen, und die noch einmal der Liebe begegnet. Zum anderen trifft der Leser den charmanten, lebenslustigen Hochstapler Baron von Gaigern, der ganz und gar seinem Vergnügen lebt und nun nach den überstandenen Gefahren des Krieges nach Wegen sucht, wieder zu Geld zu kommen. Dabei kämen ihm die wertvollen Perlen der Grusinkaya gerade recht. Außerdem begegnen wir dem braven Familienvater Generaldirektor Preysing, der schwierige, ja eigentlich ausweglose Geschäftsverhandlungen zu führen hat und dem in Berlin seine lang gepflegte Wohlanständigkeit abhanden kommt.
Von Kriegstraumata gezeichnet ist hingegen Doktor Otternschlag, der verzweifelt darauf hofft, dass irgendetwas passiert, das ihn aus seiner Lethargie und Einsamkeit erlösen könnte.
Er hatte einmal eine kleine persische Katze besessen, Gurbä mit Namen; seit die mit einem gewöhnlichen Dachkater davongegangen war, sah er sich darauf angewiesen, seine Dialoge mit sich selber zu erledigen. (S. 15)
Otternschlag ist auch derjenige, der seine hoffnungslose Sicht auf die Welt dem Hilfsbuchhalter Kringelein erklärt:
Gott weiß, was für Wunder Sie erwarten von so einem Hotel. Sie werden schon merken, was los ist. Das ganze Hotel ist ein dummes Kaff. Genau so geht’s mit dem ganzen Leben. Das ganze Leben ist ein dummes Kaff, Herr Kringelein. Man kommt an, man bleibt ein bisschen, man reist ab, Passanten, verstehense. Zu kurzem Aufenthalt, wissense. Was tun Sie im großen Hotel? Essen, schlafen, herumlungern, Geschäfte machen, ein bißchen flirten, ein bißchen tanzen, wie? Na, und was tun Sie im Leben? Hundert Türen auf einem Gang, und keiner weiß was von dem Menschen, der nebenan wohnt. Wennse abreisen, kommt ein andrer an und legt sich in Ihr Bett. Schluß. (S. 52/52)
Am interessantesten fand ich jedoch Kringelein – aus Preysings Fabrik -, der kurz zuvor erfahren hat, dass er unheilbar krank ist.
Kringelein hatte von Geburt an das normale Leben des Kleinbürgers geführt, das etwas verdrossene, aufschwunglose und verzettelte Leben des kleinen Beamten in der kleinen Stadt. Er hatte früh und ohne starken Antrieb geheiratet, ein Fräulein Anna Sauerkatz, Tochter des Kolonialwarenhändlers Sauerkatz, eine Person, die ihm von der Verlobung bis zur Hochzeit sehr hübsch vorkam, aber kurz nach der Heirat häßlich wurde, unfreundlich, geizig und voll kleinlich-wichtiger Schwierigkeiten. (S. 26)
In einem Brief schwindelt er seiner Frau vor, noch einige Arzttermine vor sich zu haben, bevor er in ein Erholungsheim geschickt werde. Doch in Wahrheit hat er sein Erspartes und eine kleine Erbschaft an sich genommen und will nun im Grand Hotel herausfinden, wie sich Leben eigentlich anfühlt. Doch zu Beginn bekommt er erst einmal seine gesellschaftliche Randstellung zu spüren. Im Hotel wird er zunächst in einem der schlechtesten Zimmer untergebracht, der erste Abend war „mit Verlegenheiten durch Trinkgelder, falsche Ausgänge, mit verwirrten Fragen und kleinen Peinlichkeiten aller Art“ (S. 46) gefüllt.
Doch er gewinnt Baron von Gaigern als – keineswegs uneigennützigen – Mentor. Mit seiner Hilfe kleidet er sich bei einem teuren Herrenausstatter ein und erlebt zum ersten Mal „das taumelnde Leichtwerden, das zum Geldausgeben gehört“ (S. 187).
Doch zeigt Baum dabei geradezu liebevoll, dass der Erwerb der hochwertigen und passenden Kleidung nicht nur einen Konsumrausch darstellt, sondern Kringelein eben auch in die Lage versetzt, sich wie ein feiner Mann zu verhalten, alte Rollenmuster zu verlassen und sich selbst neu kennenzulernen. Er hat seinen großen Auftritt, als er seinem Chef gegenüber nicht mehr katzbuckelt, sondern ihm ins Gesicht sagt, was für ein hundsmiserabel mieser und gedankenloser Chef Preysing all die Jahrzehnte gewesen ist. Überhaupt spielt Geld eine entscheidende Rolle in vielen der geschilderten Episoden.
Gaigern lädt ihn zu einer Spritztour mit seinem Wagen ein – für Kringelein die erste Autofahrt überhaupt – und organisiert sogar einen Flug für ihn. Kringelein ist stolz, seine Ängste zu überwinden, und verlangt gierig nach immer neuen Eindrücken auf der Suche nach dem wahren Leben.
Indirekt verdankt Kringelein seinem Chef Preysing, dass er in der Person Flämmchens, einer lebenslustigen hübschen Frau, sogar die Schönheit findet:
Das gibt es, dachte er, das gibt es. So etwas Schönes gibt es wirklich. Es ist nicht gemalt wie ein Bild und nicht ausgedacht wie ein Buch und nicht so ein Schwindel wie auf dem Theater. Das gibt es, daß ein Mädchen nackt ist und so wunderbar schön, so ganz schön, so ganz – er suchte ein anderes Wort, fand aber keines. Ganz schön, konnte er nur denken, ganz schön. (S. 278)
Kringelein, der Todkranke, ist derjenige, der der Aufenthalt im Grand Hotel im Gegensatz zu den anderen nicht bereut:
Denn – lang oder kurz – es ist der Inhalt, der das Leben macht; und zwei Tage Fülle können länger sein als vierzig Jahre Leere: das ist die Weisheit, die Kringelein mitnimmt, […] (S. 303)
Baums bildhafte Sprache hat vielleicht gerade durch die Patina, die ihr die vergangenen 80 Jahre verliehen haben, ihren Reiz, auch wenn ihr Stil vielen als einfach und kunstlos galt, eben als der typische Stil einer erfolgreichen Unterhaltungsautorin.
Vom Neubau her hopste die Musik aus dem Tea-Room in Synkopen an den Wandspiegeln entlang. Der butterige Bratenduft der Diner-Zeit fächelte diskret daher, aber hinter den Türen des großen Speisesaales war es noch leer und still. (S. 7/8)
Nur Begriffe, die wir inzwischen zu Recht als rassistisch lesen, klingen uns heute unangenehm in den Ohren. Doch davon abgesehen, habe ich den Roman gern und mit Interesse gelesen.
Werner Fuld bescheinigt dem Werk in seinem Aufsatz „Die Drehtür als Schicksalsrad“ eine elegante Leichtigkeit und erläutert, dass die amerikanische Literaturkritik für diesen Roman den Begriff der „group novel“ geprägt habe.
Die Handlung war aus dem bisher obligaten Privatbereich der Wohnung in die ungeschützte Öffentlichkeit eines Hotels verlegt, in dem sich Menschen begegnen, die sich privat nie kennenlernen würden. Sie sind ihrer gewohnten Sphäre entledigt, sie brechen sogar mit ihrer Vergangenheit, um nur noch in einer veränderten Gegenwart zu leben, die jeder für sich, und sei es auf Kosten des anderen, nutzen will. (zitiert nach: Marcel Reich-Ranicki, Hrsg.: Romane von gestern – heute gelesen 1918 – 1933, Fischer 1989, S. 157)
Zwar wurde moniert, dass die Personen eher Typen statt Individuen wären, doch da jede für sich versucht, Antworten auf die Fragen nach dem Sinn im Leben zu stellen, fand ich sie erstaunlich wenig schablonenhaft.
Anmerkungen
Ein hübscher Artikel zu Vicki Baum erschien 1950 im Spiegel.
Eine begeisterte Besprechung findet sich auf dem englischsprachigen Blog Beauty is a sleeping cat. Auch Karthauses Bücherwelt hat den Roman gern gelesen.
Und hier gibt es die Besprechung auf Sätze&Schätze.
Doktor Otternschlag jedenfalls meint:
Gibt es das Leben überhaupt, wie Sie sich es vorstellen? Das Eigentliche geschieht immer woanders. Wenn man jung ist, denkt man: Später. Später denkt man: Früher war es das Leben. Wenn man hier ist, dann denkt man, es ist dort, in Indien, in Amerika, am Popokatepetl oder sonstwo. Aber wenn man dort ist, dann hat sich das Leben gerade weggeschlichen und wartet ganz still hier, hier, von wo man davongerannt ist. (S. 51)
Die Zitate wurden der sehr ansprechend gestalteten Ausgabe der Büchergilde Gutenberg entnommen.
Zur Autorin
Vicki Baum, eigentlich Hedwig Baum, wurde 1888 als Kind einer jüdischen Familie in Wien geboren. Sie arbeitete zunächst als Harfenistin und wurde zu einer der erfolgreichsten Schriftstellerinnen der Weimarer Republik.
1931 ging sie nach Amerika, da ihr bekanntester Roman Menschen im Hotel mit Greta Garbo verfilmt werden sollte. 1932 siedelte sie nach Kalifornien über, 1933 fielen auch ihre Werke der Bücherverbrennung zum Opfer. 1938 nahm sie die amerikanische Staatsbürgerschaft an und schrieb fortan nur noch in Englisch. 1960 starb sie in Hollywood.