Margaret Humphreys: Oranges and Sunshine (1994)

The truth which makes men free is, for the most part, the truth which men prefer not to hear. (Herbert Agar, S. 200)

Anlässlich Peggys Artikel Von Strafkolonien und Völkermord auf ihrem Blog Entdecke England möchte ich noch einmal eine eindrückliche Geschichtsstunde von Margaret Humphreys aus dem Jahr 1994 aus meinem Archiv holen.

So fing alles an

Margaret Humphreys, 1944 in Nottingham geboren, arbeitete als Sozialarbeiterin und war zuständig für Familien, die damit überfordert waren, sich selbst um ihre Kinder zu kümmern.

1975 sorgte eine Gesetzesänderung dafür, dass erwachsene Adoptivkinder Zugang zu ihren Geburtsurkunden bekommen konnten. Daraufhin gründete Humphreys 1984 eine Selbsthilfegruppe, damit diese Erwachsenen sich über die Probleme, Ängste und Identitätsfragen austauschen konnten, die durch die Suche nach den leiblichen Eltern ausgelöst wurden.

Eine Australierin, 1986 zufällig auf Besuch in Nottingham, erfährt von dieser Gruppe und berichtet ihrer Freundin Madeleine in Australien davon. Kurze Zeit später bittet Madeleine Margaret in einem Brief um Hilfe bei der Suche nach ihren leiblichen Eltern, denn Madeleine war als englisches Waisenkind mit vier Jahren nach Australien verschickt worden.

Margaret kann das nicht so ganz glauben, doch auch eine ihrer Klientinnen in der Selbsthilfegruppe behauptet, dass ihr Bruder als kleiner Junge nach Australien verschickt worden sei. Sie beginnt nachzuforschen und bringt für sich und andere eine Lawine ins Rollen, die die LeserInnen nun beeindruckt und entsetzt über die nächsten sieben Jahre mitverfolgen.

So geht es weiter

Humphreys schildert, wie sie, zunächst selbst völlig arg- und ahnungslos, mit Unterstützung ihres Mannes immer mehr Details über das sogenannte „child migration scheme“ in Erfahrung bringt: Die britische Regierung hatte schon im frühen 17. Jahrhundert Kinder nach Virginia verschickt, um die Kolonialisierung voranzutreiben (siehe auch den Wikipedia-Artikel zu Home Children). Doch noch im 20. Jahrhundert erfreute sich die Idee, missliebige Kinder aus Kinderheimen, die dem Steuerzahler ja ohnehin nur auf der Tasche lagen, in Gebiete des ehemaligen Empire zu schicken, großer Beliebtheit.

Between 1900 and the Depression of the 1930s, children were primarily sent to Canada, but after the Second World War the charities and agencies began to concentrate on Australia and, to a much lesser extent, Rhodesia and New Zealand. (S. 79)

Margaret kann das Interesse des Observer gewinnen und hat so die Möglichkeit, die Journalistin Annabel Ferriman auf der ersten Recherchereise nach Australien zu begleiten. Da wissen sie bereits, dass vor und nach dem Zweiten Weltkrieg ganze Schiffsladungen mit Kindern aus England nach Australien gebracht wurden. Beteiligt waren u. a. folgende Organisationen: die Heilsarmee, National Children’s Home, Children’s Society, die Church of England, die Presbyterian Church, die Church of Scotland, die Fairbridge Society, Dr Barnardo’s und der ebenfalls katholische Orden der sogenannten Christian Brothers.

Die Kinder kamen dann in (vorwiegend katholische) Kinderheime in Australien und mussten dort z. T. Sklavenarbeit verrichten. Viele begingen Diebstähle, weil sie nicht genug zu essen bekamen. In den überwiegend von Männern geführten Institutionen gab es keine Liebe, keine Fürsorge. Bettnässer wurden bestraft und gedemütigt, die Bettdecken waren zu dünn, die Matratzen schmutzig. Vor allem bei den Christian Brothers gab es zahlreiche Fälle von grauenhafter sexueller Gewalt. Doch auch in den von Nonnen geführten Mädchenheimen haben sich einzelne Sadistinnen oder völlig von ihrer Aufgabe überforderte Frauen ausgetobt.

Einige der Zöglinge waren anschließend für ihr Leben gezeichnet und nie wieder in der Lage, irgendjemandem zu vertrauen. Es gab zwar Angebote aus der australischen Bevölkerung, Kinder zu adoptieren, doch das wurde von der katholischen Kirche normalerweise verweigert. Die Kinder mussten in den Institutionen bleiben, denn sie waren nicht nur billige Arbeitskräfte, sondern auch eine gute Einnahmequelle, da sich die britische und die australische Regierung die Kosten pro Kind bis zum 14. Lebensjahr teilten.

Humphreys zeigt, dass es eine in vielen Fällen geradezu aberwitzige Verdrehung der Tatsachen ist, wenn behauptet wurde, dass den Waisenkindern in Australien tolle Möglichkeiten geboten wurden, die sie in Großbritannien nie gehabt hätten.

Es kommt aber noch schlimmer: Selbst die Kinder, die in ihrer neuen Heimat erträgliche Bedingungen vorfanden, sind um einen wesentlichen Teil ihrer Identität betrogen worden. Humphreys findet heraus, dass es sich bei den angeblichen Waisenkindern gar nicht um Waisenkinder gehandelt hat. Nahezu alle haben oder hatten in Großbritannien Mütter, Geschwister oder Verwandte, die sie nun – Jahrzehnte später – mit der von Humphreys gegründeten Stiftung „Child Migrants Trust“ versuchen, ausfindig zu machen. Doch Kinder, denen man erzählt hatte, dass sie Vollwaisen seien, waren natürlich leichter beeinflussbar und eher bereit, ihre Vergangenheit hinter sich zu lassen, ohne unbequeme Fragen zu stellen.

Den Müttern, die, oft aus einer Notlage heraus, ihre Kinder ins Heim gegeben hatten, hat man, wenn sie ihre Kinder wieder zu sich nehmen wollten, erzählt, dass ihre Kinder tot seien. Eine andere Variante lautete, sie würden inzwischen bei liebevollen englischen Adoptiveltern aufwachsen oder sie seien halt inzwischen in Australien. Dies sogar dann, wenn Mütter ausdrücklich eine Adoption verweigert hatten, weil sie immer vorhatten, ihr Kind irgendwann zurückzuholen.

Humphreys geht dabei auch der Frage nach, wie es politisch und juristisch überhaupt möglich war, Kinder einfach in ein anderes Land abzuschieben. Großbritannien hat lange jegliche Verantwortung für diese Zwangsverschickung abgestritten, obwohl die Dokumente in den Archiven eine andere Sprache sprechen. Die historischen Quellen belegen außerdem, dass Australien ein enormes Interesse an britischen Kindern hatte, weil die der „richtigen“ Rasse angehörten, noch formbar waren, finanziell günstiger waren als erwachsene Einwanderer und als Verstärkung gegen eine befürchtete asiatische Invasion die Bevölkerungsdichte nach oben treiben sollten. 1945 beispielsweise rief der australische Premierminister eine entsprechende Konferenz ein, um für die massenhafte Einwanderung von Kindern zu werben. Er dachte an mindestens 50.000 Kinder.

Das weitere Schicksal der Kinder hing dann auch davon ab, in welches Land sie verschickt wurden. Diejenigen, die nach Neuseeland kamen, wurden zwar überwiegend in Pflegefamilien gebracht, doch denen ging es vorrangig um billige Arbeitskräfte auf den Farmen. Die Kinder, die nach Simbabwe – damals Rhodesien – verschickt wurden, haben ihre Kindheit meist in guter Erinnerung. Ihre Auswanderung war oft die Entscheidung der gesamten Familie, die – zu Recht – vermutete, dass dem Kind als Mitglied der weißen „Herrenrasse“ in Afrika Möglichkeiten offen stehen würden, die in Großbritannien völlig illusorisch gewesen wären. Einige der ehemaligen child migrants sehen das selbst heute noch völlig unkritisch und bedauern höchstens, dass der Einfluss der Weißen schwindet. Humphreys befragt z. B. einen wohlhabenden weißen Anwalt, der als Kind nach Simbabwe gekommen war, nach den Lebensbedingungen seines Kochs:

  • ‚He lives at the end of the garden.‘
  • ‚And is he married?‘
  • ‚Oh yes – and he’s got children.‘
  • ‚Does his wife live here?‘
  • ‚No, we let him go and see her once a year.‘ (S. 153)

Humphreys schildet aber nicht nur die Einzelheiten des lange totgeschwiegenen child migration scheme, sondern zeigt auch die politischen und kirchlichen Reaktionen auf die Enthüllungen.

Die offiziellen Reaktionen der katholischen Kirche waren alles andere als christlich: Die Kirche versuchte lange, sich als Opfer einer medialen Hetzkampagne zu inszenieren und selbst Jahrzehnte später nur eine Pseudo-Aufarbeitung durch eigene Ordensleute zuzulassen. Dr Barry Coldrey, selbst ein Angehöriger der Christian Brothers und von der katholischen Kirche beauftragt, den Anschuldigungen nachzugehen, entblödete sich nicht, noch in den achtziger Jahren des letzten Jahrhunderts den Kindern die Schuld an den sexuellen Übergriffen ihrer Priester zu geben.

Brother Gerald Faulkner verteidigte die in den fünfziger Jahren gängige Praxis, pädophile Priester einfach in ein anderes Jungenheim zu versetzen, da man es halt nicht besser gewusst habe.

People assumed that a new start in life at a new place would bring about a different sort of life. (S. 325)

Die ersten Forschungsarbeiten zu dem Thema gingen davon aus, dass ca. 20 % der Jungen in den Heimen der Christian Brothers missbraucht oder vergewaltigt wurden.

Auch die anderen Organisationen waren zunächst weder zu einer Aufarbeitung dieses Kapitels noch zu einer (finanziellen) Unterstützung des Child Migrants Trust bereit. Manche weigerten sich, Akteneinsicht zu gewähren.

Als der öffentliche Druck zu groß wurde, schickte z. B. die Fairbridge Society brisante Unterlagen den Betroffenen einfach per Post, die dann sehen konnten, wie sie damit zurechtkamen, auf einmal den Namen ihrer Mutter, ein anderes Geburtsdatum und vielleicht einen anderen Taufnamen schwarz auf weiß vor sich zu haben, obwohl sie bis dahin geglaubt hatten, Vollwaisen zu sein.

Als Leser ist man beschämt, wenn man von den Schwierigkeiten liest, genügend Geld für die Arbeit des Child Migrants Trust zusammenzubetteln, und man fragt sich, wer wohl hinter den Morddrohungen und dem nächtlichen Überfall in Australien gegen Margaret gesteckt hat, nach dem sie jahrelang Schlafprobleme hatte.

Fazit

Ein spannendes, informatives Buch mit vielen Zitaten aus historischen Dokumenten, Briefen und Gesprächen, das es einem nicht einfach macht, denn es zeigt, dass das „Böse“ oft ein kaum noch zu entwirrendes Gemisch aus Rassismus, Zeitgeist, guten Absichten, Bürokratie, Fanatismus, Heuchelei, fehlender Kontrolle, Selbstgerechtigkeit und banaler Ignoranz ist.

Als Humphreys sich irgendwann fragt, wie sie bloß in all das hineingeraten ist, lächelt ihr Mann sie an und meint:

It’s that well-known mixture of the right person, in the right place, at the right time, with a smashing family. (S. 329)

Sie hat persönliche Opfer für diese Arbeit gebracht, ihren Mann und ihre zwei Kinder oft über Wochen, manchmal Monate, allein gelassen und selbst gesundheitliche Beeinträchtigungen in Kauf genommen, nur um ihrem Ziel näher zu kommen: so viele child migrants wie möglich noch mit ihren Müttern in Großbritannien zusammenzubringen, bevor der Tod das unmöglich macht.

Sie erzählt ihre Geschichte mit sanftem Humor, Wehmut und einer nicht versiegenden Menschlichkeit.

No matter how many stories of abuse I hear, I am always shocked. You can’t be prepared. I’m not shocked by the knowledge that brothers or priests or others are capable of such brutality. It’s the total devastation of the victim that stuns me; the fact that he has held on to his pain for all these years. It humbles me. […] It’s no good sitting there saying I don’t want it. You take their baggage because you know it’s too heavy for one person to carry through a lifetime. (S. 298)

Die letzten Kinder wurden übrigens 1967 verschickt.

Sowohl die australische als auch die britische Regierung haben sich inzwischen offiziell bei den ehemaligen child migrants entschuldigt und Humphreys ist vielfach für ihr Engagement ausgezeichnet worden.

Anmerkungen

Das Buch zeigt, wie hilfreich die Medien sein können. Ohne die Arbeit engagierter Journalisten und Filmemacher wäre die Arbeit von Humphreys und ihren Mitstreitern wahrscheinlich im Sande verlaufen. Nur mit der Hilfe von Zeitungsartikeln, Radiointerviews und Dokumentationen konnte die nötige Breitenwirkung erreicht werden, die notwendig war, um politischen Druck auszuüben, Beratungsstellen in Großbritannien und Australien aufzubauen, die Frage nach finanzieller Entschädigung anzustoßen und die Suche nach vermissten Familienangehörigen zu finanzieren.

Folgende Dokumentationen und Filme haben besonders dazu beigetragen, dass das Thema öffentlich wahrgenommen und diskutiert wurde. Die Filme sorgten außerdem dafür, dass sich Tausende ehemaliger child migrants an die jeweils geschalteten Hotlines wendeten, ihre Geschichten erzählten und sich ebenfalls auf die Suche nach ihren Müttern begaben, von denen sie Jahrzehnte lang geglaubt hatten, dass sie tot seien.

Auf die Ähnlichkeiten mit dem Schicksal der australischen „Stolen Generation“ kann hier nur hingewiesen werden.

Übrigens ist auch Frankreich in der Vergangenheit ähnlich vorgegangen und hat von 1963 bis 1982 über 1600 Waisenkinder aus Réunion nach Frankreich gebracht, um der zahlenmäßig schwächelnden Landbevölkerung aufzuhelfen. Siehe dazu den Artikel im Guardian vom Februar 2014.

Trauriger Nachtrag: Noch immer werden unzählige Aborigenes-Kinder zwangsweise von ihren Familien getrennt. Siehe den Artikel im Guardian vom März 2014.

Autor: buchpost

- mein buchregal: schon lange ein gegengewicht zu beruf und engstirnigkeit - ziele: horizont weiten, mich vergnügen und das wichtige behalten

11 Kommentare zu „Margaret Humphreys: Oranges and Sunshine (1994)“

    1. Danke für dein Dankeschön! Ja, es ist eine fast unglaubliche Geschichte und ein hochspannendes Buch. Bei dieser Besprechung war ich mal wieder hin und her gerissen bei der Frage, wie lange der Artikel eigentlich werden soll. Will ich Lust aufs Selberlesen machen? Dann müsste der Post wahrscheinlich kürzer sein. Soll der Artikel mir später als Gedankenstütze dienen, falls ich einen Interessenten finde, an den ich das Buch abtreten kann? Dann muss er mindestens so lang sein, wie er jetzt ist. Du schaffst das immer so schön, knapp und trotzdem verführerisch von einem Buch zu berichten… Sommerliche Schwedengrüße Anna

  1. Es ist ein tolles Buch, das Du hier vorstellst, womit ich natürlich nicht den schaurigen Inhalt meine (man muss sich das mal vorstellen: bis 1967 ging diese Praxis), sondern die Tatsache, dass dieses Buch entstanden und veröffentlicht worden ist und damit ja im besten Sinne Aufklärungsarbeit leistet. Ich kann mir vorstellen, dass es nicht immer leicht gewesen ist, das Buch zu lesen.
    Auch von mir ganz viel sommerliche Grüße, Claudia

    1. Hallo Claudia, das das war wirklich eine lohnenswerte Geschichtsstunde. Aber du hast auch Recht, ohne Vorwarnung liest man plötzlich einen Auszug aus einem Brief etc, und es war ab und zu wie ein Hieb in den Magen. Jetzt bin ich erst mal auf der Suche nach etwas „Leichterem“. Dir liebe schwedische Sommergrüße mit absolut null Gedanken an Schule! Anna

    1. Hallo Peggy, siehst du, ich habe es immer noch nicht geschafft, den Film zu sehen. Aber schon das Buch hat mich damals sehr beeindruckt. Ja, und sie hat viel mehr gemacht, als sie offiziell je hätte machen müssen. Sie hat einfach nicht weggesehen, als ihr das Thema vor die Füße fiel. LG und ein schönes Wochenende. Anna

    1. Vielen Dank; ja, unglaublich fand ich das auch. Vermutlich haben wir alle den ein oder anderen Beitrag im Archiv, den man ruhig noch einmal hervorholen könnte. LG, Anna

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