Margaret Forster: Diary of an Ordinary Woman (2003)

Nach The Seduction of Mrs Pendlebury und der Biografie zu Daphne du Maurier war klar, dass ich mehr von Margaret Forster (1938 – 2016) lesen würde. 

Forsters zwanzigster Roman Diary of an Ordinary Woman schildert das Leben der Millicent King, die im November 1914 als Dreizehnjährige beginnt, Tagebuch zu führen. Auf Deutsch erschien der Roman unter dem Titel Ich warte darauf, daß etwas geschieht (2005).

Father said if I want to keep a diary I must begin it on New Year‘s Day. He said no one starts a diary in November. But New Year‘s Day is five weeks away and I do not want to wait. I don‘t see why I should either. Why should diaries have to start on 1st January. It is tidy, I admit, and I am a tidy person, but that is all. (S. 9)

Die Angewohnheit des Tagebuchschreibens behält sie bis 1995 bei. Für viele Leserinnen war das fiktive Tagebuch der Millicent King aus London so real, dass sie Forster lange ihre Herausgeberfiktion glaubten, dass diese nämlich ein echtes Tagebuch editiert habe. Tatsächlich hatte Forster kurzzeitig Kontakt zur Tochter einer alten Dame, die über Jahrzehnte Tagebuch geführt hatte, doch letztendlich widersetzte sich die Enkelin der alten Frau dem Vorhaben, die Tagebücher der Autorin anzuvertrauen.

Gleichzeitig gibt Forster ihrer Hauptfigur einiges aus ihrer eigenen Biografie mit. Auch Forster war in ihrer Jugend überzeugt davon, niemals heiraten zu wollen, da ihr ein Leben als Hausfrau und Mutter als viel zu einengend erschien, und arbeitete zeitweilig als Lehrerin.

Millicent, diese keineswegs besondere oder gar besonders sympathische Hauptfigur, kommt einem immer näher, ihre Stacheligkeiten, ihre Sturheit und Immer-wissen-was-für-andere-gut-ist, ihre jugendliche Abenteuerlust, ihre Beziehungen zu Männern. Die Geschichten ihrer sechs Geschwister, man nimmt ihr das alles ab, obwohl ihr Lebenslauf an der an oder anderen Stelle vielleicht ein bisschen zu sehr als roter Faden durch die Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts angelegt ist. Bis hin zu dem Neffen, der im Korea-Krieg kämpfen muss.

Aber es stimmt ja auch. Jemand, der 1901 geboren ist, erlebt bereits bewusst die Folgen des Ersten Weltkrieges. Millicents Bruder George kehrt traumatisiert aus dem Krieg zurück. Ihr Wunsch nach Bildung. Die Familie spart sich die Collegekosten für Millicent vom schmalen Familienbudget ab – eine Universitätsausbildung ist jenseits der Möglichkeiten – und sie kann immerhin Grundschullehrerin werden. Ein mehrmonatiger Aufenthalt als Gouvernante in Italien, Arbeit in England, erste Freundschaften mit Männern. Doch sie wird ein Leben lang unverheiratet bleiben. 

Und der Zweite Weltkrieg wird noch einmal ihr ganzes „gewöhnliches“ Leben auf den Kopf stellen. Dabei illustriert das Tagebuch, wie Menschen eben sind, sie belügen sich, hoffen und träumen von Sinnhaftigkeit und großen und ehrenwerten Zielen. Träume zerplatzen, wir kommen nicht raus aus unserer Haut, die Ziele werden kleiner, bis man sich kaum an sie erinnert.

1 October

An awful dreariness hangs over everything. Bad luck to come back from such a wonderful holiday to cold, wet weather and so many small things which have gone wrong. […] I seem to take delight in nothing. Is this the beginning of old age? Yet I didn‘t feel it in Greece. Go back there, then, my irritable self snaps, but that isn‘t the answer. The truth is, and it must be faced, I am bored. My life seems to lack both point and pleasure. […] What all this introspection amounts to is a restlessness, a refusal to be satisfied with ordinariness. Endless expectations which aren‘t realised. Oh, I annoy myself. Is this is going to be the aftermath of every holiday, I had better not take any more. (S. 342)

Die große Liebe hält dem Alltag nicht stand oder stirbt im Krieg. Und: Man wird älter, die Ansprüche bescheidener, die Sorgen ändern sich und plötzlich ist es sicherer, den Führerschein abzugeben und beim Überqueren der Straße einen Stock zu benutzen. 

What a miserable business growing very old is proving to be. […] Teeth, eyes, joints – all collapsing and the sudden heart attack I would have preferred is less likely all the time. I dread finding myself in an institution. I won‘t let that happen. Yet I know, even as I write this, that I may not have the power or means to prevent it. It agitates me to think this. I feel decisions about my future ought to be made now, and by me, before it is too late. But like most people, because it is all so painful to contemplate, I defer it. (S. 396)

Der Roman spiegelt natürlich auch die sich verändernden gesellschaftlichen Bedingungen wider. Das volle Wahlrecht für Frauen wurde erst 1928 verabschiedet und nur sehr allmählich stellen sich überhaupt die Fragen, welches Lebensmodell (Beruf, Familie, Kinder, Sex vor der Ehe) man als Frau leben will oder ob man noch religiös gebunden ist.

Der Zweite Weltkrieg, das Grauen, das die Deutschen auch über Großbritannien gebracht haben, sorgt schließlich dafür, dass Frauen in großer Zahl in bisherigen Männerdomänen Fuß fassen. Millicent fährt u. a. Krankenwagen durch das zerbombte London.

20 July 1941

Heaven knows why, well I suppose I do know why, but we are given lectures on VD [venereal diseases]. They are always at 11.30 a.m., such an unsuitable time when lunch follows them. (S. 249)

Nicht nur die Kleidung ändert sich, auch die Verhütungsmethoden und die Möglichkeiten, sich im Haushalt entlasten zu lassen. Vor dem Ersten Weltkrieg hatten viele Haushalte noch mindestens ein Dienstmädchen, doch nach dem Krieg ziehen diese Frauen allmählich andere Verdienstmöglichkeiten in der Stadt vor. Millicent bekommt ihre erste Waschmaschine 1951.

Ist relativ zu Beginn des Buchs noch die Frage entscheidend, ob die Familie das Geld für die weitere Schulbildung von Millicent aufbringen kann oder will, so steht gegen Ende Connie, die Nichte Millicents, auf der Seite der Friedensaktivistinnen, die seit Beginn der achtziger Jahre gegen die Stationierung von Atomwaffen auf der Royal Air Force Station Greenham Common, einem Militärflugplatz östlich des Örtchens Greenham in Berkshire, demonstrieren.

Dabei liest sich der Roman keineswegs wie eine dröge Aneinanderreihung hervorragend recherchierter Fakten. Sondern genau wie ein Tagebuch, dessen manchmal bissiger Tonfall so unglaublich gut zu dieser Millicent King passt. 

Gleichzeitig macht das Buch das unaufhaltsame Verstreichen der Zeit deutlich. Alles in uns ist gleichzeitig gegenwärtig, von der familiären Prägung über die ersten Kindheitserinnerungen bis zu den Erfahrungen im Hier und Jetzt. Wenn wir anderen gegenüberstehen, ist uns das allerdings selten genug bewusst, dass auch sie vermutlich eine ganze Geschichte zu erzählen hätten.

Am Ende der Einleitung zu ihrem Buch schreibt Margaret Forster:

Indeed, I now wonder if there is any such thing as an ordinary life at all. (S. 7)

Hier geht‘s lang zu dem Nachruf auf die Schriftstellerin und Biografin im Guardian.

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Autor: buchpost

- mein buchregal: schon lange ein gegengewicht zu beruf und engstirnigkeit - ziele: horizont weiten, mich vergnügen und das wichtige behalten