Salman Rushdie: Knife (2024)

Am 12. August 2022 wurde der damals 75-jährige Salman Rushdie vor einer Podiumsdiskussion in New York, bei der es um die Schaffung sicherer Orte für bedrohte Schriftsteller gehen sollte, von einem jungen Islamisten, einem in Kalifornien geborenen Sohn libanesischer Einwanderer, auf der Bühne niedergestochen und lebensgefährlich verletzt. Die Verletzungen waren so schwerwiegend, dass selbst die Ärzte zunächst nicht damit rechneten, ihn retten zu können. Rushdie verlor durch diesen Angriff ein Auge und die volle Funktionstüchtigkeit seiner rechten Hand. Dazu kamen diverse weitere Verletzungen am ganzen Körper, am Mund, an der Leber usw. 

Doch der Autor hat – zur Freude und Erleichterung der freiheitlich orientierten Welt – überlebt. Und darüber dann das Buch Knife geschrieben, in dem er sich mit den Folgen des Attentats und der Frage, was ihn hat überleben lassen, auseinandersetzt. Die deutsche Übersetzung stammt von Bernhard Robben.

Rushdie (*1947) hatte zunächst gar nicht vor, darüber zu schreiben und war auch alles andere als begeistert, nach über 33 Jahren nun wieder mit den direkten und indirekten Folgen der Fatwa wegen seines Buches Die Satanischen Verse (1988) konfrontiert zu werden, etwas, das er eigentlich längst abgehakt glaubte. Doch ihm wird schnell klar, dass er sich erst mit diesem „Elefanten im Raum“ auseinandersetzten muss, bevor er sich dann hoffentlich wieder anderen Projekten widmen könne. 

Auch Sprache ist ein Messer. Sie kann die Welt aufschneiden und ihre Bedeutung zeigen, ihre inneren Mechanismen, ihre Geheimnisse, ihre Wahrheit. […] Kann Bullshit offenbaren, Augen öffnen, Schönheit schaffen. Sprache war mein Messer. War ich unvermutet in einen Messerkampf geraten, war Sprache womöglich die Waffe, mit der ich mich wehren konnte. Sie könnte auch das Werkzeug sein, mit dem ich meine Welt wieder errichten und wieder einfordern konnte, sie könnte den Rahmen formen, mit dem ich mein Bild von der Welt wieder an die Wand zu hängen vermochte, mit der ich die Kontrolle über das zurückgewann, was mir geschehen war, mit dem ich es in Besitz nahm, mir aneignete. (S. 114)

Das Werk mit dem Untertitel Gedanken nach einem Mordversuch ist im Großen und Ganzen chronologisch aufgebaut. Der erste Teil ist mit Der Engel des Todes überschrieben und befasst sich mit dem Attentat, das wie jede unvorhergesehene Katastrophe zunächst einmal jegliche Vorstellung von dem, was man unter Realität versteht, zertrümmere. Rushdie beschreibt seine Verletzungen (und erspart uns dabei keine Details), die Schmerzen und Operationen während des Krankenhausaufenthaltes und die anschließende Reha. Das Kapitel, in dem er erzählt, wie er seine fünfte Ehefrau Rachel Eliza Griffiths (*1978) kennengelernt hat, fällt dabei ein bisschen aus dem Rahmen. Mit ihr ist er zum Zeitpunkt des Angriffs seit fünf Jahren zusammen. Der Autor ist sich im Klaren darüber, dass er ein Opfer im Kampf zwischen zwei unvereinbaren Weltsichten ist, und möchte deshalb so früh wie möglich sein Überleben und die damit verbundenen Gedanken festhalten. So nimmt Eliza schon im Krankenhaus die ersten Videos auf. 

Heute ist wieder ein guter Tag. Ein neuer guter Tag für uns beide. 

Das habe ich dir zu verdanken. Du machst all die Arbeit.

Aber du hast das Wichtigste geschafft, du bist nicht gestorben.

Schade um meinen Anzug von Ralph Lauren.

Wir besorgen dir einen neuen. Wir marschieren schnurstracks in den Ralph-Lauren-Laden und sagen: Geben Sie diesem Mann einen Anzug. (S. 84)

Der zweite Teil Der Engel des Lebens schildert die langsame Rückkehr in ein halbwegs normales Leben.

Neben meinem Bett stand ein Sessel. Das erste Ziel bestand darin, in diesem Sessel sitzen zu können. (S. 99)

Entscheidende Mosaiksteine waren dabei seine Familie, allen voran Eliza, – eine der berührendsten Stellen im Buch schildert ihre Reaktion, als er aus dem Krankenhaus entlassen wird und sie für eine Weile in die Wohnung guter Freunde ziehen, um Ruhe vor den Paparazzi zu haben:

‘Mein Mann ist zu Hause,‘ schluchzte sie. ‚Mein Mann ist zu Hause.‘ Momente wie diesen festzuhalten, tut weh. (S. 142)

Auch sie hat einen hohen Preis zu zahlen. Neben den Sorgen um das Leben ihres Mannes muss Eliza zum ersten Mal in ihrem Leben damit zurechtkommen, plötzlich von Bodyguards umgeben zu sein und später, als Rushdie sogar wieder nach London reist, in einem gepanzerten Fahrzeug zu fahren, bei dem sie nicht einmal selbst die Türen öffnen konnte.

Aber auch seine erwachsenen Söhne, seine Schwester und gute Freunde (berühmte Schriftsteller kennen ziemlich viele andere berühmte Schriftstellerinnen und Schriftsteller) kommen, schreiben und machen Mut. Dann natürlich zahlreiche Ärzte und Therapeutinnen. Dazu die weltweiten Solidaritätsbekundungen von Künstlern und Staatsoberhäuptern.

Wenn einem der Teufel sehr nahe kommt, weicht der Rest der Welt weit zurück, und man kann eine große Einsamkeit spüren. Freundliche Worte spenden in solchen Zeiten Trost und Kraft. Sie lassen einen spüren, dass man nicht allein ist, dass man vielleicht nicht vergebens gelebt und gearbeitet hat. Während der nächsten vierundzwanzig Stunden wurde mir bewusst, wie viel Liebe in meine Richtung strömte, eine weltweite Lawine des Entsetzens, der Unterstützung und Bewunderung. (S. 76)

Wut habe er auf der Intensivstation kaum empfunden, da ihm diese wie ein sinnloser Luxus vorgekommen wäre, zu sehr waren alle Kräfte auf das Überleben und Wiederleben gerichtet. 

Man muss das Leben finden, sagte ich. Man kann nicht einfach nur rumliegen und sich davon erholen, dass man fast gestorben ist. Man muss das Leben finden. (S. 98)

Rushdie setzt sich mit dem Begriff der Freiheit auseinander und überlegt, wie er – ein eher harscher Atheist – damit zurechtkommen kann, dass er Jahrzehnte lang über wundersam Magisches in seinen Büchern geschrieben hat und nun seine Rettung als ein Wunder anerkennen muss. Eine wirklich befriedigende Auflösung gelingt ihm dabei allerdings nicht.

Ich glaube nicht an Wunder, aber mein Überleben ist ein Wunder. Okay, na gut. Soll es so sein. (S. 87) 

Eine Zeitlang überlegt Rushdie, ob eine direkte Konfrontation mit dem Attentäter ihm helfen könnte, das Geschehen besser zu verarbeiten. Dieser wird in dem ganzen Buch nicht einmal mit Namen genannt und hätte außer fundamentalistischen Allgemeinplätzen wohl nicht viel Nennenswertes von sich gegeben. In einem Interview wenige Tage nach der Tat plädierte der Täter noch auf ‚nicht schuldig‘ und gestand ein, nur wenige Seiten von Rushdie überhaupt gelesen zu haben, dafür aber einige Videos mit und über ihn gesehen zu haben. Da habe er verstanden, dass dieser Rushdie ein unredlicher Mann sei.

Wollte man einen Kriminalroman schreiben, wäre ‚Ich wollte ihn ermorden, weil er unredlich war‘ wohl kein besonders überzeugendes Motiv, und nach der Lektüre des Interviews hatte ich stark den Eindruck, dass seine Entscheidung, mich zu ermorden, untermotiviert blieb. (S. 88)

Eine Buchstelle, die mir mit ihrem trockenen Humor zunächst sehr gefiel, denn aus unserer Sicht stimmt es natürlich, dass dieser Angriff „untermotiviert“ ist, doch das ist ja gerade das Vertrackte und Gefährliche, dass sich inzwischen hier zwei Narrative gegenüberstehen, die letztlich keinen Dialog mehr miteinander führen können. In der Weltsicht der Islamisten und anderer Extremisten reicht „Unredlichsein“, was immer sie gerade darunter verstehen wollen, inzwischen als Tatmotiv nämlich völlig aus. Das ist das Beängstigende und dem kommt man mit ein bisschen Ironie oder wohlfeilen Politikerwarnungen beispielsweise angesichts der Rufe nach einem Kalifat in Deutschland längst nicht mehr bei.

Insofern fand ich das Kapitel, in dem Rushdie eine Begegnung mit dem Attentäter imaginiert, auch eher oberflächlich und wenig erhellend. Letztlich kommt Rushdie zu dem Ergebnis:

John Locke schrieb: ‚Die Handlungen der Menschen sind die besten Interpreten ihrer Gedanken.‘ Der Messerangriff hat uns alles über A.s Innenleben gesagt, was wir wissen müssen. (S. 246)

Obwohl ich das Buch gern gelesen habe, kam es mir an einigen Stellen – auch sprachlich – überraschend einfach vor. Den ihm so wichtigen Stunden bei seinem Therapeuten wurde gar kein Platz eingeräumt und es enthielt manche Wiederholungen, die nicht notwendig gewesen wären. Es ist ein bescheidenes und ehrliches und gleichzeitig humorvolles Buch, eine Liebeserklärung an Eliza, seine Familie und an die Freiheit des Wortes und des Gedankens.

Es ist schön, dass er nicht nur überlebt, sondern sein Ziel, wieder ins Leben zu finden, erreicht hat und dass er sich ungebrochen kampfeslustig – vielleicht dezidierter denn je – die Freiheit der Kunst und die Trennung zwischen Staat und Religion auf die Fahnen geschrieben hat.

Zudem erwähnt Rushdie seine Freunde, von denen einige ebenfalls todkrank waren (Paul Auster, Martin Amis und Hanif Kureishi). Man ist am Ende geneigt, den Worten Martin Amis zuzustimmen, der Rushdie in einer Mail Folgendes schrieb:

Ich gebe zu, als wir uns letztens zum ersten Mal nach der Schreckenstat wiedersahen, hatte ich erwartet, Dich verändert anzutreffen, irgendwie reduziert. Weit gefehlt: Du warst und bist intakt und ganz. Und ich habe erstaunt gedacht: Er ist dem GEWACHSEN. 

Was stimmen mag oder auch nicht, jedenfalls war es sehr lieb. (S. 164)

Übrigens wurde auch der ägyptische Schriftsteller Nagib Machfuz 1994 im Alter von 82 Jahren von einem Fundamentalisten niedergestochen.  

Das Wichtigste ist, dass Kunst jegliche Orthodoxie herausfordert. Kunst deswegen zu verschmähen oder zu verteufeln, hieße, ihr Wesen misszuverstehen. Kunst richtet die leidenschaftliche, persönliche Vision des Künstlers gegen die überkommenen Ideen seiner Zeit. […] Kunst ist kein Luxus. Sie ist die Essenz unserer Menschlichkeit, und außer dem Recht, sein zu dürfen, verlangt sie keinen besonderen Schutz. Sie akzeptiert Streit, Kritik, sogar Ablehnung – aber keine Gewalt. Und am Ende überdauert sie jene, die sie unterdrücken. (S. 205/206)

Rushdie fordert alle auf, sich in dem Kampf gegen Revisionismus, Bigotterie, Lügen und Zynismus einzubringen. Wie dies konkret aussehen könnte, bleibt jedoch offen.

Vor allem aber müssen wir begreifen, dass Geschichten im Mittelpunkt des Geschehens stehen und dass die unehrlichen Narrative der Unterdrücker großen Anklang finden. Also müssen wir uns bemühen, bessere Geschichten als die falschen Narrative der Tyrannen, Populisten und Narren zu schreiben, Geschichten, in denen die Menschen leben wollen. Das Schlachtfeld ist nicht der einzige Kriegsschauplatz. Auch die Geschichten, in denen wir leben, sind umkämpftes Terrain. (S. 221)

Hier geht es lang zu einem Interview mit Rushdie.

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Autor: buchpost

- mein buchregal: schon lange ein gegengewicht zu beruf und engstirnigkeit - ziele: horizont weiten, mich vergnügen und das wichtige behalten

4 Kommentare zu „Salman Rushdie: Knife (2024)“

  1. Danke für diese Gedanken, liebe Anna. Ich habe vor kurzem ein Interview mit Rushdie gehört, das mich sehr berührt hat und ich hatte mir schon überlegt, dieses Buch zu lesen.

    Was mir besonders in Erinnerung blieb was sein Kommentar, überrascht zu sein, daß in den 2020 Jahren Religion noch solch eine große Rolle spielt. Das hat mich überrascht, denn es ist ja offensichtlich, daß religiöse Konflikte auf dem Vormarsch sind. Und die Fatwa wurde ja auch nie aufgehoben. Ich finde es total demoralisierend, daß wir uns rückwärts entwickeln, wie diese furchtbare Tat beweist.

    Möge Rushdie noch weiterhin genesen.

    mpge

    1. Hallo Tanja, Rushdies Überraschung, dass Religion noch solch eine große Rolle spielt, überrascht mich auch. Allerdings sieht er Religion wohl nur als eine Krücke, die der mündige Mensch nicht mehr benötigt. Das würde dann vielleicht seine Überraschung erklären. Eine spirituelle Sinnsuche -und findung ist ihm womöglich eher fremd.
      Mir macht der zunehmende Hass und die Unwilligkeit, sich als Teil der Menschheit zu sehen, auch zunehmend Bauchschmerzen. Zumal wir das alles doch schon mal hatten und eigentlich wissen müssten, wo das hinführen kann. LG Anna

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