Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg (2011)

Blumenberg hatte gerade eine neue Kassette zur Hand genommen, um sie in das Aufnahmegerät zu stecken, da blickte er von seinem Schreibtisch auf und sah ihn. Groß, gelb, atmend; unzweifelhaft ein Löwe. Der Löwe sah zu ihm her, ruhig sah er zu ihm her aus dem Liegen, denn der Löwe lag auf dem Bucharateppich, in geringem Abstand zur Wand.

So also beginnt der vom Feuilleton in Lobgesängen gepriesene und mit dem Georg-Büchner-Preis 2013 ausgezeichnete Roman Blumenberg von Sibylle Lewitscharoff.

Die Handlung ist rasch erzählt: Der alternde Philosophieprofessor Blumenberg findet eines Tages in seinem Arbeitszimmer einen Löwen vor. Hin und wieder besucht der Löwe sogar die Vorlesungen des Professors, doch bleibt er für die Studenten unsichtbar. Eine uralte Nonne ist die einzige, die ihn ebenfalls sehen kann. Besonders interessiert ist Blumenberg an seinen Studenten nun gerade nicht, trotzdem wird der Leser mit den Lebenswegen von Isa, Hansi, Gerhard und Richard traktiert, die bei Blumenberg studiert haben. Sie alle sterben jung und am Ende – das darf man verraten, ohne sich eines Spoilers schuldig zu machen – treffen sich die Toten mit dem verstorbenen Blumenberg und dem Löwen in einer Höhle – Platon lässt grüßen – und lösen sich allmählich in zunehmender Erinnerungslosigkeit auf. Doch der große Blumenberg erfährt dabei so etwas wie eine Auferstehung oder Heiligsprechung oder was auch immer:

Königlich, königlich schollernden Klanges fuhr Blumenberg! aus dem Rachen des Löwen. War der Mann in der Höhle bisher nicht viel mehr gewesen als Luft an der Luft, schien auf den Namenszuruf hin eine andere Materie ihn zu befüllen. Lichtsendendes Blut zirkulierte in seinen Adern. Er strahlte und zitterte und hielt die schwankenden Arme weit ausgebreitet. Da hieb ihm der Löwe die Pranke vor die Brust und riß ihn in eine andere Welt. (S. 216)

Doch das Ganze funktioniert einfach nicht. Blumenberg schwankt zwischen Ergriffenheit und dezentem Understatement:

Der Löwe ist zu mir gekommen, weil ich der letzte Philosoph bin, der ihn zu würdigen versteht, dachte Blumenberg. (S. 11)

Ob nun der Löwe, „so wirkmächtig er sich auch zeigte, doch nur ein Hirngespinst“ ist, bleibt letztlich offen. Allerdings geht vom Löwen nicht nur ein Kraftstrom aus, „der Blumenberg ungemein belebte“ (S. 25), sondern auch ein starkes „Fluidum des Trostes“, das den Philosophen widerlegt, der doch gerade noch über die Trostbedürftigkeit bei gleichzeitiger Untröstlichkeit des Menschen doziert hatte.

Jetzt auch kann sich Blumenberg an traumatische Dinge, wie den Tod von Verwandten in Theresienstadt und seine Zeit im Lager Zerbst, erinnern: „Aber der Löwe sorgte dafür, daß es ohne Angst geschah.“ (S. 126)

Und gar:

Der Löwe war gekommen, ihn in seinem Wesen zu hegen, wie dies kein Mensch je für ihn getan hatte oder je würde für ihn tun können. Einerseits. Andererseits war es bedauerlich, dass der Löwe keinerlei Wildheit gezeigt oder gar zum Sprung auf ihn angesetzt hatte. Sonst hätte er, Blumenberg, wie einst Hieronymus in einer wohlkomponierten Haltung der Andacht und mit süßer Beredsamkeit dem Löwen Zurückhaltung aufnötigen müssen. (S. 35)

Letztlich gewährt der Löwe so etwas wie spirituellen Trost, der jedoch völlig diffus bleibt:

Im geheimen floß aus dem Löwen die nie versiegende Zusicherung, das Netz der über Himmel und Erde geworfenen Namen, welches die Menschen zu ihrer Beruhigung ersonnen hatten, sei selbst dann noch reißfest, wenn Physiker, Astronomen, Biologen und philologische Raspelwerker mit feinen Scheren und Schabwerkzeugen emisg an jedem Namen und jeder Metapher, die im Gefolge der Namen heraufgezogen war, herumschabten und -schnitten. (S. 132)

Fazit

Ich war bereit, den Löwen zu sehen. War bereit, selbst den aufdringlichsten Hinweisen auf den Löwen in der Kunstgeschichte nachzugehen. Fand es aber schon arg dick aufgetragen, Blumenberg, den katholisch getauften Juden, als Nachfolger des Heiligen Hieronymus zu stilisieren, der ebenfalls einen Löwen als Begleiter in seinem „Gehäus“, der Studierstube, hatte.

Am Ende bleibt ungeklärt, warum ich Blumenberg und seinem Löwen überhaupt habe folgen sollen. Blumenberg, der die Bitte eines todkranken Freundes, ihn noch einmal zu besuchen, als frechen Zeitdiebstahl ansieht, der wie ein Eremit, ein Heiliger geschildert wird, der so von allen losgelöst sein nächtliches Arbeiten vorantreibt, dass seine Familienmitglieder keinen einzigen Auftritt haben. Abgesehen davon, dass seine Frau ihn eines Morgens tot auffinden darf.

Und dann die Sprache! Wendungen wie „Die gebrechliche Letztzeit war über ihn gekommen“ (S. 200) sind zumindest im ersten Teil noch unverbraucht und ausdrucksstark. Doch grelle Metaphern wie „Er fühlte sich ausgeglüht, als hätte man mit einem Flammenwerfer auf seinen Schädel gezielt. Jetzt hockte er da mit einem Haufen Asche im Hirn.“ (S. 118) oder „Der Löwe fungierte als Zuversichtsgenerator, der die Härchen des Protests, die sich in Blumenbergs Denken immer wieder aufstellten, ein wenig glattbürstete“ (S. 129) sind schon fast komisch und Passagen wie die folgende lassen ein arges Kopfweh „über mich kommen“:

Der Handprobe hatte sich Blumenberg nach wie vor enthalten. Zartdünne Berührpunkte existierten zwischen ihm und dem Löwen auch so. Ohne seine Einbildungskraft sonderlich anzustrengen, spürte er das Fell des Löwen an seiner Wange, spürte er die Tatze des Löwen auf seiner Schulter. Fühlte er solchen Kontakt, war er dem Zwang zur radikalen Selbstverfügung enthoben. Von der Enthärtung der physischen Wirklichkeit bei unverwandt in die Erscheinung hineinblühendem Sein ging etwas zutiefst Beruhigendes aus. (S. 123)

Ich lese Goethe, Shakespeare, Dostojewski. Doch nie wieder Lewitscharoff. Oder sollte es sich hier gar um einen Fall von „Des Kaisers neue Kleider“ handeln?

Anmerkungen

Hier geht es lang, wenn man wissen möchte, wie die Jury die Verleihung des Georg-Büchner-Preises an Lewitscharoff begründet.

Patrick Bahners spricht in der FAZ von einem königlichen Lesevergnügen, auch Uwe Justus Wenzel in der NZZ ist sehr angetan.

Auf literaturkritik.de klingt das schon wesentlich kritischer:

Es ist aber nicht die Abstrusität der Geschichte, die den Leser am Schluss ein wenig ratlos zurücklässt – abstruse Geschichten ist man von Sibylle Lewitscharoff wahrhaftig gewöhnt. Es ist das Zerfaserte der Geschichten, die nirgendwo hinführen, die seltsam verbindungslos und ohne erschlüsselbaren Sinn vor einem stehen.

Georg Diez auf Spiegel Online ist der einzige, der gegen Lewitscharoff polemisiert:

Jetzt mal im Ernst: Würden Sie dieser Frau Ihre Kinder anvertrauen? Würden Sie diese Frau zu sich nach Hause einladen? Würden Sie ihr ein Buch abkaufen?

Er begründet seine Aversion u. a. damit, wie die Autorin die Rolle der Sprache, des Stils bewertet. Sie schreibt tatsächlich so seltsame Dinge wie:

Der Stil wurzelt im Ethischen. Wie etwas erzählt wird, entscheidet sehr wohl darüber, ob darin die winzigen messianischen Sprengkapseln enthalten sind, deren die Literatur so bedürftig ist. Erlösung heisst das Zauberwort. Der Stil muss den Gnadenschatz bergen, der Erlösung vom Bann des Alltäglichen verspricht, Erlösung von Schmutz und Schuld, die wir alle, schwache, böse, schutzbedürftige Wesen, die wir sind, unablässig in uns und um uns anhäufen. […]

Nicht so sehr in die Ohren derer, die heute leben, müssen wir unsere Geschichten erzählen, sondern in die feinen Ohren der Toten. Mit ihnen müssen wir Verbindung aufnehmen. Es ist die vornehmste Aufgabe der Literatur, Totenwache zu halten und Totengespräche zu führen. Von der Weisheit der Toten müssen wir schmausen, an ihren Leiden muss sich unsere Gerechtigkeit messen.

Um zu ihnen zu gelangen, enthält unsere Grammatik die mehrfach gestaffelten Vergangenheitsformen, die in einem mühsamen Prozess der Menschwerdung entwickelt wurden, der einhergeht mit einer immer komplexeren Fähigkeit des Erzählens. Konjunktiv und Futurformen befreien uns vom So-und-nicht-anders-Sein, im Konjunktiv liegt sogar die schwindelerregende Möglichkeit, das Unmögliche im Gewand des Möglichen zu denken. Heute wird mit Vorliebe durchgängig im Präsens erzählt, kurzsätzig obendrein. An den Toten geht solches Erzählen vorbei. Sie sind nicht gemeint und antworten deshalb auch nicht. Wir alle bezahlen den Verlust der reichen Gedächtnisformen teuer. Stillos sterben wir im Präsens, ohne uns mit unserem Tod ins grosse Buch einzuschreiben, das einst von unserer Bosheit, unserer Grossherzigkeit, unseren Leiden und Freuden erzählen soll. (Lewitscharoff, in der Neuen Zürcher Zeitung, 31. Oktober 2009)

Autor: buchpost

- mein buchregal: schon lange ein gegengewicht zu beruf und engstirnigkeit - ziele: horizont weiten, mich vergnügen und das wichtige behalten

9 Kommentare zu „Sibylle Lewitscharoff: Blumenberg (2011)“

    1. Gern geschehen 🙂 Nun, ich glaube, das letzte Zitat von ihr aus der NZZ macht wohl deutlich, ob einem die Autorin gefallen könnte oder eben nicht. Nur habe ich das leider vorher nicht gekannt … Ich bin allerdings gespannt, ob es in Bälde noch einige Blog-Besprechungen geben wird von Lesern, die dem Buch mehr abgewinnen können als ich. Einen schönen Abend, Anna.

  1. Ich habs hier rumliegen, keine Ahnung, wann ichs mal lese – aber ich mag Verrisse! 🙂 (Georg Diez finde ich trotzdem so doof, dass ich bereit bin, jeden Autor für genial zu erklären, nur weil er ihn nicht mag)

    1. Jedenfalls würde ich mich freuen, wenn du dann von deinem Lektüreeindruck erzählst. In diesem Fall bin ich ganz froh über den Verriss von Diez, der hat mich nämlich erst aufmerksam auf Lewitscharoffs Text in der NZZ gemacht. Anna

  2. Liebe Anna,
    Deine Rezension erinnert mich „auf das Erfreulichste“ an mein eigenes Lesevergnügen, das ich nach etwa 100 Seiten dann doch beendete. Also meine Hochachtung fürs Durchhalten! Ich bin in die Geschichte nicht hineingekommen und fand die Sprache „merkwürdig“. Ich habe das Buch mit ganz schlechtem Gewissen (Ironie!) zur Seite gelegt, denn Lewitscharoff ist ja eine durchaus anerkannte, mehrfach ausgezeichnete Schriftstellerin – und ich habe es wieder nicht verstanden. Sind wir also wieder mitten in der Stangl-Diskussion, die nur mit dem wunderbaren Zitat Jeanette Wintersons zu befrieden ist :-)!
    Viele Grüße, Claudia

    1. Hallo Claudia,
      und da hatte ich im Stillen gehofft, du oder eine der anderen Bloggerinnen könnte mir erklären, was ich nun bei Blumenberg übersehen und nicht verstanden habe. 🙂 Vielleicht ist Lewitscharoff einfach sehr konsequent, denn wenn sie tatsächlich diesen Heilsanspruch an Literatur stellt und sich dementsprechend als Priesterin – auch in ihrem Stil – stilisiert, dann weiß ich zumindest, weshalb ich wohl mit ihr nicht warm werden werde. Möglicherweise drängelt sich ihr Anspruch, den ich ohnehin nicht teile, zu sehr in den Vordergrund, vielleicht ist mir die Geschichte wichtiger als der Autor oder dessen Gehabe … Liebe Grüße, Anna

  3. Liebe Anna,

    ich danke dir für diesen freundlichen Warnhinweis – gelesen habe ich von Sibylle Lewitscharoff noch nichts und so bald wird sich daran wohl auch nichts ändern. Auch wenn sie mich nicht zum Kauf verführen konnte, hat mich deine kritische Besprechung dennoch angesprochen. Eine gutfundierte Warnung ist doch nie verkehrt … 😉

    Liebe Grüße
    Mara

    1. Hallo Mara,
      danke für deinen Kommentar. Ich habe mich wirklich schwer getan mit diesem Buch. Und nun bist du nach Claudia schon die zweite Bloggerin, auf deren Eindruck ich gespannt gewesen wäre und die das Buch zumindest vorläufig nicht (oder nicht zu Ende) lesen wird. Mal sehen, ob doch noch jemand aus den mir bekannten Blogs zu Blumenberg greifen wird …
      Dir jedenfalls mehr Freude mit der aktuellen Lektüre! Liebe Grüße,
      Anna

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