Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf (2021)

Der Filmemacher Andreas Fischer (*1961) geht in seinem ersten Roman Die Königin von Troisdorf – Wie der Endsieg ausblieb den Themen nach, die ihn auch schon in mehreren seiner Filmprojekte beschäftigt haben: Wie sind wir zu denen geworden, die wir heute sind? Wie sah eine Kindheit in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts aus? Welche eigenen Traumata und Verkrüppelungen haben Eltern und Großeltern an die Kinder bzw. Enkel weitergegeben, die während der Wirtschaftswunderzeit aufgewachsen sind?

Das mag zunächst vielleicht nicht nach spannender Literatur klingen, doch ich habe dieses autobiografisch grundierte Buch regelrecht inhaliert. Es ist irritierend, dass Fischer keinen Verlag für dieses unfassbar gute Buch gefunden und es deshalb schließlich selbst verlegt hat.

Fischer schreibt nicht chronologisch, sondern reiht kurze Szenen in überraschenden Zeitsprüngen aneinander, die – wie in einem ungeordneten Kasten voller Fotos – ein Schlaglicht auf eine bestimmte Situation werfen. Und diese Form samt der unsentimentalen Sprache, die Fischer für seinen Inhalt gewählt hat, sorgen dafür, dass sich das Buch weit über das Niveau bloßer Erinnerungsbücher erhebt. Zeigt doch dieses Mosaik, dass immer alles in uns zeitgleich gegenwärtig ist, die kleinen, die großen, die hässlichen und die schönen Momente.

1969. Troisdorf. Ich bin 8 Jahre alt. 3. Schuljahr.

Viele andere Kinder haben Geschwister, Einzelkinder wie ich sind eher selten. Mich beginnt die Frage zu beschäftigen, warum ich keine Geschwister habe. Ich weiß nicht, ob ich es mir schön vorstellen soll. Müsste ich meine Spielsachen teilen? Stünde noch ein Bett für einen Bruder oder eine Schwester in meinem Zimmer? Hätte ich dann noch Platz, um mit meinen Matchboxautos auf dem Boden Zusammenstoß spielen zu können? An einem Abend frage ich meine Mutter, warum ich keine Geschwister habe. ‚Einer von deiner Sorte hat uns gereicht‘, sagt Mutter. (S. 37)

Der collagenartige Aufbau passt natürlich zu seinem familiären Hintergrund. Seine Eltern betrieben ein gut gehendes Fotogeschäft in Troisdorf. Sie arbeiteten so hart, dass der einzige Sohn da eher ein Störfaktor war und tagsüber viel Zeit bei seiner Tante Hilde und seinem Onkel verbringen musste. Die Großmutter mütterlicherseits, Oma Lena, lebte ebenfalls mit im elterlichen Haus und war, man kann es nicht anders sagen, von ausgesuchter Bösartigkeit. Die freundlichen Worte gegenüber ihrem Enkel dürften sich an einer Hand abzählen lassen.

Der Hass meiner Oma auf mich durchzieht das ganze Haus vom Keller bis zum Dach wie ein bestialischer Gestank, dessen Quelle nicht zu orten ist. Ich bin zu klein, um Überlegungen anzustellen, wo die Ursache liegen könnte. Der Gestank ist völlig normal, ganz selbstverständlich gehört er zu meiner Welt wie das Geschäft meiner Eltern, das weiße Schulgebäude und Vaters Schnapsflasche im Kühlschrank. (S. 117)

Sie hat vermutlich den Tod ihres einzigen und überaus braven Sohnes Günther nie verwunden, der sehr jung und voller Begeisterung für Hitler in den Krieg gezogen war. So schreibt der 19-jährige Günther an seine Eltern im Januar 1940 aus Königsberg, nachdem er und seine Kameraden bei 28 Grad unter Null bereits die ersten Erfrierungen davongetragen hatten:

Ich bin riesig stolz, in dieser großen Zeit Soldat sein zu dürfen. Keine Härte, keine Kälte, darf größer werden als mein Stolz. Nie werde ich klagen. (S. 99)

Also kein Zufall, wenn sich der Ich-Erzähler erinnert, wie seine Oma Lena über ihn irgendwann zu seiner Mutter gesagt hat:

‘Bei Günther hat die Saat meiner Erziehung gefruchtet. Bei dem Bengel ist alles hoffnungslos.‘ (S. 109)

Die Fischers im Troisdorf der sechziger und siebziger Jahre sind eine Familie, wie es damals unzählige gegeben haben muss, nach außen hin wird eine biedere, spießige Wohlanständigkeit mit üppiger Schrankwand, finanziellem Erfolg, Arbeitsethos und neuem Auto präsentiert; die Frauen der Familie streng katholisch.

Was jedoch nicht außen dringen durfte: Bei dieser Form des Katholizismus ging es nie um spirituelle Fragen. Der Sohn wurde auch mal zum Gottesdienst geprügelt, Hauptsache, die Fassade, die man den Nachbarn gegenüber zeigte, stimmte.

Ich habe zu gehorchen, nur ein gehorsames Kind ist ein gutes Kind. Ich habe nichts zu wollen und schon überhaupt nicht etwas nicht zu wollen. Ein Infragestellen der Befehlsgewalt bedeutet für Hindenburg und Ludendorff Hochverrat, eine Gefährdung der Herrschaftsstruktur an und für sich … (S.246)

Dann der Rassismus: Man freute sich zwar über die Gastarbeiter, die gute Kunden im Fotogeschäft der Eltern waren, doch privat sah man auf sie herab. Nie hätten Mutter und Oma Lena später mal einen Gyros aus dem neu eröffneten griechischen Restaurant probiert.

Die abendliche Sauferei des Vaters, der den Untergang des Nazi-Reiches nie verwunden hat. Das Ableugnen der deutschen Verbrechen.

Das absolute Desinteresse an dem, was ihren Sohn interessiert, oder an dem, was er kann. Jahrzehnte später ist der Vater fassungslos, als er Andreas am Telefon Englisch sprechen hört. Er hat nicht einmal gewusst, dass Englisch einer der Leistungskurse seines Sohnes gewesen war. Doch genauso gibt es die Erinnerung an den Moment, als der Vater mit dem Dreizehnjährigen, der sich sehnlichst ein Jugendlexikon gewünscht hatte, in die große Buchhandlung geht und dort das Jugendlexikon nur grob als Schund abtut und ihm stattdessen die zwanzigbändige Ausgabe der Brockhaus Enzyklopädie zeigt.

Eine Woche später liefert uns der Inhaber der Buchhandlung persönlich die zwanzig Bände der Enzyklopädie ins Haus.

Vater hatte recht. Der Brockhaus wird mich die Schulzeit und das Studium hindurch begleiten, mir bei unzähligen Hausaufgaben und Referaten hilfreich sein. Ich habe den Brockhaus heute noch, im Zeitalter von Wikipedia und Google, ich bin zwölfmal mit ihm umgezogen, die blauen Schutzumschläge habe ich nie entfernt, alle Bände befinden sich noch in ihren Pappschubern, das sieht nicht so gut aus, aber so wertvoll sind sie mir. (S. 317)

Nie fuhr die Familie gemeinsam in Urlaub. Und nur in anderen Familien sieht der Junge, wie Familienleben auch gelebt hätte werden können. Und nur bei seiner Tante Hilde findet Andreas Anerkennung und Wärme.

1971. Ich bin 10 Jahre alt. 5. Schuljahr.

Am nächsten Tag gehe ich in das Juweliergeschäft und kaufe die Seepferdchenbrosche. Tante Hilde freut sich sehr. ‚Wie komme ich denn dazu?‘, fragt sie […] ‚Einfach so‘, sage ich. Tante Hilde gibt mir einen Kuss auf die Backe. Dann geht sie zur Garderobe, sie holt ihren feinen Pelzmantel und befestigt die Seepferdchenbrosche am Kragen. Während der nächsten vierzig Jahre trägt sie die Brosche, bis ich das Seepferdchen vorsichtig vom Kragen ihres letzten, dunklen Wintermantels ablöse und einstecke, bevor ich den Mantel in den großen Pappkarton packe, der für die Kleiderkammer der Caritas bestimmt ist. (S. 177/178)

Durch die mosaikartige Anlage des Buches bleibt man als Leserin die fast 500 Seiten anteilnehmend dabei, erkennt mit Schrecken Dinge aus der eigenen Familiengeschichte wieder und möchte wissen, wie und ob es Andreas gelingt, sich ohne gar zu schlimme Blessuren aus dieser ungesunden Familie zu befreien. Man freut sich bei den seltenen Momenten mit, wenn Andreas etwas Schönes mit seinem Vater unternehmen kann oder ausnahmsweise von ihm den Rücken gestärkt bekommt und wenn man spürt, dass hier einer mit wachem Blick beobachtet, sich die Werte der Familie nicht einfach zu eigen macht, sich eben nicht wie Onkel Günther in blindem Gehorsam anpasst, sondern trotz aller Verletzlichkeit rebelliert und kleine und irgendwann größere Fluchten wagt.

Gleichzeitig nimmt Fischer einen weiten Blick ein. Dadurch dass er den entscheidenden Momenten auch im Leben seiner Eltern und Großeltern nachgeht, z. B. aus alten Familienbriefen zitiert, begreifen die Leser*innen, wie beispielsweise enttäuschte Hoffnungen auf nationalsozialistische „Größe“ gekoppelt mit privater Trauer die vorangegangenen Generationen seelisch verkrüppelt haben. All die nie aufgearbeiteten Erfahrungen und verdrängte Schuld haben seine Großmutter und seine Eltern zu den oftmals unerträglichen Menschen gemacht, die selbst keine Verbindung mehr zu ihren eigenen Gefühlen hatten und wohl meist nicht anders konnten, als dem Sohn und Enkel mit Enttäuschung, Lieblosigkeit, Härte und Unverständnis zu begegnen.

Daneben ist dem Autor aber auch eine kleine Sittengeschichte der Sechzigerjahre gelungen. Es geht um Cola und Gyros, um Jeans und die Frage nach der Haarlänge bei den Jungen oder die zwiespältige Haltung zu Wehrdienstverweigerern. Genauso lesen wir aber auch von der noch nicht hinterfragten Rolle der katholischen Kirche, latentem Rassismus, dem Einzug moderner Luxusgüter in die bundesdeutschen Haushalte und den technischen Neuerungen wie dem Kassettenrekorder, mit dem man die Lieblingstitel aus dem Radio mitschnitt.

Hier ein kurzes Interview mit dem Autor.

Sebastian Schoepp schreibt im Dezember 2022 in der Süddeutschen Zeitung:

Andreas ist der mangelhafte Ersatz [für den gefallenen Günther], wie diese ganze verhasste Bundesrepublik, mit der man sich hatte zufriedengeben müssen, nachdem der Endsieg ausgeblieben und die kleinbürgerlich-spießigen Träume davon ausgeträumt waren, was alles aus einem hätte werden können in diesem Reich bis hinter dem Ural. Gesprochen wird darüber natürlich nicht. Die Verluste, die uneingestandene, verdrängte, in Arbeitswut erstickte Schuld schweben nur ständig über allem. In dieser Familie geschehen keine Brutalitäten, kein sexueller Missbrauch, keine Gewalt, es ist nur eine alltägliche Kette von Mikrograusamkeiten, wie eine Tropfenfolter. […] Jeder, der so was auch nur im Ansatz selbst erlebt hat, wird von Fischers so nüchterner wie wirkungsvoller Prosa tief in der Seele angefasst.

Autor: buchpost

- mein buchregal: schon lange ein gegengewicht zu beruf und engstirnigkeit - ziele: horizont weiten, mich vergnügen und das wichtige behalten

5 Kommentare zu „Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf (2021)“

  1. Ähnlichen Alters wie der Autor, finden wir uns früher oder später als Kinder oder Enkel der Kriegs- und Nazigeneration wieder. Sich einen Reim darauf zu machen, scheint Andreas Fischer mit der Familiengeschichte wohl gelungen zu sein. Einiges klingt vertraut, mehreres berührend wie die Szenen mit dem Lexikon und der Brosche.
    Der aktuelle Krieg ist erschütternd. In Anspielung auf den Oscar-nominierten Film nach Erich Maria Remarque gibt es anscheinend „Nichts Neues im Osten und im Westen“.
    Gute Wünsche und Grüße
    Bernd

    1. Hallo Bernd, sich einen Reim auf vieles in der eigenen Biografie machen zu können, ist ein schönes Bild. Ja, dem Ich-Erzähler scheint das gelungen zu sein. Auch dir eine gute Woche, Anna

  2. „Mikrograusamkeiten“ beschreibt die Erfahrungen von Andreas Fischer sehr treffend. Ich bin immer wieder erstaunt daß es Menschen gibt, die trotzdem irgendwie ihr Trauma überwinden, und ohne Bitterkeit leben können.

    1. Hallo Tanja, ja, das setzt wohl ein hohes Maß an Mut und an Bereitschaft voraus, den Verletzungen ins Auge zu sehen. LG Anna

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