Thomas Hettche: Herzfaden (2020)

Ein Buch über die Familie Oehmichen, der wir die Augsburger Puppenkiste verdanken; das fand ich zunächst eine reizvolle Idee. Doch nach der Lektüre des Werkes, das es auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft hat, keinerlei Begeisterung meinerseits, sondern eher verblüffte Verwunderung, mit der ich anscheinend allein auf weiter Flur stehe, wenn ich mir so die zahlreichen Kritiken anschaue.

Schon der Stil, der vermutlich schlicht, märchenhaft nostalgisch und ein wenig kindlich klingen sollte, hat mich eher an eine Überdosis Zuckerwatte erinnert. Mit Details ohne Funktion. Manchmal plakativ. Als die achtjährige Hannelore ihrer Schwester ein Geheimnis anvertrauen möchte, heißt es:

‘Was denn für ein Geheimnis?‘ flüstert die Schwester zurück, ganz dicht an ihrem Ohr. Sie spürt den heißen Hauch ihres Atems. (S. 14)

Und viele Jahre später, als die Puppenspieler zu einer Aufnahme nach Hamburg fahren:

Auf ihrer langen Fahrt in den Norden, die sie an diesem Januartag durch das ganze Land führt, geht es zunächst über kleine Straßen nach Nürnberg, da kommt die Sonne hervor. Über den Hügeln von Würzburg liegt Schnee.  Hier erreichen sie die Bundesstraße, die sie weiter nach Bad Hersfeld zur Autobahn bringt. Wie eine immer dünner werdende Schraffur verschwindet der Schnee. (S. 233)

Und die Soldaten der Wehrmacht sind plötzlich einfach ‚harte Kerle‘, als Walter Oehmichen erzählt, wie er im Krieg Kameraden mit selbstgebastelten Puppen unterhält:

Ich hatte die Puppen aus allem zusammengebaut, was sich eben finden ließ, klapprige Dinger waren das, ganz unansehnlich, mit ein paar Stofffetzen behangen. Und doch waren sie lebendig. Und meine Kameraden, alles harte Kerle, die grauenvolle Dinge erlebt hatten, wurden plötzlich wieder zu Kindern. (S. 42/43)

Stellen, die sich stärker auf die geschichtlichen Hintergründe des Nationalsozialismus beziehen, wirken manchmal nachgerade hilflos, verkleistertverkitscht, auch wenn sie vermutlich das Verdrängte, das Totgeschwiegene veranschaulichen sollen. So erklärt Walter Oehmichen seiner Tochter Hannelore, genannt Hatü, dass er als ehemaliger Landesleiter der Reichstheaterkammer nicht entnazifiziert werde und deshalb nicht zurück ans Theater könne.

‚Warum warst du Landesleiter der Reichstheaterkammer?‘

‚Ach, Hatü.‘

Der Vater schüttelt mit zusammengekniffenen Lippen den Kopf. Hatü wartet, dass er weiterspricht, doch er schweigt. (S. 117)

Hettches eigene Klarstellung am Ende des Buches, dass es ihm „nicht vor allem um Fakten“ gegangen sei, „sondern um ein Porträt der Puppenschnitzerin Hannelore Marschall, die für die junge Bundesrepublik so wichtig gewesen ist“, lese ich mit deutlich hochgezogenen Augenbrauen.

Nicht nur dass die Person der Hannelore, ach, eigentlich alle Personen, so seltsam vage und wattig bleibt, wie soll das gehen, ein Porträt ohne verlässliche Fakten?

Am Ende weiß ich weder, welche der Geschichten stimmen, noch konnte mich das Buch so in seinen Bann ziehen, dass die Frage nach Fakt oder Fiktion unwichtig geworden wäre. Letztendlich empfand ich das Buch als eine Art von Edelkitsch, den ich unangenehmer als echten Kitsch finde, weil Edelkitsch vorgibt, mehr zu sein, als er tatsächlich ist.

Wenig hilfreich auch die in die Haupterzählung eingestreute Geschichte eines modernen Teenagers mit iPhone, der erkennt, wie tröstlich und real die Marionetten sind; ich fand sie plakativ und äußerst unspannend.

Ich wünschte, jemand aus der Augsburger Puppenspielerdynastie, die ein so schönes Stück bundesrepublikanischer Zeitgeschichte geschaffen haben, hätte selbst das Buch geschrieben.

Märchenhaft sind nicht die Geschichten, die wir erzählen, ein Märchen ist das Erzählen selbst. (S. 167)

Ein Augenschmaus zur Augsburger Puppenkiste ist übrigens diese Seite.

Und hier noch ein Interview mit Hettche auf der Seite des Deutschlandfunk.

Aber wie gesagt, allen anderen hat das Werk wohl ausnehmend gut gefallen. Wiebke Porombka beispielsweise steigt in ihrer positiven Besprechung des Werks gleich auf der höchsten Metaebene ein, die sie überhaupt zur Hand hatte. 

Über Traumata, geleugnete oder verdrängte Schuld oder die mehr oder mitunter subkutanen oder nicht sanktionierten Kontinuitäten nationalsozialistischer Gesinnung – über die Mentalität der frühen Bundesrepublik mithin ist viel geschrieben worden. Wohl selten aber so vielschichtig und reflektiert und im besten Sinne so wundersam, so ernst und gleichzeitig so sprühend albern wie Thomas Hettche dies in seinem Roman „Der Herzfaden“ vermag.

Autor: buchpost

- mein buchregal: schon lange ein gegengewicht zu beruf und engstirnigkeit - ziele: horizont weiten, mich vergnügen und das wichtige behalten

7 Kommentare zu „Thomas Hettche: Herzfaden (2020)“

  1. Da kann ich nur voll und ganz zustimmen! Ich war ebenfalls sehr neugierig und von der Idee zunächst begeistert, dann jedoch verwundert und irritiert, warum es dieses Buch auf die Liste zum Buchpreis geschafft hat. Ein wenig habe ich sogar noch befürchtet, dass es am Ende auch noch den Preis bekommt, was zum Glück nicht der Fall war! Meine Lese-Empfehlungen von der Longlist stammen übrigens beide aus der Schweiz (Lewinsky und Camenisch).

    1. Eigentlich wird es ja gerade interessant, wo Ansichten auseinandergehen. Aber gerade bei diesem tollen Stoff, der ja so in der Zeitgeschichte verankert ist, wäre mir ein anderer Ton tatsächlich lieber gewesen. Und ich hätte so gern viel mehr über Hannelore Marschall erfahren, ihre Gedanken etc.
      LG Anna

  2. Zu Beginn wollte ich das Buch unbedingt möglichst bald kaufen und lesen, aber inzwischen bin ich eher geneigt, es mir irgendwann aus der Bibliothek auszuleihen oder auf die Taschenbuchausgabe zu warten.

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