Was ist ein Klassiker?

Als ich auf diesem Blog die Kategorie „Klassiker“ einfügen wollte, schien mir das ein guter Moment, um noch einmal zu überdenken, welche Merkmale ein literarischer Klassiker für mich erfüllen sollte. Beim Stöbern fand ich das folgende Zitat von Charles Augustin Sainte-Beuve (1850):

A true classic, as I should like to hear it defined, is an author who has enriched the human mind, increased its treasure, and caused it to advance a step;

who has discovered some moral and not equivocal truth, or revealed some eternal passion in that heart where all seemed known and discovered;

who has expressed his thought, observation, or invention, in no matter what form, only provided it be broad and great, refined and sensible, sane and beautiful in itself;

who has spoken to all in his own peculiar style, a style which is found to be also that of the whole world, a style new without neologism, new and old, easily contemporary with all time.

(aus: Literary and Philosophical Essays. 1909-14, Vol. 32. The Harvard Classics)

Ein bisschen trockener formuliert: Ein Klassiker der Literatur widmet sich zeitlosen Themen wie Kindheit, Abenteuer, Sinnsuche, Identität und Liebe oder dem Kampf zwischen Gut und Böse, Recht und Unrecht oder der Auseinandersetzung zwischen dem Individuum und der Gesellschaft. Dabei sollte das Werk:

  • über Generationen und oft genug auch über Ländergrenzen hinweg Menschen ansprechen, unabhängig von Moden und Zeitgeist
  • etwas Allgemeingültiges in neuer, so bisher noch nicht da gewesener Weise darstellen
  • Qualitätsmaßstäbe für kommende Generationen setzen
  • der Leserin, dem Leser die Augen öffnen und ihr oder ihm einen tieferen Blick auf die Natur des Menschen und die ihn umgebende Welt ermöglichen
  • unaufdringlich und ohne erhobenen Zeigefinger die Welt menschlicher machen

Mark Twain hat in einer Rede am 20. November 1900 das daraus entstehende Dilemma für den Leser auf den Punkt gebracht: A classic is

something that everyone wants to have read but no one wants to read.

Nun, wir wollen bestimmte Bücher gelesen haben, weil sie Teil eines wie auch immer entstandenen und von wem auch immer aufgestellten Kanons sind, weil wir wissen, sie sind ein wesentlicher Bestandteil der Kultur und Geschichte.

Auf der anderen Seite haben heutzutage die wenigsten die Zeit oder den Anspruch, solche Klassikerlisten (siehe die Kanondiskussion) abzuarbeiten. Und Italo Calvino tröstet die, die sich schämen, ein bestimmtes Werk noch nicht gelesen zu haben:

Um sie zu beruhigen, reicht es anzumerken, daß, so umfangreich die ‚Bildungslektüre‘ eines Individuums auch sein mag, immer eine riesige Anzahl grundlegender Werke übrigbleibt, die man nicht gelesen hat. (Calvino: „Warum Klassiker lesen?“)

Der heutige Leser ist selbstbewusst und weiß, dass das persönliche Interesse, die persönliche Betroffenheit ohnehin dazukommen müssen. Chris Cox  hat im Guardian vom 8. Dezember 2009 in Anspielung auf Mark Twain noch einmal klargestellt:

There are two kinds of classic novel. The first are those we know we should have read, but probably haven’t. These are generally the books that make us burn with shame when they come up in conversation: from Crime and Punishment to Jane Eyre, we know they would do us good if only we could get around to reading them. For me, embarrassingly, this category includes not just individual books, but entire oeuvres: I’ve yet to pick up a single Dickens novel, for example, and when someone mentions Proust, I actually have to make an excuse and leave the room. The second kind, meanwhile, are those books that we’ve read five times, can quote from on any occasion, and annoyingly push on to other people with the words: ‚You have to read this. It’s a classic.‘

Trotzdem sollte man das Kind nicht gleich mit dem Bade ausschütten und die Diskussion um Klassiker nicht einfach für obsolet erklären, trotz der damit verbundenen Schwierigkeiten. Wer zum Beispiel legt fest, was als Klassiker zu werten ist, wenn sich doch schon die Fachleute – meist weiße, ältere Herren, westlich geprägt – keineswegs immer einig sind.

Auch Calvino geht in seinem Essay „Warum Klassiker lesen?“ (zuerst 1981 veröffentlicht) in immer wieder neuen Definitionsversuchen der Frage nach, was denn nun einen Klassiker ausmache. Er hat dabei die folgenden Formulierungen gefunden, die die Balance zwischen der überindividuellen Bedeutung eines Werkes und der Notwendigkeit des persönlichen Zugangs veranschaulichen:

Ein Klassiker ist ein Buch, das nie aufhört, das zu sagen, was es zu sagen hat.

Wenn der Funke nicht überspringt, ist nichts zu machen: die Klassiker liest man nicht aus Pflicht oder Respekt, sondern nur aus Liebe.

Und so nehme ich also die Bücher in meine Kategorie der Klassiker auf, die eine nachweisbare, Jahrzehnte überdauernde überindividuelle Bedeutung haben und zu denen ich gleichzeitig einen persönlichen Zugang gefunden habe. Wenn der Funke übergesprungen ist.

Wer sich noch ein wenig mit der Entstehung des Klassikerkanons beschäftigen möchte, sei auf den Beitrag Vergangen und gegenwärtig – Was ist ein literarischer Klassiker? hingewiesen.

Ach, und natürlich wird diese Frage immer wieder neu verhandelt, hier begründet Denis Scheck, warum er einen neuen Kanon der Meisterwerke aufstellen möchte.

Auch Michael Sommer, ja, der mit den Playmobilfiguren, hat sich an einer Definition von Weltliteratur versucht.

Autor: buchpost

- mein buchregal: schon lange ein gegengewicht zu beruf und engstirnigkeit - ziele: horizont weiten, mich vergnügen und das wichtige behalten

19 Kommentare zu „Was ist ein Klassiker?“

  1. Das Mark Twain Zitat fasst es meiner Meinung nach am Besten… Ich hatte während meiner kompakten Klassikerlesezeit in den vergangenen Jahren das Gefühl, ein Klassiker muss möglichst auch so umfangreich und schwierig zu lesen sein wie möglich, um als solcher zu gelten. (Ausnahmen gibt’s auch, klar, Tolstoi liest sich so runter…) Ich habe die ganzen zwei Jahre für Ulysses gebraucht und habe mich durch die Buddenbrooks und Don Quixotte wirklich gequält.
    Viele Grüße von Mila

    1. Hallo Mila, das ging mir auch schon so, ich bin z. B. über die ersten 100 Seiten von „Der Zauberberg“ noch nicht hinausgekommen. Und „Die Elenden“ habe ich auch schon zweimal angefangen (und wieder weggelegt…) Inzwischen sehe ich das gelassen. Da meine/unsere Zeit begrenzt ist, muss ich (!) mit dem Buch etwas anfangen können (oder eben nicht). Gleichzeitig gibt es Klassiker, die mich sehr ansprechen und die mir den Blick weiten, wie das ein Werk der Gegenwart vielleicht nicht könnte, einfach weil sie sprachliche/formale/inhaltliche Maßstäbe gesetzt haben und sie mich stärker fordern und ich – wenn der Funke übergesprungen ist – anfange z. B. (literatur-)geschichtliche Bezüge zu recherchieren und ich den Eindruck habe, etwas mehr von der Welt verstanden zu haben. Für mich funktioniert zur Zeit ganz gut, wenn ich in entspannteren (Ferien-)Phasen einen Klassiker lese. Aber ich finde es ganz klasse, wenn du als Autorin überhaupt noch Zeit und Muße findest, Werke anderer Autoren zu lesen. Einen wunderschönen Jahresanfang 2013! Anna

  2. Sehr schöner Beitrag, der wichtige Kriterien ins Visir nimmt und trifft. Habe ihn erst heute gelesen ihm Rahmen der „Große Literatur Diskussion“, die Kaffehaussitzer und Literaturen angeschoben haben. lg_jochen

  3. Liebe Anna,
    ich schliesse mich der seitenspinnerin an, Mark Twain hat es auf den Punkt gebracht. 😉
    Deine aufgelisteten Punkte haben mich auf jeden Fall dazu gebracht über den Klassiker nachzudenken.
    Danke und einen schönen Nikolaustag von Susanne

    1. Ja, diese ganze Klassikerdiskussion ist nicht so einfach. Da könnte man noch über die Fragen nachdenken, wer bestimmt, was als Klassiker zu gelten hat, normalerweise weiße, alte, westlich geprägte Männer. Dann die ganze subjektive Seite – selbst weiße, alte Männer sind sich nicht immer einig 🙂 Und doch finde ich es so wichtig, sich mit Klassikern als einem Teil der menschlichen Kultur zu beschäftigen, darüber zu streiten, sie nicht in Vergessenheit geraten zu lassen und auch in der Schule Klassiker zu lesen, selbst wenn nicht jeder Schüler bereit dazu ist. Ich finde es irritierend, wenn inzwischen selbst manche Germanistik-StudentInnen gar keinen Zugang mehr zu diesem Teil der Kultur haben und lieber Thriller lesen. Nichts gegen Thriller, aber ich glaube, du weißt, was ich meine 🙂 Auch dir noch einen klassisch-schönen Nikolaus-Abend. Anna

    1. Oh, ich brauchte einen Moment, um deine Anmerkung zu verstehen. Sorry, sorry, das tut mir natürlich leid. Ich wusste noch nicht, dass ich damit deine sorgfältig erstellten Anmerkungen torpediere 😦 Ich freue mich trotzdem 🙂 und hoffe, dass der geneigte Leser bei Bedarf über die Suchfunktion dann doch fündig wird. Einen schönen Sonntag!

      1. Du siehst, ich war heute Morgen noch nicht ganz auf der Höhe. Ich lese gerade mit großer Freude dein zweites Kapitel. Wäre es dir recht, wenn ich schon mal in Form ausgewählter Stellen auf dein Buch Bezug nehme? LG, Anna

  4. „I’ve yet to pick up a single Dickens novel, for example, and when someone mentions Proust, I actually have to make an excuse and leave the room.“ Da musste ich lachen. Proust geht so gar nicht an mich, und Dickens geht nur in Hörbuchform, oder verfilmt. 😀 Wenn ich Schiller nicht bin der Schule gelesen hätte,hätte ich da auch eine Lücke, und auch Goethe habe ich nie gelesen. Das muss ich mir auch nicht geben, nur weil irgendjemand sie zu Klassikern erkoren hat.

    1. Hallo, nein, man muss sicherlich keine Klassikerlisten abarbeiten. Allerdings möchte ich auch keine Bücher deswegen ausschließen. Es gibt bei vielen Klassikern ja schon gute Gründe, warum sie es auf so eine Liste geschafft haben. Egal, wie subjektiv und zeitabhängig die auch sein können 🙂

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