Joachim Meyerhoff: Alle Toten fliegen hoch (2011)

Mit achtzehn ging ich für ein Jahr nach Amerika. Noch heute erzähle ich oft, dass es ein Basketballstipendium war, aber das stimmt nicht. Meine Großeltern haben den Austausch bezahlt.

So – quasi mit einer Mini-Inhaltszusammenfassung – beginnt das fantastische Buch von Joachim Meyerhoff.

Der 1967 geborene Schauspieler, Regisseur und Schriftsteller schrieb ursprünglich autobiografische Texte für die Bühne und daraus hat sich ein größeres Buchprojekt entwickelt. Im ersten Band Alle Toten fliegen hoch geht es um den siebzehnjährigen Joachim, der in der norddeutschen Kleinstadt Schleswig aufwächst und – ganz untypisch für einen Coming of Age-Roman – keinerlei nennenswerten familiären Probleme hat. Noch in Amerika betont er:

Dass ich nicht vor ihnen [gemeint sind seine Eltern] geflohen, keiner durch Lieblosigkeit oder Repressalien verdunkelten Welt entkommen war und sie sehr vermisste.

Im Laufe der Geschichte erinnert sich Joachim immer wieder an Erlebnisse aus seiner Kindheit.

Das mit der Glasschiebetür ist mir selbst widerfahren. Ich konnte gerade laufen. Mein ältester Bruder setzte mich in einen Sessel und ging auf die Terrasse hinaus. Erst wenn er meinen Namen rief, durfte ich vom durchgesessenen Blumenmustersessel hinunterkrabbeln und auf meinen noch wackeligen Beinen durch das Zimmer hinaus ins Freie, in seine Arme rennen. Über die Bodenschienen der Schiebetür hätte ich jedes Mal einen niedlichen Hopser gemacht. Angeblich konnte ich von diesem Im-Sessel-Sitzen und Auf-Kommando-ins-Freie-Laufen im Gegensatz zu meinem Bruder nicht genug bekommen. Schon in seinen Armen, den Bruderarmen, hätte ich ‚Noch mal! Noch mal!‘ gerufen. Nach dem zwanzigsten oder fünfundzwanzigsten ‚Noch mal! Noch mal!‘ setzte mich mein Bruder wieder in den Sessel und zog die Schiebetür zu, um herauszufinden, ob ich schon wüsste, dass man nicht durch Glas gehen kann. Ich wusste es nicht und donnerte mit solcher Wucht gegen die Scheibe, dass meiner Mutter vor Schreck das Buch bis an die Zimmerdecke flog […] Wie eine unsichtbare Faust hatte mich die Scheibe auf dem Weg in die weit geöffneten Arme meines Bruders niedergestreckt. […] Mein Bruder wurde ermahnt, keine Experimente mit mir zu machen, und in sein Zimmer geschickt. (S. 7/8)

Im Großen und Ganzen also Provinzidylle pur, zwei manchmal nervende ältere Brüder, die ebenfalls das Gymnasium besuchen, der Vater ist Arzt in der Psychiatrie und den obligatorischen Familienhund gibt es auch. Alles nicht weiter aufregend.

In meiner Stadt war Stille noch der Urzustand. Beruhigend, aber eben auch anstrengend, da man immer alleine von vorn anfangen musste, Lärm zu machen. Kein Weiterreichen, kein Einklinken – jeder für sich allein in seiner Stille. So brummten auch die Autos an mir vorbei. Aus der Stille kommend, in die Stille fahrend. Die Ziele dieser Autos erfüllten mich mit Langeweile. Garagen oder verkehrsberuhigte Wohnstraßen. Und während der Motor noch warm war, krabbelten die Kleinstädter in ihre heimeligen Betten und versanken gedankenlos in eben dieser Stille. Wie vereinzelt hier alles war. Einzelne Häuser, einzelne Autos, einzelne Bäume. (S. 60/61)

So beschließt Joachim, sich für ein Auslandsjahr an einer High School in Amerika zu bewerben. Beim Auswahlverfahren in Hamburg fürchtet er allerdings, nicht mit den weltgewandteren Großstadtkids konkurrieren zu können. Um trotzdem einen Platz im Austauschprogramm zu ergattern, lügt er beim entscheidenden Fragebogen, dass sich die Balken biegen. Er kreuzt an, dass er tiefreligiös und naturverbunden sei und deswegen am liebsten aufs Land wolle. Nur bei der Frage, ob er irgendeine Sportart bevorzuge, antwortet er wahrheitsgemäß: Er möchte Basketball spielen.

Und so nimmt die Sache ihren Lauf: Er landet mit miserablen Englischkenntnissen in der tiefsten amerikanischen Provinz, am Rande von Laramie in Wyoming, bei einer streng religiösen Familie und muss ab sofort dreimal die Woche mit zum Gottesdienst. Mehr möchte ich eigentlich gar nicht verraten, denn das Buch ist übervoll mit wahnwitzigen Geschichten und Begegnungen – ein bisschen wie Blasmusikpop von Vea Kaiser, mit dem Unterschied, dass hier sich vieles wirklich so oder ganz ähnlich abgespielt haben dürfte.

Ich wollte gar nicht mehr aufhören zu lesen. Wen würde er treffen oder kennenlernen? Welche Überraschungen würde der Unterricht an der High School bereithalten, von den seltsamen Lehrern dort ganz zu schweigen, und würde er es schließlich ins Basketballteam schaffen?

Einer der Lehrer nimmt ihn mit zu einer Besichtigungstour ins Gefängnis und ist enttäuscht, als Joachim sich nicht auf dem elektrischen Stuhl fotografieren lassen möchte. Die Leiterin des Drama Club hingegen

kam dann auf die Bühne, tippte sich mit dem Zeigefinger in die Augenwinkel, zeigte ihn herum und strahlte: ‚Hey, come on! What did you do to me? Tell me, what’s that? WHAT’S THAT? TEARS. For heaven’s sake. THESE ARE TEARS. Jesus, you are so intense, you made me cry!‘ Alle klatschten. Wir beklatschten sie, weil sie weinte, und uns, weil wir sie zum Weinen gebracht hatten. (S. 151)

Wir begleiten den Ich-Erzähler dabei, wie er ein Stück weit erwachsener wird, mit allem, was dazugehört. Er muss zurechtkommen mit Liebe, Freundschaft, Sex, Egoismus, Fehlbarkeit, Verlust, Trauer, Irrwitz und existenziellem Schrecken.

Er schaut ganz genau hin, auch wenn’s wehtut. Dabei ist aber eben keine oberflächlich-lockerflockige Anekdotensammlung entstanden, sondern ein oft genug wirklich anrührender und zarter Blick in das Innenleben eines jungen Menschen. Das kommt so frisch, absurd und unmittelbar daher, als hätte der Autor das Ganze erst gestern erlebt.

Meyerhoff schreibt entwaffnend ehrlich und vor allem oft urkomisch – mit dem perfekten Gespür für den Moment der Pointe. Mit Staunen, Toleranz und großer Unbefangenheit nimmt der jugendliche Held die manchmal schöne und manchmal sehr befremdliche Welt um sich herum wahr. Und seine Schilderung von Trauer ist derart, dass einem ganz fröstelig wird, weil man weiß, ja genau so ist das.

Durch das Jahr in Amerika ist auch ein sinnvoller Spannungsbogen garantiert. Und ich habe einige Dinge über Amerika gelernt, die in keinem Reiseführer stehen.

Heide Soltau schreibt im NDR:

Das Buch folgt dem Muster des klassischen Entwicklungsromans. Mit Witz und Charme und ganz ohne Larmoyanz erzählt er von den inneren und äußeren Nöten eines Jugendlichen, der mit der Reise nach Amerika auch die eigene Kindheit, das Reich der Toten und die Welt der Erwachsenen bereist. Das ist keine Selbstbespiegelung, sondern gelungene Literatur.

 

Autor: buchpost

- mein buchregal: schon lange ein gegengewicht zu beruf und engstirnigkeit - ziele: horizont weiten, mich vergnügen und das wichtige behalten

21 Kommentare zu „Joachim Meyerhoff: Alle Toten fliegen hoch (2011)“

  1. Liebe Anna,

    danke für diese ausführliche und lesenswerte Besprechung. Ich darf mich glücklich schätzen, das Buch im Regal stehen zu haben. Ohne deine Eindrücke und deine Euphorie, wäre es da aber wohl noch eine Weile stehen geblieben – nun freue ich mich auf die Lektüre. 🙂 In dem Buchladen, wo ich als Weihnachtsaushilfe gearbeitet habe, ging der neue Roman von Meyerhoff weg wie warme Semmeln und musste mehrmals nachbestellt werden, was mich sehr gefreut hat.

    Liebe Grüße
    Mara

    1. Hallo Mara,

      ja, das freut mich, wenn das Buch nun in deinem sicherlich ohnehin großen Stapel ein bisschen weiter nach oben gerückt ist. Und ich bin gespannt, wie dir das Buch gefallen wird. Ich fand es ideal, wenn man wie ich zur Zeit nicht so viel Zeit und Aufnahmefähigkeit für lange und schwierige Bücher hat, aber trotzdem nichts Triviales lesen will. Wobei die Frage, was die einzelne Leserin/der einzelne Leser komisch oder rührend findet, ja auch sehr unterschiedlich beantwortet wird. Und vorgestern war ich in der Buchhandlung und der zweite Band war … richtig, ausverkauft.
      Zum zweiten Buch von ihm habe ich auch schon gemischte Stimmen gehört. Wir werden sehen. LG und ein schönes Lesewochenende. Anna

  2. Liebe Anna,
    Mensch, schon wieder eine Leseempfehlung, ich komme kaum noch nach! Meyerhoffs Roman aus dem letzten Jahr wollte ich immer gerne lesen, von dem, den Du hier besprichst, wusste ich gar ncihts, aber irgendwie ist er mir durchgegangen. Ich halte mal im Hinterkopf, dass es da noch einen Autor gibt, den ich unbedingt lesen sollte…
    Viele Grüße vom Korrekturmarathon, Claudia

    1. Liebe Claudia,
      ich bin da ein bisschen zwanghaft veranlagt 🙂 Wenn es eine chronologische Reihenfolge gibt, fange ich möglichst mit dem ersten Band an, obwohl der ja nicht unbedingt der beste sein muss. Aber in diesem Fall passt das vielleicht schon ganz gut. Ich habe jetzt eher die Befürchtung, dass „Wann wird es endlich so…“ mich nicht mehr so begeistern kann wie „Alle Toten fliegen hoch“. Das ist übrigens für Korrekturmarathons bestens geeignet 🙂 Ich sitze auch dran… Also, packen wir es an oder so ähnlich. LG Anna

  3. >>Wann wird es endlich so, wie es nie war?<< steht bei mir in der Zeit auch an. Nach deiner Besprechung hier, wird es wohl ein Erlebnis werden. Danke!

    1. Ich bin jetzt auch schwach geworden und habe mir den Folgeband „Wann wird es endlich so, wie es nie war?“ bestellt – war gerade ausverkauft. Allerdings habe ich irgendwo dazu auch schon kritische Stimmen gelesen. Bin gespannt. Dir viel Freude bei der Lektüre und ein schönes Wochenende. Anna

  4. Liebe Anna,
    so ein Mist, schon wieder ein Buch für meine überquellende Leseliste. Und Dank Deiner Besprechung ist es auch schon ziemlich weit hoch gerutscht im Möchte ich unbedingt lesen-Index…
    Liebe Grüße, Kai

    1. Hallo Kai,
      Mist, das denke ich auch regelmäßig, wenn ich so die Blogs durchstöbere 🙂 Ging mir auch so, als ich deine Besprechung zu „Arbeit und Struktur“ gelesen habe. Noch bin ich standhaft, mal sehen, wie lange noch.
      Freut mich, wenn das Buch von Meyerhoff auf deiner Leseliste eine gute Ecke hochgerutscht ist. Ich wäre sehr gespannt auf deine Eindrücke, denn du und Claudia vom Grauen Sofa waren „schuld“ daran, dass ich mich an die Köhlmeier-Lektüre begeben habe. Und – nicht weitersagen – ich gehöre zu den wenigen, die mit der Novelle gar nix anfangen konnten, und so wäre es schon spannend zu sehen und zu lesen, ob und warum wir uns bei Meyerhoff einig wären oder ob du meine Begeisterung vielleicht gar nicht teilen kannst.
      Liebe Grüße und ein gutes Wochenende, Anna

  5. Ich freue mich – auch nach dieser Besprechung – aufs „Rückwärtslesen“. Vor ein paar Wochen begeisterte mich schon der Meyerhoff in der Anstalt („Wann wird es endlich wieder so, wie es nie war“).

    1. It is a very special book, funny (in a British kind of way), sad and humane. If you like the first two pages, you will like the rest of the book.

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