Margot Bennett: Someone from the Past (1958)

Martin Edwards bringt es in seiner Einführung zu diesem gelungenen Cozy Crime aus der Reihe British Library Crime Classics auf den Punkt:

Someone from the Past, first published in 1958, is a stylish whodunit which occupies a small but unique niche in crime writing history. It is the one book to win the Crime Writers‘ Association‘s award for the best crime novel of the year, only for its author never again to write another novel in the genre. While still in her forties, Margot Bennett went out at the top. (S. 7)

Nach dem vierten Band der Reihe um Josephine Tey und Archibald Penrose von Nicola Upson, der einem das Lesen von Krimis fast verleiden könnte, hat mich Margot Bennett, die mir bisher überhaupt kein Begriff war,  wieder versöhnt und gezeigt, dass es immer noch großartige Cozy Crime Bücher zu entdecken gibt. Das Buch wurde 1998 unter dem Titel Jemand aus der Vergangenheit auch ins Deutsche übersetzt.

Hier stimmt einfach alles: Erzählt wird uns die Geschichte von Nancy Graham, einer 26-jährigen Journalistin, die mit traumwandlerischer Sicherheit ständig die falschen Entscheidungen trifft und sich deshalb als Hauptverdächtige in einem Mordfall wiederfindet.

Eines Abends trifft Nancy zufällig in einem Restaurant ihre schöne Freundin und ehemalige Mitbewohnerin Sarah Lampson, die allen Männern den Kopf verdreht und kurz vor der Heirat mit einem vermögenden Mann steht. Dummerweise bekommt sie seit einiger Zeit anonyme Briefe, in denen ihr ein ehemaliger Liebhaber androht, sie umzubringen. Sarah will nicht zur Polizei, da sie ihrem reichen Verlobten nur ihren Ex-Mann gebeichtet hat. Sie bittet Nancy, möglichst zeitnah herauszufinden, welcher ihrer Verflossenen ihr womöglich nach dem Leben trachtet, denn Nancy hat all die Liebschaften Sarahs der letzten Jahre mitverfolgt.

Da wäre also zum einen Mike, ein arroganter und selbstgefälliger Schauspieler und außerdem Sarahs Ex-Mann. Zum anderen gibt es den kultivierten Laurence, der für Sarah seine Frau verlassen hat und mit der Trennung von Sarah lange nicht zurechtgekommen ist. Er hat angefangen zu trinken, ist inzwischen aber mit einer anderen Frau zusammen. Außerdem den Kleinkriminellen Peter, die erste große Liebe Sarahs. Zu guter Letzt ist da noch Donald, in den sich Nancy verliebt hat und von dem sie hofft, dass er ihr in den nächsten Tagen einen Heiratsantrag machen wird.

Einen Tag, nachdem Sarah Nancy um ihre Hilfe gebeten hat, ist sie tot. Erschossen. Das Problem: Donald war in der Nacht zuvor noch einmal bei Sarah in der Wohnung und Nancy hat nun Panik, dass ihr Geliebter, dessen Unschuld für sie außer Frage steht, Spuren in der Wohnung Sarahs hinterlassen haben und deshalb verdächtigt werden könnte. Also kommt sie auf die so eher semikluge Idee, selbst noch einmal in die Wohnung zu gehen, einen Schlüssel hat sie ja, um alle Spuren, die auf Donald hindeuten könnten, zu beseitigen.

Dabei wird sie gesehen und schneller, als man gucken kann, findet sich Nancy auf dem Polizeirevier wieder, wo sie den leitenden Inspector zur Verzweiflung treibt, weil sie sich um Kopf und Kragen lügt, um Donald aus allem herauszuhalten. Doch das ist nur der Anfang und wir verfolgen die Tätersuche gespannt und zwischendurch auch amüsiert.

Hier stimmt einfach alles: Nicht nur Nancy hat ihre ganz eigene Stimme, auch die anderen Charaktere sind rund und in sich stimmig. Der Plot passt und ich wäre Nancy noch länger gefolgt, einer Heldin, die sich – egal, ob sie lügt oder die Wahrheit sagt – von einer Schwierigkeit in die nächste manövriert und dennoch herausfinden will, wer ihre Freundin umgebracht hat.

Love is not love which alters when it is hit on the head with a hammer. (S. 83)

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Margaret Forster: The Seduction of Mrs Pendlebury (1974)

Im Nachruf des Guardian heißt es über die 1938 geborene britische Schriftstellerin und Biografin Margaret Forster, die 2016 an Krebs starb:

She had a singular gift, an ability to take ordinary lives and transform them into fiction of the highest order, sometimes to almost uncanny effect…

Das gilt ganz sicher auch für ihren Roman The Seduction of Mrs Pendlebury, der – warum auch immer – nie ins Deutsche übersetzt wurde.

Die titelgebende Rose Pendlebury, 69, lebt mit ihrem Ehemann seit 26 Jahren in Islington, einem Londoner Stadtteil, in ihrem viel zu großen Haus und schimpft darüber, dass sich der Charakter der Straße und die Nachbarn immer weiter zum Schlechten wandeln würden. Kann man ihren Ärger über laute Wochenendpartys der jüngeren Nachbarn zunächst noch nachvollziehen, so stutzt man doch bereits auf den ersten Seiten, wenn es heißt, dass es Jahre gedauert habe, bis Rose wusste, wer in welchem Haus der Straße wohnt. Das freundliche Angebot einer ehemaligen Nachbarin, deren Telefon im Notfall benutzen zu dürfen, will Rose nicht einmal dann annehmen, als sie sich bei Eisesglätte ein Bein gebrochen hat. 

It had taken several years of delicate inquiries to establish that they [the neighbours] never had had any [children]. (S. 10)

Ihr Ehemann Stanley ist da unkomplizierter. Einmal die Woche besucht er seinen heißgeliebten Club und spielt Bingo mit seinen Freunden. Versuche, Rose dorthin mitzunehmen, hat er längst aufgegeben. In Gesellschaft fühlt sie sich unsicher und sofort herabgesetzt. Und so geht sie von vornherein in den Angriffsmodus und wittert hinter allem nur üble Motive.

Rose kann wirklich garstig sein. Die Kommunikation mit ihrem Mann besteht eigentlich nur aus Vorwürfen, Angriffen, Beleidigungen und Befehlen. 

Doch Stanley lässt das alles – meist – an sich abperlen und nur in absoluten Ausnahmefällen geht er zur Gegenwehr über. Er ist derjenige, der hinter Roses anti-sozialen Tiraden und Vermeidungsstrategien die Ängste und unüberwindlichen Hürden sieht, die menschliche Kontakte für Rose bedeuten.

He never thought of Rose as a hen-pecker or a shrew. He never even thought of her as bad-tempered because he understood her. She only shouted when she was upset or frightened and he saw it as his duty to console her by his calm. He was rock-like. She could hurl herself against him and he wouldn‘t break. (S. 16)

Anything new panicked her. Any journey, even out to Hackney to see his sister, had her in hysterics. She was timid to the point of hiding herself away rather than meet anyone. Frank had said it was an illness and that there was a name for it and that she ought to be treated, but he [Stanley] had poo-poohed the idea. There was nothing wrong in being timid. Rose liked a quiet life, that was all. (S. 28)

Doch in dieser liebevollen Akzeptanz steckt auch ein gehöriger Teil an Bequemlichkeit. Als sich Roses Zustand so verschlimmert, dass selbst das junge Nachbarspaar alarmiert ist, weigert sich Stanley in einer hoffnungslosen Mischung aus Liebe, Fürsorglichkeit und Blindheit, den Zustand seiner Frau beim Namen zu nennen. 

Der einzige Sohn Frank ist mit 19 nach Australien emigriert. Dass er so weit weg lebt, hat durchaus auch mit seiner schwierigen Mutter zu tun, auch wenn Rose das niemals erkennen würde. Inzwischen hat Frank geheiratet und drei Kinder. Er und seine Frau versuchen seit Jahren, seine Eltern von einem Besuch in Australien zu überzeugen, den er ihnen gern spendieren würde. 

Nur in ihrem Garten und in den Parks Londons kann Rose sie selbst sein, ohne von ihren Gedanken zerfressen zu werden.

She wasn‘t going to let any irritation spoil this lovely park. She was going to sit on a seat with her eyes feasting on all the greenery and the lake and the ducks and the flowers and not be bothered by anything. People were the trouble – if only there were no people, she would be happy. (S. 35)

Dieses empfindliche Alltagsgefüge kommt nun aus dem Tritt, als eine junge Familie nebenan einzieht und Rose, die kleine Kinder über alles liebt, sich allmählich mit der kleinen Amy und dann auch mit deren Mutter Alice anfreundet. Irgendwann steht Rose dann vor der Frage, ob sie ihren Vorurteilen und Angstdämonen zumindest so weit Einhalt gebieten kann, dass dieser Kontakt, der sie so sehr beglückt, nicht wieder zerbricht und sie noch einsamer als vorher zurücklässt.

Einige englische Rezensentinnen haben das Buch als zu deprimierend empfunden. Ehrlich gesagt, ich fand sowohl die Charakterisierungen als auch die Entwicklung der einzelnen Handlungsstränge unglaublich spannend – obwohl von außen betrachtet, natürlich wenig passiert – und manchmal sogar komisch, wenn Stanley mit all den Tricks, die er so auf Lager hat, versucht, den Haussegen wieder geradezubiegen. 

Forster gelingt es tatsächlich, auf geradezu unheimliche Weise uns hier das Innere einer zutiefst verletzten Frau zu zeigen, die für ihre Umwelt schier unerträglich ist und bei der wir wohl alle versuchen würden, möglichst viel Abstand zwischen sie und uns zu bringen. Und die uns doch nach der Lektüre garantiert noch länger im Kopf herumspukt. Genauso wie die Frage, ob Stanley am Ende nun alles richtig oder alles falsch gemacht hat. 

Hier noch ein Interview mit Margaret Forster aus der Reihe der BBC-Interviews Desert Island Discs.

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Fundstück von Erling Kagge

Ja, wenn ich alles, was ich mir wünsche, in meinen Armen halte, werden Worte überflüssig. […] Man lebt gefährlich, wenn man eine Beziehung als Selbstverständlichkeit ansieht. Die meisten Menschen glauben, den Everest zu besteigen, sei sehr risikoreich, aber in der Regel geht es gut. Gegenseitige Liebe als Selbstverständlichkeit anzusehen, würde ich nicht wagen.

aus: Erling Kagge: Stille – Ein Wegweiser, Insel Verlag, Berlin 2017, S. 118/119

Benjamin Stevenson: Everyone In My Family Has Killed Someone (2022)

Mit seinem dritten Roman Everyone In My Family Has Killed Someone hat der Australier Benjamin Stevenson einen wahnwitzig guten Krimi hingelegt, bei dem wirklich jedes Puzzleteil passt und bei dem sich quasi alle zwei Seiten neue Facetten ergeben. Gibt es inzwischen auch auf Deutsch unter dem Titel Die mörderischen Cunninghams. Irgendwen haben wir doch alle auf dem Gewissen

Die Geschichte wird uns von Ernest Cunningham erzählt, von Berufs wegen Verfasser nur mäßig erfolgreicher Online-Ratgeber zu dem Thema „Wie schreibe ich erfolgreich einen Krimi?“, die man auf Amazon für wenige Dollar nachgeworfen bekommt. An seinem Hintergrundwissen zu Spannungsaufbau oder den 10 Commandments of Detective Fiction von Ronald Knox von 1929 liegt es auch, dass er sich in seinem Erzählen immer wieder selbst reflektiert oder eine kleine Zwiesprache mit dem Leser hält. Diese Verschränkung der spannenden Handlung mit der Meta-Ebene macht einen großen Teil des Reizes der sympathischen Erzählerfigur aus.

Everyone in my family has killed someone. Some of us, the high achievers, have killed more than once. I‘m not trying to be dramatic, but it is the truth, and when I was faced with writing this down, difficult as it is with one hand, I realized that telling the truth was the only way to do it. It sounds obvious, but modern mystery novels forget that sometimes. […] Of course, this isn‘t a novel. All of this happened to me. But I do, after all, wind up with a murder to solve. Several, actually. Though I‘m getting ahead of myself. […]

The point is, I read a lot of crime novels. And I know most of these types of books have what‘s known as an ‘unreliable narrator‘ these days, where the person telling you the story is, in fact, lying most of the time. I also know that in recounting these events I may be typecast similarly. So I‘ll strive to do the opposite. Call me a reliable narrator. Everything I tell you will be the truth, or at least, the truth as I knew it to be at the time that I thought I knew it. Hold me to that. […] What else? My name would be useful, I suppose. I‘m Ernest Cunningham. It‘s a bit old-fashioned, so people call me Ern or Ernie. I should have started with that, but I promised to be reliable, not competent. (Prologue)

Doch kurz zur Handlung:

Zu Beginn bekommt der 38-jährige Ernest mitten in der Nacht Besuch von seinem aufgeregten Bruder Michael, der einen unbekannten Mann angefahren hat und Ern nun um Hilfe bittet. Doch anstatt auf Ern zu hören und den Mann in ein Krankenhaus zu bringen, beschließt Michael den Toten irgendwo im Wald abzulegen. Dabei landet eine Tasche mit fast 300.000 Dollar in all der Aufregung bei Ern im Haus.

Drei Jahre später: Ernest, der aus einem Grund, den wir erst später verstehen, vom Rest der Familie normalerweise geschnitten wird, wird von seiner Tante Katherine zu einem Familientreffen in einem abgelegenen australischen Ski-Ressort beordert. Normalerweise würde er sich drücken, doch er weiß, diesmal helfen keine Ausflüchte. Warum, erfahren wir ebenfalls nicht sofort.

We‘ll get to my story, I have to tell you about some others first, but I wish I‘d killed whoever decided our family reunion should be at a ski resort. (S. 19)

Und so trifft er dort auf seine ihn verabscheuende Mutter Audrey, ihren reichen zweiten Ehemann Marcelo, seine Stiefschwester, seine unglückliche Schwägerin, seine resolute und pedantisch durchorganisierte Tante Katherine und ihren langweiligen Mann Andy.

That was Andy in a nutshell, wanting both a blokey alliance and to stick up for his wife: the type of guy who says, ‘Yes, honey,‘ at a dinner party but then wobbles his head and goes, ‘Pfft, women, right?‘ when she‘s in the loo. (S. 24)

Im Laufe des Wochenendes werden noch weitere Familienmitglieder dazustoßen.

Die Beziehungen innerhalb der Familie sind kompliziert, die Vergangenheit wirft lange Schatten, die wir erst nach und nach entschlüsseln können. Als wäre das für Ernest nicht anstrengend genug, findet man am nächsten Morgen eine seltsam zugerichtete Leiche im Schnee, die niemand zu kennen scheint und von niemandem vermisst wird.

Faszinierend an diesem Krimi ist nicht nur, wie die verschiedenen Ebenen ineinander spielen, wie sich hier ein Erzähler abmüht, die Regeln des goldenen Krimizeitalters zu erfüllen und dabei gleichzeitig ein Verbrechen aufzuklären. Nicht nur die einzelnen Puzzleteile müssen wir dabei immer wieder umsortieren, auch das Bild, das sich ergibt, ändert sich fortlaufend. Das ist spannend, das ist witzig, klug und verrückterweise auch berührend. Denn es ist auch die Geschichte einer versehrten und traumatisierten Familie.

Ernest hat übrigens völlig Recht, wenn er zu Beginn klarstellt:

Look, we‘re not a family of psychopaths. Some of us are good, others are bad, and some are just unfortunate. Which one am I? I haven‘t figured that out yet. (Prologue)

Inzwischen ist Everyone on this Train is a Suspect, der zweite Band um Ernest, erschienen. Doch der kann meines Erachtens überhaupt nicht mit der filmwürdigen Charakterisierung mithalten, die Everyone In My Family Has Killed Someone auszeichnet.

Fundstück von Kenneth Grahame zum Frühjahrsputz

The Mole had been working very hard all the morning, spring-cleaning his little home. First with brooms, then with dusters; then on ladders and steps and chairs, with a brush and a pail of whitewash; till he had dust in his throat and eyes, and splashes of whitewash all over his black fur, and an aching back and weary arms. Spring was moving in the air above and in the earth below and around him, penetrating even his little house with its spirit of divine discontent and longing. It was small wonder, then, that he suddenly flung down his brush on the floor, said “Bother!“ and “O blow!“ and also “Hang spring-cleaning“ and bolted out of the house without even waiting to put on his coat. Something up above was calling him imperiously […] So he scraped and scratched and scrabbled and scrooged and then he scrooged again and scrabbled and scratched and scraped, working busily with his little paws and muttering to himself, “Up we go! Up we go!“ till at last, pop! his snout came out into the sunlight, and he found himself rolling in the warm grass of a great meadow.

So beginnt der englische Kinderbuchklassiker Wind in the Willows von Kenneth Grahame (1859 – 1932).

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Fundstück von E. M. Forster (1908)

It was unladylike. Why? Why were most big things unladylike? Charlotte had once explained to her why. It was not that ladies were inferior to men; it was that they were different. Their mission was to inspire others to achievement rather than to achieve themselves. Indirectly, by means of tact and a spotless name, a lady could accomplish much. But if she rushed into the fray herself she would first be censured, then despised, and finally ignored. Poems had been written to illustrate this point. (S. 60 der Taschenbuchausgabe im Penguin Verlag)

aus: E. M. Forster: A Room with a View, OA 1908

Fundstück von Alec Guinness

The Ides of March have passed and nothing untoward has happened to our quiet lives in Hampshire. Farther afield there are horrors – starvation on every continent, ugliness in Albania and environs, Isreali/Palestinian squabbles, the madness of Northern Ireland, daily murders at the seaside, Madeleine Albright jetting around somewhere, schoolchildren committing suicide, the scandals surrounding the personal life of the President of the United States, paedophile clerics coming to the surface – and so it goes on – but here the daffodils make a fine display and ornamental cherry blossoms begin to show. (S. 120)

aus: Alec Guinness: A Positively Final Appearance1999

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Art Spiegelman: Maus – Die Geschichte eines Überlebenden (1986/1991)

In der Vergangenheit hatten mich schon öfter Berichte über „book bans“, also das Aus-dem-Verkehr-Ziehen unliebsamer Bücher aus amerikanischen Schulen und Büchereien verschreckt. Hier eine entsprechende Liste. Doch nun hatte eine dieser gefährlich kleingeistigen Aktionen wenigstens etwas Gutes, denn ohne diesen „ban“ wäre möglicherweise ein Meisterwerk an mir vorübergegangen. Doch von vorn: 

Im amerikanischen McMinn County, einem Bezirk mit gerade mal 50.000 Einwohnern, stimmten 2020 alle zehn Mitglieder der Schulbehörde dafür, den preisgekrönten Comic Maus von Art Spiegelman aus dem Lehrplan der Achtklässler zu streichen. Schließlich enthalte er acht Schimpfwörter, Anspielungen auf vorehelichen Geschlechtsverkehr und die Darstellung einer Frau in einer Wanne, die keine Oberbekleidung trage…

McMinn County liegt in Tennessee, wo Trump bei der Wahl 2020 79 Prozent der Stimmen holte. So weit, so betrüblich.

Jedenfalls machte mich dieser „book ban“ auf das Werk neugierig, denn Maus war 1992 als erster Comic überhaupt mit dem renommierten Pulitzer Prize ausgezeichnet worden. Die vollständige Maus – Die Geschichte eines Überlebenden (im Original Maus – A Survivor’ Tale) besteht aus dem Teil Mein Vater kotzt Geschichte aus (My Father Bleeds History, 1986) und dem Teil Und hier begann mein Unglück (And Here My Troubles Began, 1991). Vor der Veröffentlichung in Buchform erschien das Werk in einer Comic-Zeitschrift.

Art Spiegelman zeichnet hier in Schwarzweiß die Lebensgeschichte seines Vaters Vladek nach, eines jüdischen Polen, der 1906 geboren wurde und 1937 Anja, die Erbin eines wohlhabenden Textilunternehmers, heiratet und lange nicht glauben kann, dass die Nazis auch in ganz Polen ihre Schreckensherrschaft aufrichten werden. Die Juden werden dabei als Mäuse gezeichnet, die Deutschen als Katzen.

Micky Maus ist das schändlichste Vorbild, das je erfunden wurde … Das gesunde Empfinden sagt jedem denkenden Heranwachsenden und jedem rechtschaffenen Jüngling, daß dieses ekelhafte, schmutzige Ungeziefer, dieser größte Bakterienüberträger im ganzen Tierreich niemals ein vorbildliches Tier sein kann … Schluß mit der Verrohung der Völker durch die Juden! Nieder mit Micky Maus! Tragt das Hakenkreuz! (Zeitungsartikel, Pommern, Mitte der dreißiger Jahre, S. 162)

1939 wird Vladek in die polnische Armee eingezogen, gerät in Kriegsgefangenschaft, kann sich wieder nach Hause durchschlagen, hofft das Beste, richtet sich ein, überlebt einige Zeit im Untergrund und gibt seinen erstgeborenen Sohn einer Verwandten, um so dessen Überlebenschancen zu vergrößern. Doch irgendwann ist es nicht länger möglich, sich dem Zugriff der Nazis zu entziehen, und Vladek, Anja und die ganze Familie werden deportiert, bis ihr Leidensweg sie nach Auschwitz bringt. 

Nach unfassbarer Barbarei und Qual gehören Vladek und Anja zu den wenigen Überlebenden. In Stockholm kommt ihr zweiter Sohn Art zur Welt, doch die kleine Familie entscheidet sich, nach Amerika auszuwandern, wo der einzige überlebende Bruder Anjas lebt.

Diese ausführlichen Rückblenden sind eingebettet in die Gegenwart, in der Art seinen inzwischen alt gewordenen Vater in New York besucht, ihn interviewt, mehr über dessen Geschichte wissen will und oft genug auch verzweifelt an der störrischen, rechthaberischen und unfassbar geizigen Art des alten Mannes, die er durchaus sarkastisch kommentiert. 

Die Vater-Sohn-Beziehung ist alles andere als einfach und als Leser kann man nachvollziehen, weshalb Art den Gedanken unerträglich findet, zu seinem Vater zu ziehen, als dieser von seiner zweiten Frau Mala verlassen wird – Anja hatte 1968 Selbstmord begangen. Gleichzeitig verneigt man sich vor dem alten Herrn, der die menschengemachte Hölle von Auschwitz überlebt hat und davon ein Leben lang gezeichnet bleibt. Gleichzeitig glorifiziert Art seinen Vater nicht. Vladek Spiegelman starb 1982, vermutlich ohne seine rassistische Einstellung gegenüber Schwarzen je revidiert zu haben. In seinem erhellenden Buch MetaMaus über die Hintergründe zu Maus bemerkt Art Spiegelman zu dem auch bei den Freundes seines Vaters weit verbreiteten Rassismus: 

This is a place where it should be noted, ‘Look, suffering doesn‘t make you better, it just makes you suffer.‘ (S. 36)

Aber man verneigt sich auch vor seinem Sohn, der mit seiner Auswahl des Erzählten und in der zeichnerischen Umsetzung eine Form gefunden hat, die selbst die Ehre der Pulitzer Prize-Auszeichnung weit hinter sich lässt. 

An einer Stelle des Buches sagt Art Spiegelman zu seinem Psychiater Pavel, ebenfalls ein Überlebender von Theresienstadt und Auschwitz:

Samuel Beckett hat mal gesagt: ‚Jedes Wort ist wie ein unnötiger Fleck auf dem Schweigen und dem Nichts.‘

In der nächsten Szene hängen Art und Pavel schweigend ihren Gedanken nach. Doch dann lässt Art den Gedanken zu:

‘Andererseits hat er‘s GESAGT.‘

Ich war nie eine Comicleserin, auch Graphic Novels schienen mir bisher immer nur vereinfachte Romanversionen zu sein, doch dieses Werk ist ein Ereignis, für das ich gern die wuchtigsten Adjektive benutzen würde, die ich kenne. Ich tue es nicht. Die gezeichnete Geschichte von Vladek und Anja, die Geschichte dessen, wozu Menschen – sowohl auf Täter- als auch Opferseite – in der Lage sind und was das für die folgenden Generationen bedeutet, muss man selbst lesen, sehen und für sich entdecken. 

Die Schulbehörde in McMinn hat übrigens trotz aller Proteste an ihrer Entscheidung festgehalten, das Buch aus dem Curriculum zu streichen und empfahl gleich allen Schulleitern, das Buch grundsätzlich auszusortieren. Diese unsägliche Aktion, einen „nicer Holocaust“ (Art Spiegelman) zu lehren, steht natürlich im engen Zusammenhang mit den ultra-konservativen Bemühungen, Jugendliche vor „woker“ Beeinflussung, bösen Wörtern, nackten Brüsten und ein paar echten Geschichtsstunden zu bewahren. Genauso wie Lehrer*innen in vielen Counties inzwischen aufpassen müssen, ob und wie sie sich zur Sklaverei, zu Rassismus oder gar LGTBQ-Themen äußern. Amerikaweit laufen übrigens weitere Versuche, das Werk aus den Schulen zu entfernen.

‚It looks like the entire curriculum is developed to normalize sexuality, normalize nudity and normalize vulgar language,‘ said Mike Cochran, a school board member. ‚I think we need to re-look at the entire curriculum.‘

Tony Allman, a board member, noted that “Maus” described people being hanged and children being killed. ‚Why does the educational system promote this kind of stuff?‘ he asked. ‚It is not wise or healthy.‘ (aus dem lesenswerten Artikel der New York Times)

Immerhin: Nach der Entscheidung der Schulbehörde und der ganzen medialen Aufregung stand das Buch plötzlich wieder auf diversen Bestsellerlisten und viele Schüler*innen haben sich das Werk besorgt. 

Auf dem Blog habe ich bereits To Kill a Mockingbird von Harper Lee besprochen, ein Buch, das ebenfalls immer wieder auf Listen der zu ächtenden Lektüren gerät. 

Hier kann man weiterstöbern:

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Fundstück von Fridtjof Nansen

Der Sternenhimmel ist der wahrste Freund im Leben, hat man ihn erst einmal kennengelernt; stets ist er da, stets gibt er Frieden, stets erinnert er dich daran, dass deine Unruhe, deine Zweifel, deine Schmerzen vorübergehender Natur sind. Das Universum existiert und wird unberührt bestehen. Unsere Meinungen, unsere Kämpfe, unsere Leiden sind nicht so wichtig und einzigartig, wenn es darauf ankommt.

Fridtjof Nansen, zitiert nach: Erling Kagge: Stille – Ein Wegweiser, Insel Verlag, Berlin 2017, S. 84

Alte und neue Krimischätzchen von Nicola Upson und Craig Rice

Die Krimi-Reihe von Nicola Upson (*1970) um Detective Inspector „Archie“ Penrose ist inzwischen auch in Deutschland kein Geheimtipp mehr. Drei der inzwischen elf Bände sind bereits ins Deutsche übertragen worden, weitere werden folgen.

Im ersten Band An Expert on Murder, der im Original bereits 2008 erschien, reist Josephine Tey, die zwischen 1930 und 1952 ja tatsächlich Theaterstücke und Krimis um den Ermittler Alan Grant geschrieben hat, von Inverness nach London, um bei der Aufführung eines ihrer Stücke dabei zu sein. Auf der Zugfahrt lernt sie Elspeth Simmons, eine sympathische junge Frau, kennen, die ein großer Fan von ihr ist. In London angekommen kehrt Elsie kurz zurück in den Zug, weil sie ihre Tasche vergessen hat. Noch im Zugabteil trifft sie auf ihren Mörder, der einen seltsam inszenierten Tatort zurücklässt. Mit der Aufklärung wird Archie Penrose von Scotland Yard betraut, den Josephine schon seit Jahrzehnten kennt. Archie war der beste Freund ihres Verlobten, der jedoch im Ersten Weltkrieg in einer der grauenhaften Schlachten ums Leben kam.

Dieser erste Band ist noch nicht ganz rund. Zunächst erfahren wir seitenlang etwas über Personen am Theater, die uns zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht interessieren und deren Charakterisierung auch im weiteren Verlauf der Geschichte nicht wirklich an Tiefe gewinnt. Die Tatsache, dass Josephine und Archie über 20 Jahre brauchen, um mal halbwegs Klarheit in ihre Freundschaft zu bringen, wirkte auch nicht so richtig erwachsen. Teilweise tritt die Handlung auf der Stelle, zu viele Personen werden kurz ein- und dann wieder ausgeflogen und die Auflösung am Ende wird viel zu wenig vorbereitet. Der Independent bemängelte denn auch:

But the book falls down on plotting: the detective work depends on absurd coincidences, and an over-complicated back-story points up the author’s inexperience.

Aber die Idee, einen Krimi einer real existierenden Kriminalschriftstellerin auf den Leib zu schreiben, ist dennoch reizvoll. Man lernt dabei und wird im Großen und Ganzen doch gut und nicht allzu brutal unterhalten. Jedenfalls habe ich auch den zweiten Band  Angel with Two Faces (2009) gelesen, der wesentlich ambitionierter und ausbalancierter wirkte und sowohl mit einer spannenden Handlung als auch einer glaubwürdigeren Auflösung aufwarten konnte. Und dort habe ich das erste Mal von dem Minack Theater gelesen, dem einzigartigen Freilichttheater an der Südküste Cornwalls, das einer der entscheidenden Schauplätze im Roman ist. Im Mai soll er unter dem Titel Wenn die Masken fallen auch auf Deutsch erscheinen.

Nachtrag: Nach dem vierten Band Fear in the Sunlight ist für mich Schluss mit dieser inzwischen elf Bände umfassenden Reihe. Den dritten Band rund um das Thema des Baby Farming fand ich schon allein wegen der realen Bezüge lohnend und an der gelungenen geschichtlichen Einbettung im vierten Buch – diesmal ein Wochenende in Portmeirion mit Alfred Hitchcock, der ein Buch Josephine Teys verfilmen möchte – liegt es nicht, dass mir alle Lesefreude an Upson abhanden gekommen ist.

In Fear in the Sunlight bekommt die Leserin zunächst völlig unverbundene Puzzleteile in Form vieler Personen präsentiert, die dann – surprise, surprise – alle miteinander eng verbandelt sind. Auch die Frage der Erzählstimme ist nicht wirklich gelöst worden. Ermittelt wird hier gar nichts, die Motive der meisten Beteiligten fand ich lächerlich und Krimis über Serienmörder finde ich per se wenig attraktiv. Was mir aber endgültig den Rest gegeben hat, war die ausführliche, ja geradezu lustvolle Ausmalung der Morde, diese hatte mit Cozy Crime nun gar nichts mehr zu tun. Ich wünschte, Upson hätte weniger grell gearbeitet und die Handlung nicht so dermaßen überladen. Der Versuch, dem Ganzen mit pseudo-tiefsinnigen Gesprächen noch ein bisschen intellektuellen Anspruch zu verleihen, hat dann auch nichts mehr gerettet.

Jetzt aber zu einer amerikanischen Autorin: Craig Rice hieß eigentlich Georgiana Ann Randolph Craig, lebte von 1908 bis 1957 und schrieb Krimis, Erzählungen und Drehbücher.

Im Januar 1946

she was the first crime writer to grace the cover of Time magazine. It‘s impossible to understand how much that meant back then – there‘s just no modern equivalent. As always with fame, artistic achievement was only part of the appeal. Craig Rice lived a storied life even before she was published. (Lisa Lutz in ihrer Einleitung)

Bekannt wurde Craig durch ihre Krimis um John J. Malone, einen schlampig gekleideten Chicagoer Anwalt.

John Joseph Malone did not look like a lawyer. A contractor or a barkeep, or a baseball manager, perhaps. Something like that. At first sight he was not impressive. He was short, heavy – though not fat – with thinning dark hair and a red, perspiring face that grew more red and perspiring as he talked. He was an untidy man; the press of his suits usually suggested that he had been sleeping in them, probably on the floor of a taxicab. His ties and collars never became really close friends, often not even acquaintances. (S. 42)

Malone löst die Fälle zusammen mit dem herzensguten, aber nicht immer brillanten Presseagenten Jake Justus und der hinreißend schönen Helene Brand, „a rich heiress and hard-drinking party animal par excellence“ (Wikipedia).

Im ersten Band Eight Faces at Three, der 1939 erschien, wird die gräßliche Tante von Holly und Glen Inglehart ermordet. Tante Alexandria war nicht nur reich, sondern auch reichlich herrschsüchtig und wollte Holly und Glen vorschreiben, wen – falls überhaupt – sie zu heiraten hätten. Alle wissen, dass sie für den nächsten Tag ihren Anwalt bestellt hatte, um ihr Testament zu ändern. Doch bevor sie das tun kann, wird sie mitten in der Nacht mit einem Brieföffner umgebracht. Sofort fällt der Verdacht auf ihre Nichte Holly, die tags zuvor heimlich ihre große Liebe, den unstandesgemäßen Bandleader Dick Dayton geheiratet hat. Dummerweise war sie es, die die Leiche fand und ihre Fingerabdrücke auf dem Mordwerkzeug hinterlassen hat. Doch ihre Freunde setzen alles daran, ihre Unschuld zu beweisen und den wahren Täter zu überführen.

Auf 250 Seiten bekommen die Leserinnen und Leser eine zwar fast stereotype Krimi-Handlung aufgetischt, dennoch macht die richtig Spaß, denn Craig mixt hier einen Krimi mit Screwball-Comedy. Zwischendurch sind die Protagonisten mindestens ebenso an ihren schlagfertigen Wortwechseln wie an der Aufklärung des Falles interessiert.

Helene sighed. ‚And finally,‘ Jake said, ‚if the long-lost papa killed Alexandria Inglehart, who killed him?‘

‘His conscience began to bother him and he committed suicide,‘ Helen suggested hopefully. ‚Stabbing himself three times to do it,‘ Jake said in disgust, ‚the last two times after he was dead.‘

‘Well anyway,‘ she said, ‚it was a good idea as far as it went.‘  ‚It didn‘t go far enough, ‚ Jake told her. ‚That was its only fault.‘ (S. 213)

Das hätte ein wunderbar unterhaltsamer Schwarzweißfilm werden können, wenn bloß jemand auf die Idee gekommen wäre, das Buch zu verfilmen.

There was nothing, Jake reflected, like telling the truth if you wanted to get a reputation as a wit. (aus dem zweiten Band der Reihe The Corpse Steps Out)

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Ben Macintyre: Vergessenes Vaterland – Die Spuren der Elisabeth Nietzsche (OA 1992)

Ich habe keine Ahnung, wo ich auf dieses abgedrehte und spannende Buch aufmerksam geworden bin. 1992 erschien Forgotten Fatherland: The Search for Elisabeth Nietzsche von Benedict Richard Pierce Macintyre (*1963). Die deutsche Ausgabe Vergessenes Vaterland: Die Spuren der Elisabeth Nietzsche wurde von Mabel Lesch-Rey übersetzt.

In dem äußerst kurzweiligen Buch, dessen 279 Seiten mit Informationen und gut gewählten zeitgenössischen Zitaten gespickt sind, habe ich so einiges erfahren über die blutige Geschichte Paraguays, seine größenwahnsinnigen Herrscher, seine deutschen Bevölkerungsgrüppchen und über nach dem Zweiten Weltkrieg Eingewanderte, die immer noch Hitlerbilder an der Wand hängen haben, über Nietzsche, seine rührige Schwester, seine Philosophie und deren Vereinnahmung durch die Nazis. Und über den Wahn in so mancherlei Ausprägung.

Das Buch wechselt zwischen verschiedenen Zeitebenen. Zum einen begleiten wir Elisabeth Förster (1846 – 1935), die Schwester Friedrich Nietzsches, und ihren bis in die Haarspitzen antisemitischen Ehemann Bernhard Förster bei ihrer Ankunft 1886 in Paraguay.

Mitten im Dschungel Paraguays wollte man – zusammen mit 14 mehrheitlich armen Bauernfamilien aus Sachsen – die Reinheit der arischen Rasse und das deutsche Geisteswesen hochhalten. So ein Unterfangen schien ihnen in Deutschland nicht so richtig erfolgversprechend, zumal Förster aufgrund seiner grässlichen Hetze, die er als „Notschrei des deutschen Volksgewissens“ deklarierte, seine Lehrerstelle verloren und

seine Karriere als antisemitischer Siegfried […] eine Art toten Punkt erreicht [hatte].

Von Nueva Germania aus sollte dann die ganze Welt wieder mit deutschem Wesen beglückt werden. Um weitere deutsche Siedler anzulocken – in den ersten zwei Jahren wuchs die Zahl auf ca. 40 Familien – und die Spendenbereitschaft in Deutschland zu erhöhen, ließ man märchenhafte Berichte über das paradiesische Kolonialleben in deutschen Zeitungen drucken, in denen die Leser erfuhren, dass man als Deutscher in Paraguay quasi den ganzen Tag die Vorteile des Arierseins genießen konnte. Die farbigen Bediensteten würden einem die Arbeit immens erleichtern. Das Klima sei fantastisch und das Essen fiel sozusagen von den Bäumen.

Dies war selbstverständlich die reinste Phantasie. Die Hitze wurde nur von den unregelmäßigen, aber sintflutartigen Regenfällen unterbrochen, die Tiere ertränkten, Zäune fortrissen, sich durch Strohdächer ergossen und das Reisen schier unmöglich machten. Die Güsse brachten Schwärme fetter, mit Malaria infizierter Moskitos mit sich. Eine ständige Bedrohung war die Sandfliege; sie bohrte sich in die Füße, und die Wunde entzündete sich schnell, wenn sie nicht sofort behandelt wurde. Die Erde war fett und klebrig, praktisch nicht zu pflügen und widersetzte sich fast allen Arten der Bepflanzung. (S. 174)

1886 landete auch Reverend William Barbrooke Grubb in Paraguay, um die Eingeborenen zu missionieren. Seine Einstellung zu den indianischen Stämmen, unter denen er dann 20 Jahre lang lebte, zeugte allerdings eher weniger von christlicher Nächstenliebe:

Das Verhalten war kurz ausgedrückt folgendes: zu jeder Zeit und unter allen Umständen Überlegenheit und Autorität für sich in Anspruch zu nehmen … vielleicht illustrieren einige allgemeine Beispiele am besten, wie ich diese Strategie verfolgte. Sobald ich in einem Dorf ankam, bestand ich, soweit dies möglich war, sofort darauf, daß alle Leute sich um mein persönliches Wohl kümmerten. Ich befahl einem, meine Ruhestätte zu bereiten, einem anderen, Feuer zu machen, einem dritten, mir Wasser zu bringen, und wieder einem anderen, mir meine Kniestiefel auszuziehen. Wenn die Hitze groß oder die Fliegen lästig waren, veranlasste ich zwei, mit Fächern bei mir zu sitzen. Wenn ich zu Fuß unterwegs war und einen Sumpf durchqueren mußte, befahl ich einem, mich hinüberzutragen – alles in allem, ich tat nichts selbst, wozu ich sie überreden konnte …

Unter den gegebenen Umständen war es erstaunlich, daß niemand schon früher auf den Gedanken gekommen war, ihn zu erschießen [1891 hatte ein Indio versucht, ihn mit einem vergifteten Pfeil zu ermorden], aber sein Verhalten wurde von fast allen europäischen Reisenden im Lande nachgeahmt. (S. 63)

Wenn man liest, wie unvorbereitet und arrogant diese „Herrenrassenmenschen“ in das Unterfangen stolperten – irgendwann ließ der Geldstrom aus Deutschland nämlich nach und sie hatten keine Ahnung, was und wie sie etwas dort sinnvoll anbauen konnten – kann man nur den Kopf schütteln. Einige starben an Krankheiten; die, es sich leisten konnten, kehrten zurück, einige reisten weiter und ließen sich woanders nieder. Doch es gab auch genügend Familien, die blieben.

Währenddessen ritt Bernhard Förster auf einem Schimmel durch die Kolonie und verlangte, dass alle anderen abstiegen, wenn er ihnen begegnete. Zwei Jahre später – allmählich war die Wahrheit über die wirtschaftlich katastrophale Lage der Kolonie bis nach Deutschland gedrungen – beging Förster in einem Hotel in San Bernardino Suizid, er war finanziell ruiniert. Elisabeth hielt in ihrem edlen Haus die Fahne noch ein bisschen länger hoch, bevor sie nach Deutschland zurückkehrte. Die übrigen Siedler kämpften tapfer gegen die Vermischung mit den „minderwertigen“ Einheimischen (nicht immer erfolgreich) und pflegten ihr Sächsisch.

In einem weiteren Handlungsstrang unternimmt Macintyre ebenfalls diese beschwerliche Reise nach Paraguay auf den Spuren der Försters, bei der er herausfinden will, ob es noch Nachfahren der Kolonisten in Nueva Germania gibt.

Ich blätterte meine Geschichte Paraguays durch, die zum großen Teil von Schlangen handelt. […] Die, die ich am wenigsten Lust hatte zu treffen, war die cinco minutos, die Fünfminutenschlange, so genannt, weil man exakt diese Zeit zur Verfügung hat, um sich ein paar wunderbare letzte Worte auszudenken. (S. 105)

Als Macintyre tatsächlich noch Nachfahren der deutschen Siedler findet, sind bei einigen die Folgen von generationenlanger Inzucht nicht zu übersehen. Mit Ralph Ruthe möchte man da schon ausrufen: Alle bekloppt.

Die dritte Ebene hangelt sich an der Biografie Elisabeths entlang. Wir erfahren, wie sie als junge Frau an ihrem Bruder hing. Nach der Lektüre würde ich allerdings sagen, sie hing umso intensiver an ihm, je berühmter er wurde, und genoss es in vollen Zügen, durch ihn in ihrer Jugend Zugang zu den Kreisen um Richard Wagner und anderen Berühmtheiten der damaligen Zeit bekommen zu haben.

Nachdem Elisabeth 1893 aus Nueva Germania nach Deutschland zurückgekehrt ist, beginnt sie sich um ihren erkrankten Bruder und dessen Schriften zu kümmern. Sie drängt ihre Mutter sowohl aus der Pflege ihres Bruders als auch aus der Verantwortung für Nietzsches Werke hinaus und hält schließlich alle Fäden bei der wirtschaftlichen Vermarktung des immer berühmter werdenden Philosophen in der Hand, der dies – über die Diagnose gibt es unterschiedliche Sichtweisen – aufgrund seiner geistigen Umnachtung nicht mehr mitsteuern kann. 

Elisabeth zieht mit Friedrich nach Weimar und schafft dort mit der Villa Silberblick und dem von ihr gegründeten Nietzsche-Archiv eine Pilgerstätte für Nietzsche-Verehrer. Heute scheint es unstrittig zu sein, dass sie trotz kundiger Mitstreiter – sie selbst hatte keine Ahnung von Philosophie – bedenkenlos Schriften und Aussagen ihres Bruders abänderte, fälschte oder unter den Tisch fallen ließ, wenn ihr dies vorteilhaft erschien.

Sie stellt Nietzsche als Antisemiten und glühenden Nationalisten dar, was Macintyres Lesart von Nietzsches Werken diametral entgegensteht. Kritische Worte von Nietzsche über seine Schwester unterschlägt sie; in Briefen, in denen sich Nietzsche lobend über eine andere Frau geäußert hatte, setzt sie einfach ihren Namen ein.

Sie gewinnt einflussreiche Gönner und Mitarbeiter wie Harry Graf Kessler und lässt sich jahrelang von Ernest Thiel, einem schwedischen Bankier und Kunstsammler mit jüdischen Wurzeln, finanziell unterstützen. Für jemanden, der extra in den Dschungel gezogen war, um sich vor jeglichem jüdischen Einfluss zu schützen, zeigt das doch eine bemerkenswerte geistige Flexibilität. Sie verehrt Mussolini und unterhält in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts einen regen Briefwechsel mit ihm.

Es folgt das begeisterte Anbiedern an die Nationalsozialisten, deren „Größen“ wie Wilhelm Frick ihr allesamt ihre Bewunderung ausdrückten oder sie wie Hans Frank und Alfred Rosenberg in Weimar besuchten. Hitler, dessen Buch Mein Kampf sie in ekstatisches Gestammel ausbrechen lässt, wird von ihr im November 1933 mit Nietzsches Spazierstock beschenkt und der lässt sich dort in andächtiger Pose fotografieren.

Eines Nachmittags im Jahre 1934 wurden die deutschen Schulkinder in Sand Bernadino alle gemeinsam unter viel Aufregung von ihren Lehrern auf den Friedhof geführt, von dem aus man einen wunderbaren Blick auf den See hatte. Auf Hitlers Veranlassung war ein großes Paket aus Deutschland hierhergeschickt worden. Es enthielt echte deutsche Erde, etwas, das nur wenige der Einwohner von Sand Bernadino jemals zu erblicken gehofft hatten. Sie wurde, während die Kinder sangen, mit großem zeremoniellem Aufwand auf Bernhard Försters Grab gestreut. (S. 250)

1935 starb Elisabeth Förster-Nietzsche im Alter von 89 Jahren. Auch Hitler kam zu ihrer Beerdigung.

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Ruth Rehmann: Der Mann auf der Kanzel – Fragen an einen Vater (1979)

Ruth Rehmann, 1922 als Tochter eines Pastors geboren, war Leserinnen und Lesern vermutlich eher in den sechziger und siebziger Jahren ein Begriff. Nach Notabitur, Besuch einer Dolmetscherschule, Musikstudium (Geige) und Arbeit als Lehrerin, Pressereferentin und nach diversen Auslandsreisen begann sie als Schriftstellerin tätig zu sein und las aus ihrem ersten Roman Illusionen (1959) vor der Gruppe 47.

Als Ruth Rehmann das erste Kapitel dieses Romans der Gruppe 47 vorlas, bei der Tagung in Saulgau, bei der Günter Grass den Preis davontrug, hatte sie zumindest verhaltenen Erfolg. Danach gehörte Ruth Rehmann zur deutschen Literatur – nicht immer sehr sichtbar, was auch an den großen zeitlichen Abständen zwischen ihren Büchern liegt, aber doch gegenwärtig. (Thomas Steinfeld in der Süddeutschen Zeitung)

Sie schrieb sieben Romane, vier Bände mit Erzählungen und diverse Hörspiele. Auch politisch engagierte sie sich, u. a. in der Friedensbewegung. 2016 starb Rehmann im Alter von 93 Jahren.

In ihrem dritten Roman Der Mann auf der Kanzel – Fragen an einen Vater von 1979 setzt sich die Ich-Erzählerin, die in weiten Zügen wohl mit der Autorin gleichzusetzen ist, mit ihrer Kindheit in einem evangelischen Pfarrhaus zur Zeit des Nationalsozialismus auseinander. Ausgelöst durch Fragen ihrer Töchter und ihres Sohnes, der im dritten Semester Geschichte studiert und erfahren möchte

wie mein Vater mit den Lebensdaten 1875-1940 sich zum Nationalsozialismus verhalten hat. Die Pfaffen hätten eine höchst fragwürdige Rolle gespielt, außer Niemöller. […] Wie hat dein Vater zu Niemöller gestanden?

‚Er war ein unpolitischer Mensch‘, sage ich. ‚Er folgte seinem Gewissen.‘ ‚Wie machte er das, wenn man fragen darf?‘

Jeden Morgen neu den Auftrag der Bibel und die Losung der Herrnhuter Brüdergemeinde als Tagesbefehl erhalten. Jeden Abend vor dem Schlafengehen die Große Kontrolle geübt, wie sie auch den Kindern empfohlen wurde: Geh in dich! Überdenke den Tag im Licht des Gottesanspruchs – nicht nur Worte und Taten, sondern auch das, was Worte und Taten hervorbringt: Gedanken, Gefühle, Wünsche, Gesinnung … Hole Versäumtes nach, berichtige Irrtum und Lüge, mache Verdorbenes gut; was du nicht gutmachen kannst, trage im Bußgebet vor IHN und vor die, gegen die du gefehlt hast. […] Thomas begreift nicht, wie so ein Supergewissen die braune Zeit überdauern konnte, ohne im KZ zu landen. (S. 14)

Und so nimmt uns Rehmann mit in ihre Erinnerungen an ihren Vater, an dem sie als Kind sehr gehangen hat, dabei auch unmerklich manipuliert von den Lobsprüchen der Eltern, dass sie ihnen viel Freude und niemals Ärger mache, im Gegensatz zu den Geschwistern.

Die Aufgabe des Pfarrers hat ihr Vater, dessen Vater und Brüder ebenfalls als Pfarrer gearbeitet haben, immer sehr ernst genommen. Wir folgen ihn in seinem Arbeitsalltag, sehen sein Arbeitsethos.

Er hat im ersten Jahr die ganze Gemeinde zu Fuß durchwandert, jeden der im Register aufgeführten Namen abgeklappert, sich vorgestellt und eingeführt als einen, der von jetzt an einen persönlichen Platz in diesem persönlichen Leben einnehmen will. (S. 92)

Zu Fürsprachen, Vermittlungen, Bittgängen meldet er sich nie an. Heiter nach allen Seiten grüßend marschiert er in gesperrte Fabrikgelände, Chefetagen, mauerumhegte Villen, so sicher, daß sein Besuch Freude bereitet, daß den Besuchten nichts übrigbleibt als Freude zu zeigen. Unbefugt fühlt er sich nirgends. (S. 93)

Er begreift seine Gemeinde immer als sein Reich, seinen Weinberg, in dem er dazu berufen ist, zu trösten, zu schlichten, Seelen zu retten; selbst als ein schwer Betrunkener, der gerade seine Arbeit verloren hatte, im Pfarrhaus randaliert und alle in Angst und Schrecken versetzt, setzt sich der Pfarrer beim Fabrikbesitzer erfolgreich für dessen Wiedereinstellung ein.

Sein Ruf als Tröster, Ratgeber, Friedensstifter hat seine Amtszeit um Jahrzehnte überdauert. Heute noch weckt sein Name freundliche Gefühle. (S. 93)

Diese Ernsthaftigkeit hindert ihn aber nicht daran, auf „Proleten“ herabzuschauen und nur ungern in Hotels abzusteigen, dessen Besitzer katholisch waren.

Als Roman fand ich das Buch streckenweise ermüdend. Manchmal auch verklärend. Da hätte ich mir eine stärkere Einbeziehung der Sichtweisen der Mutter und der Geschwister gewünscht. Die Hintergrundkenntnisse zu den innerkirchlichen Auseinandersetzungen, in denen es um den Umgang der evangelischen Kirche mit dem nationalsozialistischen Herrschaftsanspruch ging, werden dem Leser als „Lektion“ des alten Dorflehrers verkauft, mit dem sich die Ich-Erzählerin einige Male trifft. Diese Vorlesung wirkt wie ein zwanghaft eingefügter Fremdkörper, bei dem die Autorin anscheinend nicht wusste, wie man sonst der Leserin die kirchlichen Querelen hätte erklären können. Seltsamerweise werden die Judenverfolgung in Auel und die Reichspogromnacht in diesem Buch völlig ausgeblendet, was bei der ursprünglichen Fragestellung doch verwundert.

Dennoch ist das Buch für denjenigen, der sich wie Sohn Thomas fragt, wie es dazu kommen konnte, dass auch in der Kirche so viele bereit waren, den Nazis Tür und Tor zu öffnen, durchaus erhellend. Man erfährt, wie für ein evangelisches Pfarrhaus schon lange vor Hitler Gehorsam gegenüber der Obrigkeit, Vaterlandsliebe und Religion zusammengingen.

Gegen Verhältnisse zu kämpfen, kommt ihm nicht in den Sinn. Sie gehören zu der ersten Sorte von Lasten [an denen man nichts ändern kann], die in Geduld und Demut zu tragen sind. (S. 93)

In seinen Predigten, wenn wieder ein Soldat im Ersten Weltkrieg gefallen war, sagt er:

Je größer die Lücken werden, die der Tod in unsere Reihen reißt, je größer die Lasten und Aufgaben, die der Krieg an unser Volk hier draußen und daheim stellt, um so mehr tut es not, daß wir uns mit ganzem Herzen dem Vaterland weihen, unsere Seele hineinlegen und hingeben an unseren Dienst. Das geschieht, wenn wir in der schwersten Pflicht unser höchstes Recht erkennen und begreifen. Der, der den Paulus so froh und stark, so reich und frei gemacht, ist heute noch derselbe, ist dein und mein Heiland, bereit, auch an jedem unter uns seine Herrlichkeit zu offenbaren. Ihn braucht unser Volk. Ihn brauchen wir alle. Möchten wir ihm uns alle selbst zu eigen geben. Amen. (S. 90)

Die Loyalität, die der Vater dem Kaiser entgegengebracht und mit der er im Ersten Weltkrieg in Frankreich als Kriegsgeistlicher gedient hatte, hing während der Weimarer Republik quasi heimatlos in der Luft. ‚Republik‘ war ein unanständiges Wort und die ‚Roten‘ wurden als Verräter und vaterlandslose Gesellen diffamiert, vor denen man nur in Angst und Abscheu zurückweichen konnte. Man fürchtete auch um sein Ansehen, seine Privilegien. Nicht die vielen sollten entscheiden; die Masse, der Pöbel solle sich lieber leise und unauffällig verhalten.

Vorbehalte und Ressentiments gegen Juden eingeschlossen. Im Urlaub lernt der Vater einen Mann kennen, der ihm hochsympathisch ist, und ist dann wie vom Donner gerührt, als er erfährt, dass Herr Jacobi Jude ist.

‚übrigens: Herr Jacobi ist Jude, hätte ich nie gedacht.‘ Eilig fügt er hinzu: ‚Natürlich getauft. Ein besserer Christ und Patriot als mancher Deutsche, weit herumgekommen, mit offenen Augen durch die Welt, da kann man noch was lernen, Gesichtskreis erweitern …‘ (S. 116)

Der schleichende und irgendwann ja nicht mehr zu übersehende Machtanspruch der Nationalsozialisten wird naiv und kurzsichtig kleingeredet. Als man ihn 1933 vor dem neuen SA-Bürgermeister warnt, ist er ganz erstaunt: Mit dem käme er schon zurecht. Den kenne er schließlich, sei ein bisschen beschränkt, aber kein übler Kerl. Man müsse einfach an das Gute im Menschen appellieren. Als er das erste Mal von KZs hört, ist er außer sich, weil er das nicht glauben kann, und weist den Informanten aufs Schärfste zurecht.

Sein Weltbild gerät erst da ins Wanken, als er erfährt, dass auch in seiner Gemeinde Mitglieder heimlich der Bekennenden Kirche zugehören. Er verurteilt diese Spaltung und findet, dass es dann ja kein Wunder sei, wenn der Führer nun meine, härter durchgreifen zu müssen.

Rehmanns Vater war kein glühender Hitler-Anhänger. Möglicherweise fand er ihn zu laut, zu proletenhaft. Er sieht weder einen „göttlichen Funken“ in ihm noch will er „Mein Kampf“ im Hause haben. Dennoch:

Stellung zu beziehen, auch gegen die „von Gott eingesetzte“ Obrigkeit, und vielleicht nicht länger die Respektsperson sein, die niemand zu hinterfragen wagt, das sind Aspekte, die in diesem Welt- und Glaubensbild nicht vorgesehen sind. Als die SA vermutlich aus Versehen einen ihrer eigenen Kameraden erschossen hat und dennoch ein ‚Roter‘ dafür verurteilt wird, schweigt der Pfarrer.

Wenn wir zusammen gingen, mein Vater und ich, dann sagten wir unseren Spruch. Er hieß: „Wir zwei beide!“ und drückte aus, daß wir zusammengehörten, der Älteste und die Jüngste der Familie, und daß nichts auf der Welt uns dazwischenkommen könnte. Auf die letzte Silbe von „beide“ setzten wir einen Akzent. Wenn wir links angefangen hatten, traf er auf den rechten Fuß, der dabei heftig aufstampfte. So zogen wir flüsternd und stampfend durch die Straßen von Auel, wo mein Vater Pfarrer war … (S. 9.)

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Fundstück von W. Somerset Maugham

I have always hesitated to give advice, for how can one advise another how to act unless one knows that other as well as one knows oneself? Heaven knows, I know little enough of myself: I know nothing of others. We can only guess at the thoughts and emotions of our neighbours. Each one of us is a prisoner in a solitary tower and he communicates with the other prisoners, who form mankind, by conventional signs that have not quite the same meaning for them as for himself.

Aus: W. Somerset Maugham: The Happy Man, zitiert nach: Collected Short Stories, Band 1, Penguin, London 1977, S. 323

Fundstück von W. Somerset Maugham

For thirty years now I have been studying my fellow-men. I do not know very much about them. I should certainly hesitate to engage a servant on his face, and yet I suppose it is on the face that for the most part we judge the persons we meet. We draw our conclusions from the shape of the jaw, the look in the eyes, the contour of the mouth. I wonder if we are more often right than wrong. Why novels and plays are so often untrue to life is because their authors, perhaps of necessity, make their characters all of a piece. They cannot afford to make them self-contradictory, for then they become incomprehensible, and yet self-contradictory is what most of us are. We are a haphazard bundle of inconsistent qualities. In books on logic they will tell you that it is absurd to say that yellow is tubular or gratitude heavier than air; but in that mixture of incongruities that makes up the self yellow may very well be a horse and cart and gratitude the middle of next week. I shrug my shoulders when people tell me that their first impressions of a person are always right. I think they must have small insight or great vanity. For my own part I find that the longer I know people the more they puzzle me: my oldest friends are just those of whom I can say that I don‘t know the first thing about them.

aus: W. Somerset Maugham: A Friend in Need, zitiert nach: Collected Short Stories, Band 2, Penguin, London 1977, S. 286

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Erling Kagge: Stille – Ein Wegweiser (OA 2016)

Der 1963 geborene Anwalt, Extremsportler, Verleger und Kunstsammler Erling Kagge hatte den richtigen, wenngleich nicht wirklich bahnbrechenden Gedanken, dass wir modernen Menschen ein wenig mehr der Stille bedürfen. Also hat er dann 2016 einen kleinen Wegweiser mit „dreiunddreißig Versuche[n] einer Antwort“ zu diesem Thema veröffentlicht. Übersetzt wurde das schmale Werk – knapp 100 großzügig gesetzte Seiten – von Ulrich Sonnenberg.

Caroline Fink schrieb in der NZZ:

Elegant geschriebene Texte, die ein Gesamtbild entstehen lassen, das am Ende mehr als die Summe seiner Teile ist. Und die gerade mit dem Verzicht, die Stille in ihrem innersten Kern zu ergründen, der Unergründlichkeit des Betrachtungsgegenstandes gerecht werden.

Auch die anderen mir bekannten Besprechungen äußerten sich wohlwollend bis begeistert, ja andächtig. Doch mir blieb das alles viel zu sehr an der Oberfläche. Nichts fand ich falsch. Alle Ansätze bedenkenswert, wenn sie denn mehr in die Tiefe gegangen wären. Name Dropping, das mich unbeeindruckt gelassen hat. Zitate, von denen man schon einige kannte. 

Es gibt eine Menge Dinge im Leben, über die sich staunen lässt. Es ist eine der reinsten Freuden, die ich mir vorstellen kann. Ich mag dieses Gefühl. Ich staune oft, ja, ich staune nahezu überall: Auf Reisen, wenn ich lese, wenn ich Menschen begegne, wenn ich schreibe, wenn ich spüre, wie mein Herz schlägt, oder sehe, wie die Sonne aufgeht. Das Staunen gehört zu den stärksten Kräften, die uns in die Wiege gelegt wurden. Und gleichzeitig ist es eine der schönsten Fähigkeiten, die es gibt. (S. 19)

Ja, reden, genau das soll die Stille tun. Sie soll reden, und du sollst mit ihr reden und das Potenzial nutzen, das darin liegt. […] ‘sie trägt auch eine Art Macht in sich […]. Und derjenige, der nicht über diese Macht staunt, fürchtet sich vor ihr. Und das ist wohl der Grund, warum so viele vor der Stille Angst haben (deshalb gibt es auch überall, wirklich überall diese Muzak).‘

Ich erkenne die Angst wieder, über die Fosse schreibt. Eine vage Angst vor etwas, von dem ich im Grunde nicht weiß, was es ist. Eine Angst, die bewirkt, dass ich allzu schnell meinem eigenen Leben aus dem Weg gehe. Stattdessen beschäftige ich mich irgendwie, vermeide die Stille […]. Ich glaube, die Angst, die Fosse nicht benennt, ist die Furcht, sich besser kennenzulernen. (S. 20/21)

Ein Überfluss von Erlebnissen kann ebenfalls zu Erlebnisarmut führen. […] Es wird zu viel. Das Problem ist laut Svendsen, dass wir ‚ständig intensivere Erlebnisse‘ wollen, statt ein paar Mal tief durchzuatmen, die Welt auszusperren und die Zeit aufzubringen, uns selbst zu erleben. Die Idee, der Langeweile zu entgehen, indem wir ständig etwas Neues tun, immer erreichbar sind, Nachrichten versenden, weitertippen und etwas sehen wollen, was wir noch nicht gesehen haben, ist naiv. (S. 66)

Die Stille kann überall und jederzeit auftauchen – direkt vor unserer Nase. […] Ja, wir alle sind Teil eines Kontinents, doch das potentielle Vermögen, eine Insel für uns selbst zu sein, tragen wir ständig mit uns herum. (S. 78/79)

Ich hatte im Stillen wohl so etwas erhofft, wie es Gabriele von Arnim mit ihrem Buch über den Trost der Schönheit und Axel Hacke mit seinen Gedanken zur Heiterkeit geglückt war. Dagegen ist das Werk von Kagge nur ein besserer Einkaufszettel.

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Nele Pollatschek: Kleine Probleme (2023)

Alle Kritiker und Kritikerinnen sind voll des Lobes und ich stimme da umstandslos und ohne Umwege einfach mit ein. Sollte also jemand Kleine Probleme von Nele Pollatschek noch nicht kennen, so möge er – im Gegensatz zu Pollatscheks Hauptfigur Lars – nicht länger herumtrödeln und die Lektüre des Romans unverzüglich in Angriff nehmen.

Lars Messerschmitt ist 49 und lebt mit Johanna zusammen, die beiden haben zwei Kinder, Lina und Yannis. Johanna ist Lehrerin, allerdings für ein paar Monate in den Auslandschuldienst gewechselt, weil sie nicht weiß, ob sie ein Zusammenleben mit dem ewigen Prokrastinierer, Haushaltsmuffel und Möchtegern-Autor Lars noch länger aushält.

Es ist Lars, der uns in einem ununterbrochenen und ausgesprochen unterhaltsamen Gedankenstrom die Geschichte erzählt. Er ist der total verpeilte Typ, der, wenn es gut lief, seine Kinder zu irgendwelchen Terminen brachte, dann aber garantiert vergaß, sie auch wieder abzuholen. Er hofft seit Jahren (vergeblich) auf die Inspiration für sein Meisterwerk. Haushalt, Spülmaschine, Einkaufen und Saubermachen sind auch eher nicht so sein Ding, weil immer irgendetwas dazwischenkommt oder schlicht dagegen spricht. Dass er in seiner Lage als privilegierter Westeuropäer ohne existenzielle Sorgen da natürlich auf sehr hohem Niveau jammert, ist ihm bewusst, hilft ihm aber auch nicht weiter.

Wie beschissen ist es bitte, wenn einem alle Türen offenstehen und man trotzdem stehen bleibt. Wenn man keinen Grund dafür hat, so zu sein, aber man ist halt trotzdem so. Wenn alles einfach ist und einfach ist viel zu schwer. Das ist doch wirklich schlimm, grundlos scheitern ist doch wirklich scheitern, und dafür bemitleidet einen keiner. Ach, egal. (S. 20)

Alle behaupten immer, sie wollen einem helfen, aber einfach mal zur Handfeuerwaffe greifen, das will dann wieder keiner. Und dabei könnte es doch so einfach sein, wenn es nur viel schwerer wäre. Wenn es hart auf hart kommt, kann man alles schaffen, aber meistens kommt es weich auf weich, und da bleibt man besser liegen. (S. 63)

Seit einigen Monaten lebt er allein im Haus – Johanna im Ausland, Sohn Yannis ausgezogen und Tochter Lina im Schüleraustausch -, doch jetzt an Silvester will sich die gesamte Familie bei Yannis treffen und feiern. Eigentlich toll, gäbe es da nicht das kleine Problem, dass Lars in der letzten Woche des Jahres eigentlich seine To-do-Liste hätte abarbeiten wollen. Da er das natürlich auch wieder aufgeschoben hat, bleibt ihm jetzt nur noch der 31. Dezember, um alles zu erledigen. Denn er will Johanna nicht verlieren und er befürchtet, dass wenn er sich nicht endlich etwas Mühe gibt, sie vielleicht nicht mehr zu ihm zurückkommen wird.

Es war Freitag, der 31. Dezember, und ich musste noch was erledigen. Also alles. Und wenn ich das so schreibe, habe ich gleich Linas Papa, übertreib nicht immer so im Kopf und wie sie dann nachdrücklich nicht mit den Augen rollt, weil das pubertär sei, und mit sechzehn findet sich das Kind zu alt für pubertär. Ohne zu übertreiben, war es natürlich nicht wirklich alles, was ich noch erledigen musste. Ukraine zum Beispiel, eindeutig nicht meine Aufgabe. Geldpolitik des Europäischen Wirtschaftsraums. Kohleausstieg. Seenotrettung. Wobei Yannis sagen würde, das sei sehr wohl meine Aufgabe, weil es unser aller Aufgabe sei, und damit hat er irgendwie recht, wie man mit zwanzig immer irgendwie recht hat, aber halt nur irgendwie.

Also musste ich vielleicht nicht wirklich alles erledigen, aber eben doch alles, was nicht nur irgendwie meine Aufgabe war, sondern eben auch wirklich. Alles, was ich in dieser Woche nicht geschafft hatte, oder in diesem Monat, in diesem Winter, in diesem Jahr, in diesem ganzen verdammten Leben. In neunundvierzig Jahren sammelt sich eine ganze Menge alles an. (S. 13)

Hier sehen wir schon, wie Lars von Hölzchen auf Stöckchen kommt, witzig, sympathisch, vom Oberflächlichen zum Grundsätzlichen, vom Kleinen bis ins Unendliche und wieder zurück. Kein Wunder, dass er da – stellvertretend für uns – immer wieder an den alltäglichen Aufgaben scheitert bzw. sie alle auf morgen verschiebt.

Doch nun ist die Lage ernst und tapfer erstellt Lars eine Liste, die er bis um Mitternacht abgearbeitet haben will. Darauf stehen Dinge, wie ein IKEA-Bett für seine Tochter aufzubauen, das Haus putzen, die Steuererklärung (nein, nicht die vom letzten Jahr), Geschenke einpacken, Vater anrufen, das Feuerwerk einpacken und einen Nudelsalat machen (durchaus schwierig, wenn man die Zutaten dafür nicht eingekauft hat), die Regenrinne reinigen, sein Lebenswerk schreiben und last but not least „Es gut machen“.

Das klingt alles erst mal unspektakulär, aber bei Pollatschek wird das Abarbeiten dieser Liste zum ganz großen Kino. Die Überforderung, die der moderne Alltag für jemanden bedeuten kann, der lieber mit Sprache umgeht, diskutiert, die Sinnfrage stellt und der so furchtbar ungern öde Dinge tut, dann aber unter seinem eigenen Zaudern und Prokrastinieren leidet, spätestens wenn es einen die geliebte Frau kosten könnte.

Lars, konzentrier dich. Ich würde mich ja gerne konzentrieren, ich vergesse es nur immer. Eigentlich bräuchte man jemanden, der den ganzen Tag mit einer Klangschale hinter einem herläuft und einen immer, wenn man das Konzentrieren vergisst, lautstark daran erinnert. Dong. (S. 89)

Das ist so witzig, spannend und unfassbar sympathisch; ich würde sofort mit Lars ein Bierchen trinken gehen und seinem klugen, abgedrehten Sprachwitz lauschen. Und natürlich will ich wissen, wie er so mit seiner Liste zurande kommt.

Jedenfalls werde ich mich die nächste Zeit immer freuen, falls jemand Nudelsalat erwähnen sollte (Nachkochen nicht zu empfehlen). Gleichzeitig erkenne ich mich in ihm wieder und am liebsten hätte ich sofort auch alles erledigt, aufgeräumt, das Arbeitszimmer tipptopp und alle Schubladen und Schränke, alle Mails beantwortet und Sport und die Sinnfrage sowieso … ihr wisst schon.

ich muss mich noch bei allen melden, zu denen ich mal ich melde mich dann gesagt habe, ich muss noch aus der Kirche austreten, ich muss Gott finden, ich muss verdammt nochmal endlich den Müll runterbringen, ich muss noch herausfinden, warum mein Knie seit einigen Jahren so komisch klackert und ob der Schmerz in der Brust vielleicht doch nur Angina ist, ich muss den Kindern noch ein Erbe erarbeiten, die Regenrinne muss ich noch vom Vorjahresherbst befreien […], ich muss noch mein Lebenswerk verfassen. Die meisten meiner guten Taten muss ich noch vollbringen, ich muss noch schnell mein Potenzial ausschöpfen, […] ich muss so vieles noch erledigen, Dringendes, Unangenehmes, eigentlich Schönes, ein paar Lappalien, sehr viel Entscheidendes, diesen ganzen Kram, dieses ganze Alles, dieses einzige Leben. Ich habe es noch nicht mal richtig angefangen, und es ist doch schon so spät. (S. 14/15)

Ich könnte mich jetzt schon wieder in diesem Buch mit dem so schön geprägten Schutzumschlag festlesen.

und eh man es sich versieht, sieht man, wenn man jetzt tatsächlich hinsähe, dann müsste man das ganze Leben aufräumen. Also sieht man besser nicht hin. Und die Welt denkt dann vielleicht, man sei faul, dabei ist man den ganzen Tag schwer damit beschäftigt, nicht hinzusehen. Und das wissen die wenigsten, wie anstrengend es ist, nicht hinzusehen … (S. 53)

Hier geht es lang zu einem Interview mit der Autorin in der ARD Audiothek.

Und wer dann immer noch Lust auf To-do-Listen und Leben-Aufräumen hat, dem sei das Buch The To-Do List von Mike Gayle von 2009 empfohlen.

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Fundstück von Erich Kästner

Sie folgten einem Weg, der über verschneites, freies Gelände führte. Später kamen sie in einen Tannenwald und mussten steigen. Die Bäume waren uralt und riesengroß. Manchmal löste sich die schwere Schneelast von einem der Zweige und stäubte in dichten weißen Wolken auf die zwei Männer herab, die schweigend durch die märchenhafte Stille spazierten. Der Sonnenschein, der streifig über dem Bergpfad schwebte, sah aus, als habe ihn eine gütige Fee gekämmt. Als sie einer Bank begegneten, machten sie halt. […] Ein schwarzes Eichhörnchen lief eilig über den Weg. Nach einer Weile erhoben sie sich wortlos und gingen weiter.

aus: Erich Kästner: Drei Männer im Schnee, Atrium Verlag, Zürich 2017, S. 104 – 105

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Camille Fouillard: Precious Little (2022)

Ich habe mich ganz ohne Vorkenntnisse in diesen bewegenden und wahrlich Augen öffnenden Roman über die Utshimassiu Innu in Labrador gestürzt, aber während der Lektüre wird man schon aus Interesse unweigerlich einiges nachschlagen, das kanadischen Leserinnen und Lesern bereits aus den Nachrichten bekannt sein dürfte.

Die Autorin Camille Fouillard verarbeitet in diesem Buch ihre jahrzehntelangen Erfahrungen in der Arbeit mit den Innu.

I know precious little, but I do know that I‘ve been called to bear witness with the Innu to loss and grief, trauma, story, resistance and joy. Why tell, and how to tell? What is it like to tell? This is my story, flawed and incomplete, and only mine – an attempt to weave together some kind of whole from many separate and disparate bits and pieces, fragments of experiences, emotions, intuitions and knowledge, including the gaps and the unknowable of the Innu world. (S. VII)

Fouillard wählt als Ausgangssituation für ihre weiße Ich-Erzählerin Anna, dass diese 1992 von den Innu gebeten wird, ein „people‘s inquiry“ zu moderieren. Dabei soll es darum gehen, dass die Innu selbst – und eben nicht irgendwelche Experten und Bürokraten von außen – die tiefer liegenden Gründe dafür suchen, weshalb bei einem Wohnungsbrand in ihrem Dorf sechs Kinder ums Leben kamen, während sich ihre Eltern bei einer Feier zum Valentinstag betrunken haben. Dieses tragische Ereignis, das sich 1992 tatsächlich so zugetragen hat, steht aber nicht isoliert in der Innu-Gemeinschaft auf der Insel am Davis Inlet, wohin die Regierung die Innu in den sechziger Jahren zwangsangesiedelt hatte, um ihnen das Nomadenhafte endgültig auszutreiben. Unfassbar viele im Dorf sind alkoholabhängig, die Männer verprügeln ihre Frauen, viele Kinder verwahrlosen und schnüffeln Benzin. Die Ergebnisse dieses „Geschichtensammelns“ sollen der Regierung übergeben werden in der Hoffnung, dadurch Druck in der Öffentlichkeit zu erzeugen, der vielleicht sogar darin mündet, von der Insel wegziehen und sich woanders neu ansiedeln zu können.

Anna wird als weiße Akademikerin auf der einen Seite gebraucht, um diesen Prozess zu begleiten und die Ergebnisse in eine entsprechende Form zu bringen, gleichzeitig wird sie misstrauisch beäugt, manchmal auch feindselig angegangen, spricht sie doch die Sprache der Innu trotz größter Anstrengungen nur sehr bruchstückhaft und muss sich also in Englisch, der Sprache der Unterdrücker und Ausbeuter, verständlich machen. Auch sie wird beinahe Opfer männlicher Gewalt, als zu viel Alkohol geflossen ist, und es ist nicht immer einfach für sie zu akzeptieren, dass Dinge in der Innu-Welt anders verhandelt werden und sich außer ihr keiner einen Kopf darum macht, was alles an Bedeutungsnuancen bei den diversen Übersetzungsschritten ins Englische, dann wieder zurück in die Sprache der Innu verlorengehen kann.

Man einigt sich in einem Team darauf, welche Fragen man allen Dorfbewohnern stellen will und die Interviewer ziehen dann von Haus zu Haus und lassen sich beispielsweise erzählen, welche Rolle die katholische Kirche oder die Schule in den letzten Jahrzehnten gespielt haben. In der Schule unterrichten nur Weiße hauptamtlich, bei dem Curriculum spielen weder die Sprache noch die Kultur der Innu eine Rolle. Es gibt keine Toiletten in der Schule und den Kindern ist es aufgrund der Schulpflicht verboten, die Eltern bei längeren Jagdaufenthalten zu begleiten. Vom sexuellen Missbrauch ganz zu schweigen.

First the kakeshauts [white English speaking] take our land, then our language, then our kids, he goes on. They take our kids and do whatever they want. That‘s how the school change us. I don‘t know how to respond. My mind is still rushing around. I want to say I‘m sorry. (S. 99)

Das Besondere ist nun, dass wir als Leserinnen und Leser quasi mit Anna für die nächsten Monate in diesem Dorf leben. Die Gastfreundschaft erfahren. Einblick in verschiedene Familien, Häuser und Zelte gewinnen. Uns mit Anna auch fremd fühlen.

She asked me once why I was so useless with an axe. A grown woman.

When I was a kid and our house got cold, I turned a dial on a small box on the wall, I said. I‘d shown her how, a gesture, a twist of the hand.

That explains everything, she‘d said. (S. 23)

Die Not. Die beschädigten Leben, die aber nie vorgeführt werden. Satellitenfernsehen. Die Folgen des strukturellen Rassismus. Man hat den Innu in Davis Inlet ein ganzes Dorf mit einigen Häusern gebaut, doch ohne fließendes Wasser, überhaupt ohne Abwassersysteme. Dann kommen Sozialarbeiterinnen und bemängeln, dass die Kinder nicht sauber genug seien. Also wird ein Kurs in Haushaltsführung angeordnet, der bei den Innu – Überraschung – nicht auf besonders große Gegenliebe stößt.

Die Regierung bewilligt Gelder, doch die Ursachen der Probleme geht man nicht an. Der Schulunterricht findet ausschließlich in Englisch statt, die Insellage ermöglicht nur im Winter, auf Jagd zu gehen. Die Kinder verlieren allmählich den Kontakt zu den Traditionen der Jagd und Selbstversorgung. Die Dorfbewohner werden zu eifrigen Sozialhilfe-Empfängern, denn es gibt kaum Arbeit. Das Geld wird versoffen. Das Dorf hat schließlich eine der höchsten Selbstmordraten weltweit. Und die Zahl derjenigen, die noch die alten Überlieferungen kennen und in der alten Spiritualität zuhause sind, nimmt unaufhaltsam ab. Wird einer der Innu-Männer bei der illegalen Jagd erwischt, nehmen ihm die Gesetzeshüter seine Jagdausrüstung ab. Und damit die Möglichkeit, seine Familie zu ernähren.

Und die Wurzel allen Übels: der weiße Kolonialismus, bei dem man völlig ignorierte, dass da bereits Menschen lebten, die natürlich störten bei der Aneignung des Landes und seiner Bodenschätze. Die kanadische Luftwaffe übt Tiefflüge direkt über dem Dorf der Innu, weil das Gebiet ja quasi unbewohnt sei. Man errichtet Stauseen, wo die Innu Jahrhunderte lang gejagt haben. Alles ohne Mitsprache der Ureinwohner.

Anna macht diese Zwiespältigkeit oft genug zu schaffen. Sie ist sich als Weiße und als Nachfahre der weißen Ausbeuter dieser geschichtlichen Verwerfungen bewusst und möchte doch so gern helfen und ist sich über ihre Motive selbst oft nicht im Klaren.

Wanting things to be perfect is one of the most annoying afflictions of being white. (S. 112)

Invited guest or not doesn‘t mean I‘m actually wanted here. (S. 124)

Eine der Höhepunkte des Buches ist die Schilderung eines Jagdausfluges im Winter, bei dem Anna mit den Frauen einen Tag auf die Jagd geht und miterlebt, was es wirklich bedeutet, auf Schneeschuhen und bei fiesen Minustemperaturen seine Nahrung zu jagen, zuzubereiten und nicht versehentlich sein Zelt abzufackeln.

The wild beauty of this walk feels safe and tranquil, but this land is scary, fierce and austere, uninhabitable, not a place to be alone. So bloody cold. (S. 161)

Am Ende des Buches kehrt Anna samt fertigem Bericht zurück in die „Zivilisation“ samt Badewanne und Schaumbad. Eine vorsichtige Hoffnung auf eine bessere Zukunft für das Dorf zeichnet sich ab.

Bei weiterer Recherche findet man heraus, dass das Dorf 2002 tatsächlich unter irrem finanziellen Aufwand von der Insel aufs Festland umgesiedelt worden ist, so wie sich das diejenigen gewünscht hatten, die für ihre Kinder eine bessere Zukunft erhofft haben. Doch die Probleme mit drogenabhängigen Jugendlichen, fehlender Schulbildung, Alkoholismus und Kriminalität sind damit nicht einfach aus der Welt, zumal viele Kinder bereits vor der Umsiedlung mit Fetalen Alkoholspektrum-Störungen geboren wurden, die sie ihr ganzes weiteres Leben beeinträchtigen werden.

Ich fand das Buch unbedingt lesenswert. Man lernt so viel. Es macht einen traurig, wütend, ratlos und gleichzeitig ist es nicht ohne Komik – ich habe regelrecht mitgelitten, als Anna an der Kompliziertheit der Sprache schier verzweifelt.

Auch dass Anna sich ihres eigenen Überheblichkeitsgefühls bewusst ist und immer wieder dagegen angehen muss, fand ich sehr ehrlich und nahbar.

I do it too, even with my best of intentions: talk down or like they are ‚other‘ or they just don‘t know how things work, make pronouncements on ‚the Innu‘, like they are all the same. Wishing they were just a little more predictable, or cooperative. Meaning what? Those thoughts seem impossible to intercept. Like changing your DNA. So much for trying. (S. 144)

Der Roman lässt die Innu selbst zu Wort kommen und erweist ihnen Respekt – ohne sie dabei zu verklären oder ihre Eigenverantwortung zu leugnen -, die ganz anders leben möchten, als ich das kenne, die über eine so reiche Kultur verfüg(t)en und selbstredend der Erde wesentlich weniger Schaden zufügen würden, als wir das tun. Die Selbstverständlichkeit, mit der die Weißen immer meinten, die Innu könnten und müssten von ihnen lernen, statt umgekehrt, erscheint einem am Ende reichlich absurd.

Anna hat jedenfalls am Ende ein ganz klein bisschen besser verstanden, wie sie ihre Frage beantworten kann:

Where have I been all my life? (S. 181)

Die kleinen Schwächen, wie dass die Autorin ihre Hauptfigur Anna mit eigenen Problemen regelrecht überfrachtet hat, ich nicht jeden Satz und jede Nuance in jedem Gespräch gebraucht hätte und ich es irgendwann aufgab, den Überblick über all die vielen, vielen Namen zu behalten, fallen da nicht wirklich ins Gewicht.

This place has wrecked me, its grief, and it keeps hitting me over and over as ugly as I feel inside. Heartbreak is not respectable in our culture. We celebrate winners, or at least bravery and resilience, but we run from broken people. Their suffering is painful to watch. Do the broken need to make such a spectacle of themselves […]? There is also the small point that maybe we should do something about this mess? […] I‘ve done stupid things and I‘ve made mistakes. The nerve of this is raw and maybe it will always be raw, but somewhere there is kindness and generosity. I want to be in that place […]. Contrition can sting us into a kind of surrendering, awkward, discomfiting love. (S. 183)

Wer sich einmal an der Sprache ausprobieren möchte, der kann ja schon mal in dem Kurs für Anfänger die Aussprache einiger Alltagsvokabeln üben.

Hier noch zwei Hintergrundartikel:

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Fundstücke von Helga Schubert über den Winter

Im Winter wird mein Leben klar und durchsichtig. Ich liebe den Winter. Das Schönste am Winter ist eigentlich, dass die Bäume keine Blätter haben. Ich werde nicht abgelenkt von ihrer wahren Gestalt. Von ihren Verwachsungen, ihren nach innen gerichteten Ästen, dem Versuch ihrer Kronen, das Gleichgewicht zu halten. Nackt, würdig, schutzbedürftig und verletzlich stehen sie vor mir. Kein Baum ist in den Himmel gewachsen. (S. 83)

Wenn ich von der Kälte oder dem Sturm draußen in die Wärme der Wohnung komme, die angewärmten Hausschuhe anziehe, einen Tee aufbrühe, mich in eine Decke wickele, es muss eine rotgemusterte Wolldecke sein, dann ist der Winter mein Alibi: Ich darf mich nur mit meinen Gedanken beschäftigen, mich erinnern an lange Vergangenes, an Zusammensein mit Menschen, die nicht mehr auf dieser Erde sind, aber das macht nichts, denn sie sind mir so vertraut, als ob sie gerade nur aus dem Zimmer ins Nachbarzimmer gingen. Im Winter leisten sie mir in der Wärme Gesellschaft. Hellsichtig wird mein Leben im Winter. (S. 85)

Aus: Helga Schubert: Vom Aufstehen – Ein Leben in Geschichten, dtv, München 2021

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Jon Fosse: Morgen und Abend (2000)

Nachdem der Norweger Jon Fosse (*1959) 2023 den Nobelpreis für Literatur erhalten hat, schien mir das eine gute Gelegenheit, mit dem schmalen Buch Morgen und Abend diesen Autor kennenzulernen. Die Originalausgabe, die von Hinrich Schmidt-Henkel ins Deutsche übersetzt wurde, erschien im Jahr 2000.

In der Frankfurter Rundschau charakterisierte Hermann Wallmann dieses Werk als „ein wunderbares kurzes Buch über Geburt und Tod“. Doch um was oder wen geht es genau?

Auf den ersten 18 Seiten erfahren wir, wie der Fischer Olai darauf wartet, dass die Geburt seines sehnlichst erwarteten Sohnes Johannes gut verläuft. Die Zeitebene ist bewusst offen gehalten, die alte Amme Anna muss per Ruderboot zur kleinen Insel der Familie geholt werden und erklärt, dass Männer nichts bei der Geburt verloren hätten, das würde nur Unglück bringen. Die unzähligen Wiederholungen sollen vermutlich archaisch, heimat- und eindrucksvoll klingen, den Moment dehnen und verwurzeln, doch ich bleibe skeptisch:

Wenn es ein Junge wird, soll er Johannes heißen, sagt Olai.

Abwarten, sagt die Hebamme Anna

Ja Johannes, sagt Olai

Wie mein Vater, sagt er.

Ja ein guter Name, nichts gegen zu sagen, sagt die alte Anna (S. 12)

… aber wenn der Kleine gesund zur Welt kam, dann gab es keinen Zweifel, wie er heißen würde, schon vor langem hatte er zu Marta gesagt, dass das Kind, mit dem sie schwanger war, Johannes heißen sollte wie sein, Olais, Vater und sie hatte ihm nicht widersprochen, ja das passt doch gut, hatte sie gesagt, dass der Junge Johannes heißen soll wie sein Vater, denkt Olai … (S. 16)

Die übrigen neunzig Seiten schildern den Übergang des alt gewordenen und inzwischen verwitweten Johannes aus dem Leben in das, was danach kommt. Dieser Übergang vollzieht sich anhand Erinnerungen, die zwischen den Zeitebenen hin und her fließen, und durchaus einigen Schreckmomenten angesichts des eigenen Alters und der damit einhergehenden Gebrechlichkeit, aber doch im Wesentlichen friedvoll und lebenssatt. Hier ist einer, der trotz harter Arbeit als Fischer zufrieden und einverstanden mit seinem Leben war. Die Ehe war gut, er hatte Freunde und die sieben Kinder mit den Enkelkindern leben allesamt noch auf derselben Insel – seine engere Heimat hat Johannes vermutlich niemals verlassen. Sein bereits verstorbener Freund Peter ist dann auch derjenige, der beauftragt wurde, ihn auf seinem Weg in die Weite dessen, wo sich Himmel und Meer ineinander auflösen, zu begleiten.

… und Johannes steht da und sieht zu den Hügeln und Wiesen und Bergen und Häusern dort an Land, zum Anleger und seinem eigenen kleinen Ruderboot, das an einer Boje liegt und an Land befestigt ist, und er schaut zu den Bootshäusern und er sieht die Häuser oben an der Straße und ein so großes Gefühl für all das erfüllt ihn, für das Heidekraut, für alles zusammen, all das kennt er, all das ist sein Ort auf der Welt, es ist seins, alles zusammen, die Hügel, die Bootshäuser, die Ufersteine, und dann hat er ein Gefühl, als sollte er all das nie wieder sehen, aber es würde ja in ihm bleiben als das, was er ist, wie ein Laut, ja fast wie ein Laut in ihm, denkt Johannes und er hebt die Hände zu den Augen und reibt sie sich und er sieht, dass alles schimmert, vom Himmel da hinten, von jeder Wand, von jedem Stein, von jedem Boot schimmert es zu ihm herüber und jetzt begreift er gar nichts mehr, denn heute ist alles anders als jemals zuvor, es muss etwas passiert sein, aber was kann das sein?, denkt Johannes und er versteht es einfach nicht, denn alles ist so wie immer, anders ist nur …. (S. 69)

Nun gut, die einen Kritiker priesen das Buch als raffiniertes und gleichzeitig weises Meisterwerk über Tod und Leben, Andreas Breitenstein in der NZZ hingegen sprach von einem „allzu sentimentalen Trostbüchlein“, dessen einziges Geheimnis seine nicht nachvollziehbare Kommasetzung sei. Wieder mal ein schönes Beispiel dafür, dass sich auch die Berufskritiker und Rezensentinnen keineswegs immer einig sind in der Frage, welche Kriterien bei der Bewertung eines Romans denn nun anzulegen wären.

Ich werde diesen großzügig gesetzten 112 Seiten über die reine Lesezeit hinaus nicht allzu viel Zeit widmen. Interessant wäre für mich gerade eher die Frage, wie ich nachvollziehbar und begründet Kitsch definieren würde, denn daran schrammt das Buch für mein Dafürhalten doch oft entlang.

In dem Zitat von S. 69 verdichten sich die Probleme, die ich mit diesem Stil habe. So, wie das Fosse schreibt, kann ich mir dieses Abschied von Leben-Nehmen einfach nicht vorstellen. Wenn dieses „Hinübergleiten“ aber nur bei einem alten Fischer, der aber doch schon Telefon in der Wohnung hat, funktioniert, dann funktioniert für mich die Geschichte über „Tod und Leben“ nur bedingt. Da wimmelt es vom Ungefähren und beliebig Austauschbaren, das aber nichts in mir berührt, nur das Heidekraut, das ist konkret.

Ich bezweifle, dass ein Leben tatsächlich so eindimensional sein kann, mir fehlen hier die Brüche, das Individuelle, eine Tiefe, die auch jemand hätte, der seinen Heimatort nie verlassen hat. Ich fand das weder märchenhaft noch schlicht, sondern simpel und sich um alle Fragen herummogelnd.

ABER, und deshalb erwähne ich das Buch auch hier, es hat mich mit seinem Aufbau auf anderer Ebene erschreckt. Auf so wenigen Seiten wird trotz aller Vorbehalte, die ich habe, sehr eindrücklich etwas vorgeführt, das wir zwar alle wissen, aber dennoch verdrängen: wie rasch ein Leben vorbei ist. Die Erwartungen – und Ängste, die vielleicht an unsere Geburt geknüpft waren, und dann schon – quasi auf der nächsten Seite – das Abschiednehmen. Die Welt ohne uns. Darüber nachzudenken, dem nachzusinnen, ist sicherlich nicht das Schlechteste, zu dem uns Literatur bewegen und einladen kann. Und das wiederum ist nun überhaupt nicht simpel.

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Rückblick aufs Lesejahr 2023 – verbunden mit einem Wunsch an euch

Wie schon in den vergangenen Jahren gibt es auch am Ende dieses Jahres einen kurzen Rückblick auf meine persönliche Bestenliste 2023, bevor ich mir dann die immer neue Frage stelle, was ich als nächstes aus den Regalen hier im Haus fische.

Krimis

Die Krimis um Nero Wolfe, ich lese gerade den siebten, machen leider süchtig und ich finde es unerhört, dass es keine schönen Gesamtausgabe auf Englisch gibt. Und dann die Verfilmungen, diejenige mit Maury Chaykin – großes Kino.

Sachbücher

Bücher über Bücher

Fowler zeigt, wie man überbordend begeisternd und völlig uneitel über Bücher schreiben kann. Kann das jemand in Deutschland?

Biografien

Freundliche Bücher

Bücher, die im Gedächtnis bleiben

Ich habe in den letzten Wochen mal ALLE meine Fensterbänke, Regale und Hocker leergeräumt, gewischt, viele Bücher aussortiert und GEORDNET wieder eingeräumt. Das gab nicht nur großartig Platz, ich finde jetzt alles auch auf Anhieb wieder – einfach toll. Ich wäre euch also sehr verbunden, wenn ihr euch in den nächsten Monaten ein klitzekleinwenig zurückhalten würdet mit anregenden Buchbesprechungen, denen ich dann wieder nur so schlecht widerstehen kann. 😎

Wie wäre es beispielsweise mit Büchern über die neuesten Handarbeitstrends, KI-Tools, Traktoren und Trump, Biografien zu Friedrich Merz und seinem Weihnachtsbaum, 25-jährigen Comedians oder mir gänzlich unbekannten Influencerinnen? Vielleicht gar über Insekten und Moose? Zahngesundheit und Lichterketten, Fitzek-Thriller, Vampire Romance und Hamsterhaltung? Gleitschirmfliegen, Hobby Horses – selbst gedrechselt, Achtsamkeit im Kindergarten und die hundertdreiundfünfzigste Methode, sein Leben zu entrümpeln? Da müsste doch nun wirklich für jeden etwas dabei sein! Für weitere entsprechende Vorschläge bin ich jederzeit offen.

Nichtsdestotrotz euch allen einen entspannten Jahreswechsel, immer ein lesenswertes Buch anbei und ein behütetes und heiteres – siehe Axel Hacke – Jahr 2024.

Axel Hacke: Über die Heiterkeit in schwierigen Zeiten und die Frage, wie wichtig uns der Ernst des Lebens sein sollte (2023)

Gabriele von Arnim hat sich auf die Suche nach dem Trost der Schönheit begeben; Axel Hackes Buch flaniert auf den Spuren der Heiterkeit. Schön, wie sich die Bücher ergänzen. Auch Hacke beginnt mit der Frage, ob der Begriff, über den er da nachdenkt, in der heutigen Zeit nicht etwas frivol anmute angesichts der Kriegen, Katastrophen und der um sich greifenden Idiotie und Rechthaberei.

Vielleicht kann man festhalten: Wenn man die Sache ernsthaft betrachtet, ist unser Leben ohne Heiterkeit nicht möglich. (S. 42)

Hacke nimmt verschiedene Mosaiksteine näher in den Blick und tut dies u. a. mit wunderbar zusammenpassenden und anregenden Zitaten aus vielerlei Quellen. Da wäre zum einen das Lachen, das eine so wichtige Rolle in Der Name der Rose von Umberto Eco spielt. Zum anderen unsere Fähigkeit, jedenfalls wäre es wünschenswert, sie zu pflegen, auch über uns selbst lachen zu können. Und so in unseren Schwächen die Verbundenheit mit all denen zu finden, die sich manchmal genauso tapsig verhalten wie wir.

Humor sei – laut dem österreichischen Philosophen Robert Pfaller – die Fähigkeit des Menschen,

auf sich selbst aus einer erhöhten Position herunterzublicken und über sich – d. h. über die eigenen Dummheiten, Drolligkeiten, Ungeschicklichkeiten, Verfehlungen, Geschmacklosigkeiten und andere Verletzungen der eigenen Prinzipien – liebevoll zu  lächeln‘, aus der Perspektive des Über-Ichs nämlich. Und weil die Menschen das bei sich selbst nicht mehr so recht könnten, gelingt es ihnen schon gar nicht bei anderen. (S. 97)

Erheiternd kommt seine Schilderung eines Lach-Yoga-Workshops daher, der anscheinend sehr skurril, sehr deutsch und auch ein bisschen bescheuert war. Wir erfahren, was Freud über den Witz zu sagen wusste, und finden uns dann bei Woody Allens Filmen wieder. Doch Heiterkeit reiche tiefer und sei kein flüchtiges Wohlfühlmittel wie der bloße Witz, dem man ja nicht pausenlos ausgesetzt sein möchte.

Heiterkeit habe die unabwendbaren Zumutungen des Lebens durchaus im Blick.

Es gibt eine Art von Heiterkeit, die den Ernst des Lebens bloß überspielen will, verdrängen, wegschieben. (S. 92)

Doch der wahrhaft heitere Mensch mache sich einen Spaß daraus, dass das Leben nun mal ist, wie es ist. Man erspare sich all die üblen Gefühle, zu denen die Situation Anlass genug gäbe – und lächle stattdessen, fündig geworden auf der Suche nach einer Euphorie, einer reinen Freude (S. 89). Es sei, so schrieb […] Wilhelm Schmid,  

eine phänomenale Erfahrung, dass sich die Heiterkeit gerade in der Konfrontation mit der Abgründigkeit der Existenz einstellt. Gerade dann, wenn das Leben schwer wird, ist die Heiterkeit als Erleichterung zu entdecken, die sich dadurch auszeichnet, die zugrunde liegende Tragik nicht zu leugnen. (S. 188/189)

Dann wieder macht Hacke sich Gedanken um die Rolle der Medien, um Loriot, humorbefreite Kindergartenleiter, das Theaterstück Der Brandner Kaspar und das ewig’ Leben, depressive Komiker und Schauspieler und um die Notwendigkeit, sein eigenes Wissen und Wesen als begrenzt und unvollkommen wahrzunehmen.

Man müsse einander zuhören statt vorschnell „gute Ratschläge“ auszuteilen.

Erst wenn dir jemand zuhört, kannst du, was du erlebt hast und was in dir rumort, zu einer Geschichte formen, und erst, wenn du es zur Geschichte geformt hast, kannst du es ablegen, und erst, wenn du es abgelegt hast, bist du frei, dich für etwas Neues zu entscheiden, weil du kein Gefangener der alten Geschichte mehr bist. (S. 122)

Axel Hacke kommt, wie schon Gabriele von Arnim, zu dem Schluss, dass niemand dem Leben mit Heiterkeit begegnen könne, der vor der Einsicht in unsere Vergänglichkeit weglaufe.

Wir waren vom Trost ausgegangen. Und ich meine: Man kann diesen Trost nur haben, wenn man alles, weswegen man getröstet werden möchte, auch präsent lässt, nicht wegschiebt oder in seiner Seele versenkt, sondern auf den Tisch legt, akzeptiert und nicht darüber hinweggeht. (S. 143)

Und so erzählt Hacke von der Krankheit und dem Tod seines Freundes, der Figur des Hans Waldmann im Werk Ror Wolfs und der Trauerfeier für Graham Chapman, einem Mitglied der Monty Pythons.

Liegt nicht hinter dem Kult, den wir heute um das Leben treiben, hinter all den Schönheitsfarmen und hautstraffenden Operationen, den Rauchverboten und Ernährungsanweisungen, liegt also hinter all dem nichts die blanke und durch nichts mehr – keine Religion und keine Komödie – eingehegte Todesangst? […] Denn was ist der Tod anderes als ein ganz persönlicher, privater Weltuntergang? Für jeden von uns geht eines Tages die Welt unter, nichts ist sicherer als das. Und vermutlich ist es besser, diesem Datum mit Heiterkeit entgegenzusehen, statt es angstvoll zu erwarten. (S. 134/135)

Hacke mäandert durch die Begriffsgeschichte, überlegt, was Heiterkeit in der Kunst, z. B. bei Goethe oder Schiller bedeute, und landet schließlich bei Thomas Manns Begriff von der souveränen „Heiterkeit der Kunst“ und dem Abschiedsbrief Heinrich von Kleists an seine Schwester, in dem es – durchaus erstaunlich – um die Heiterkeit geht. Die Diktatoren werden – wie auch bei Gabriele von Arnim – in ihrer Selbstgefälligkeit und völligen Humorlosigkeit gestreift und die Philosophen kurz erwähnt.

Adornos Haltung fand allerdings später wiederum den Widerspruch anderer Philosophen, Odo Marquands zum Beispiel, auch Peter Sloterdijks. Aber als ich mir im Lesesessel deren Werke vornehme, ereilt mich über all den Texten, die über den Rand meiner intellektuellen Möglichkeiten schwappen, ein heiteres philosophisches Schläfchen, und ich verschnarche machtlos den Nachmittag. (S. 155)

Ebenfalls anregend fand ich die Hinweise zu dem mir bis dahin unbekannten Werner Finck, einem Kabarettisten der dreißiger Jahre, der das Kabarett Die Katakombe in Berlin mitbegründete und Worte und Andeutungen setzen konnte wie ein Chirurg das Skalpell.

Als die Nazis schon an der Macht waren, saßen regelmäßig die Spitzel im Publikum und notierten, was sie hörten. Finck schrieb in Alter Narr, was nun?, seinen 1972 veröffentlichten Erinnerungen: ‚Einmal fragte ich einen, der so unauffällig wie möglich mitschrieb: ‚Spreche ich zu schnell? Kommen Sie mit? – Oder  – muß ich mitkommen?‘ (S. 176)

Nach einem Verhör im Gestapo-Hauptquartier wird Finck verhaftet und ins Gefängnis gebracht.

Bei meinem Eintritt sprang ein baumlanger SS-Mann auf mich zu und fragte: ‚Haben Sie Waffen?‘. ‘Wieso?‘, fragte ich. ‚Braucht man hier welche?‘ (S. 179)

Derlei renitente Umtriebe brachten ihn für sechs Wochen ins KZ Esterwegen und vermutlich war seine Entlassung am 1. Juli 1935 nur der Intervention einer mit Göring gut befreundeten Schauspielerin zu verdanken. 

Zur Heiterkeit gehöre natürlich ebenfalls die Fähigkeit, innezuhalten, auch scheinbar Kleines und Unbedeutendes aufmerksam anzuschauen, eine ordentliche Portion Neugier auf die Welt und eine gewisse Selbstvergessenheit und das schöne Wort der Seelenruhe.

Um heiter oder zumindest heiterer leben zu können, sei es aber unerlässlich, sich von seinem geistigen Schlendrian zu befreien, denn – wie schon Seneca festgestellt habe -, lebten viele Menschen ihre Tage 

nicht eigentlich, wie sie wollen, sondern wie sie einmal angefangen haben … (S. 192)

Hacke kommt in seinem Buch zu dem Schluss, dass der Versuch, ein heiterer Mensch zu sein, eben auch Folgendes beinhalte:

Es bedeutet eine tägliche Arbeit an sich selbst, eine immerwährende Aufmerksamkeit für die Art, wie man der Welt gegenübertritt, den Versuch einer geduldigen Selbsterziehung. (S. 210)

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Alec Guinness: A Positively Final Appearance (1999)

Auch wenn mich diesmal die Aufzeichnungen des Schauspielers Alec Guinness (1914 – 2000) nicht ganz so begeistern konnten wie der Vorgängerband My Name Escapes me (1996), so finden sich doch reichlich Stellen, für die sich die Lektüre lohnt.

Inhaltlich ist auch dieses Tagebuch – vom Sommer 1996 bis 1998 – eine Mischung aus Erinnerungen an längst verstorbene oder dem Alkohol verfallene Weggefährten, Urlaubsschilderungen (Glaswände in Hotelbadezimmern nerven ihn kolossal) oder Einträgen zu Verabredungen mit noch lebenden Freunden und Bekannten. Versetzt mit Rückblicken auf seine lange Theater- und Filmkarriere, bei der er zwischen 1934 und seinem sehr bewussten Rückzug von der Bühne 1989 77 Rollen am Theater und 55 Rollen im Kino verkörperte.

So erinnert er sich immer noch an den Moment, als ihm bewusst wurde, dass Theaterspielen etwas mit Kunst zu tun hat. Während eines Workshops zum Kirschgarten von Tschechow bemängelte Michel St.-Denis, der Regisseur, bei demjenigen, der die Rolle des Epichodows spielte, dass man das Knarren seiner Stiefel gar nicht höre. Der Schauspieler murrte, dass das nicht verwunderlich sei, schließe trage er Schuhe mit Gummisohle. St.-Denis spielte dann selbst die Szene so vor, wie er sie sich vorstellte.

With great concentration and concern, his head on one side, he listened to a shoe as he bent his instep up and down. I could swear we all heard a squeak though naturally it was only in our imagination. From then on I was in love with the idea of trying to exercise a touch of magic on an audience, of persuading people to see and hear what wasn‘t there. […] The results have not been exactly world-shattering; indeed I cheerfully concede that they have been humdrum; but the hope of realizing a sort of magical moment has remained with me from 1935 until my present retirement. A fond but foolish hope, it now seems. (S. 67)

Es gibt wache Gedanken zum Tode von Prinzessin Diana, zu den Gräueln in der Welt und Beobachtungen zum aktuellen politischen Geschehen in Großbritannien, die leider ab und an ein wenig ausuferten, aber es gibt auch Stellen, die zeitlos sind.

I pray God we shall never be beguiled again into ghastly xenophobia. Dear Anthony Trollope, one of the most English of great Englishman, wrote in a letter to Kate Field in 1862, ‚One‘s country has no right to demand everything. There is much that is higher and better  and grander than one‘s own country. One is patriotic only because one is too small and weak to be cosmopolitan.‘ Eurosceptics, please note. (S. 58)

Dann wieder wird munter parliert, in Kunstausstellungen und Theateraufführungen gegangen (und die Kolleginnen und Kollegen anschließend einer kritischen Bewertung unterzogen) und darüber gestöhnt, dass keine vernünftigen Wasserkocher aus Metall mehr zu bekommen seien. Er besucht Beerdigungen alter Freunde, lässt kranke Bäume im Garten fällen, freut sich am Enkelkind und nimmt Arzttermine wahr. Das Gehör und die Augen machen Probleme. Verdacht auf Prostatakrebs.

The humiliations of age are not always easy to accept. (S. 6)

Guinness hat die Gabe, auch dasjenige, was alltäglich ist, so schön knochentrocken auf den Punkt zu bringen. Nachdem er wegen Grauen Stars operiert worden ist, heißt es beispielsweise:

… and the world is brighter than I have known it for about forty years. […] The Daily Telegraph and the Independent  have been much better printed since last Friday; they appear to be using a more solid black ink and white paper. […] The only disadvantage is that I can see my own face only too clearly; and some other faces have aged somewhat during the week. I am astonished at how much detail I have been missing. (S. 52/53)

Auch in diesem Band schimmert seine Übellaunigkeit durch, falls es jemand wagt, ihn auf seine Rolle als Obi-Wan Kenobi in Star Wars anzusprechen. Die törichten Dialoge taten ihm inzwischen einfach zu weh und einem jungen Fan, der ihm anvertraut, schon dutzende Male die Star Wars-Filme gesehen zu haben, will er das Versprechen abnehmen, nie wieder einen einzigen dieser Filme anzuschauen. Ahnungslose Kritiker finden ebenfalls keine Gnade vor seinen Augen:

No one is obliged to admire a truly superb play but a lack of awareness, a failure of appreciation and a blindness to great dramatic poetry should be kept under wraps and not flaunted. (S. 200)

Guinness liest viel, seine Lieblingsautoren wie Shakespeare, Dickens und Montaigne, aber auch neuere Autoren und Thriller, überlegt, was er seiner Frau Merula zum Hochzeitsjubiläum schenken könnte und fragt sich, von welchen guten Geistern die dämlichen Journalisten verlassen sind, die ihm und anderen traumhafte Vermögen andichten, sodass er dann wieder wochenlang von Bettelbriefen belästigt wird.

An seinem Geburtstag schreibt er:

Eighty-four today: that is 30,660 days, mostly wasted. If I had been told when I was eleven, say, that I would live to such an age I think I would have fainted with nausea. (S. 124)

Nun, Guinness verrät uns nicht, was genau er unter einem Leben verstünde, dessen Tage nicht als verschwendet gelten würden, aber allein schon die folgenden Überlegungen, die er nach einem Fußballspiel angestellt hat, sind doch wahrlich großes Kino.

The World Cup has held me, so far, for four evenings more or less glued to the box and I must admit that there were times when I was aware of my heart thumping. […] Also the enthusiastic piling up on top of team mates to congratulate, embrace, fondle and ruffle the hair of a goal scorer has now reached a new height of almost orgasmic absurdity. After watching some of these acrobatic, loving scrambles it struck me that actors might be encouraged to attempt the same sort of thing during performances. 

After a round of applause, awarded by a simple-minded audience to the actor […] the actor should clench his fists aggressively, bend his knees and spring round the stage, mouth wide open, screaming and punching the air. This would be the cue for the rest of the cast to tumble him to the ground, sit on his face, derange his wig and generally knock the wind out of him. (S. 148)

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Rex Stout: Fer-de-Lance (1934)

Fer-De-Lance ist der erste der insgesamt 33 Kriminalromane von Rex Todhunter Stout (1886 – 1975) um den im wahrsten Sinne schwergewichtigen Nero Wolfe und seinen Sidekick Archie Goodwin. Das Buch wurde erstmals 1934 veröffentlicht und macht auch heute noch beim Lesen Laune.

Der Ich-Erzähler Archie Goodwin, Buchhalter und die rechte Hand Wolfes, lebt seit sieben Jahren mit dem 130-Kilo-Mann Nero Wolfe, seines Zeichens Privatermittler, in einem luxuriösen Brownstone in New York City.

Wolfe lifted his head. I mention that, because his head was so big that lifting it struck you as being quite a job. It was probably really bigger than it looked, for the rest of him was so huge that any head on top of it but his own would have escaped your notice entirely. (S. 2)

Archie stilisiert sich dabei manchmal als kulturlose Nuss, ja als explosives Pulverfass, das dringend auf Betätigung und Einsatz wartet, während er sich in Wahrheit sein Lieblingsgetränk Milch selbst aus der Küche holt, um Fritz, dem Koch, ein bisschen Arbeit abzunehmen.

I do read books, but I never yet got any real satisfaction out of one; I always have a feeling there‘s nothing alive about it, it‘s all dead and gone, what‘s the use, you might as well try to enjoy yourself on a picnic in a graveyard. (The League of the Frightened Men, S. 1)

Wolfe fällt dabei die Rolle des feingeistigen, aber täglich literweise Bier trinkenden Sherlock Holmes zu, der aus all den Informationen, die ihm Archie liefert, die richtigen Schlüsse zieht und die nächsten Ermittlungsschritte plant.

Sometimes, when he felt patient, he explained to me and it seemed to make sense, but I realized afterward that that was only because the proof had come and so I could accept it. I said to Saul Panzer once that it was like being with him in a dark room which neither of you has ever seen before, and he describes all of its contents to you, and then when the light is turned on his explanation of how he did it seems sensible because you see everything there before you just as he described it. (S. 5)

Vervollständigt wird der Männerhaushalt von Fritz Brenner, einem Schweizer Edelkoch, der auch mal die Aufgaben eines Butlers übernimmt, und Theodore Horstmann, der sich um die obere Etage mit 10.000 Orchideen kümmert, die große Liebhaberei des Detektivs, der er täglich mehrere Stunden widmet.

Sollte es der jeweils zu lösende Fall erfordern, können Wolfe und Archie noch auf die Dienste von Fred Durkin, Saul Panzer und Orrie Cather, drei weiteren Detektiven bzw. Beschattern, zurückgreifen.

Eines Tages bittet Durkin Nero Wolfe darum, sich einmal mit Maria Maffei, einer italienischen Haushaltshilfe, zu unterhalten. Maria vermisst seit zwei Tagen ihren Bruder Carlo, einen Metallfacharbeiter. Dieser Vermisstenfall nimmt rasch Dimensionen an, die keiner der Beteiligten hätte ahnen können, und führt bis in die besten Universitätskreise.

Das liest sich spannend, witzig, fetzig und an einigen Stellen zumindest grenzwertig, weil auch Archie nicht frei von den damals in Krimis so häufig anzutreffenden ausländerfeindlichen Stereotypen und großmäuligen Witzen ist. Allerdings würden Archies Vorurteile ihn niemals davon abhalten, einem Menschen in Not zu helfen, gleichgültig, woher der käme.

… but I had long since learned from Wolfe that the corner the light doesn‘t reach is the one the dime rolled to. (S. 141)

Die Handlung schlägt natürlich so mancherlei Haken und wird auch mal gefährlich, vor allem für Archie, der die ganze Lauf- und Ermittlungsarbeit erledigen muss, denn Nero Wolfe hasst nichts mehr, als sich außer Haus zu begeben. Wahrscheinlich würde er nicht mal immer die Aufträge annehmen, wenn nicht Archie darauf drängen und der Kontostand das erfordern würde. Meist ist es ihm schon zu anstrengend, sich zur Begrüßung von Gästen aus seinem Stuhl hochzuwuchten. Sein Tagesablauf ist streng strukturiert und Abweichungen davon werden nur bei allerhöchster Gefahrenstufe geduldet. Ansonsten gilt, dass Nero Wolfe sich vormittags zwei Stunden und nachmittags zwei Stunden um seine Orchideensammlung kümmert, auf gute Küche Wert legt und Archie erklärt, was dieser außer Haus herausfinden und wen er treffen und interviewen muss.

Es stimmt tatsächlich, was Loren D. Estleman im Vorwort schreibt:

Under the present technocracy, when even the nine-to-five ethic is threatened, we can find peace in the almost Edwardian order of life in the old brownstone: Plant-rooms, nine to eleven A.M. and four to six P.M.; office, eleven A.M. to 1:15 P.M., six P.M. to dinnertime and after dinner if necessary, day in and out (except Sunday). […] Nothing short of a major catastrophe […] can persuade him to alter that comfortable routine, or worse, leave home on business.

So pendeln wir ebenfalls zwischen den beruhigenden Ritualen des Hauses und der aufregenden Ermittlungsarbeit vor Ort hin und her. Und ich freue mich schon auf den nächsten Besuch beim Orchideenliebhaber Wolfe und auf die verbalen Scharmützel zwischen Archie Goodwin und seinem Chef.

‘Some day, Archie, when I decide you are no longer worth tolerating, you will have to marry a woman of very modest mental capacity to get an appropriate audience for your wretched sarcasms. (S. 54)

Die New York Times Book Review schrieb einmal

It is always a treat to read a Nero Wolfe mystery. The man has entered our folklore.

Fundstücke aus den Wahlverwandtschaften von Goethe

Es ist eine so angenehme Empfindung, sich mit etwas zu beschäftigen, was man nur halb kann, daß niemand den Dilettanten schelten sollte, wenn er sich mit einer Kunst abgibt, die er nie lernen wird, noch den Künstler tadeln dürfte, wenn er über die Grenze seiner Kunst hinaus in einem benachbarten Felde sich zu ergehen Lust hat.

Es gibt eine Höflichkeit des Herzens; sie ist der Liebe verwandt. Aus ihr entspringt die bequemste Höflichkeit des äußern Betragens.

Manchmal, wenn mich ein neugieriges Verlangen nach solchen abenteuerlichen Dingen anwandelte, habe ich den Reisenden beneidet, der solche Wunder mit andern Wundern in lebendiger, alltäglicher Verbindung sieht. Aber auch er wird ein anderer Mensch. Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen, und die Gesinnungen ändern sich gewiß in einem Lande, wo Elefanten und Tiger zu Hause sind.

Aus: Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandtschaften (1809)

Florian Illies: Zauber der Stille (2023)

Von allen Seiten bejubelt, das neue Buch von Florian Illies Zauber der Stille über – so der Untertitel – Caspar David Friedrichs Reise durch die Zeiten.

In vier großen Kapiteln Feuer, Wasser, Erde und Luft forscht Illies sowohl dem Lebensweg des Künstlers (1774 – 1840), seiner Reputation als auch den Gemälden nach. Das ist oft hochspannend und gleichzeitig ernüchternd, ja erschreckend, wenn man begreift, dass das, was heute mehr oder weniger unbezahlbar in den großen Museen hängt, quasi nur der Rest dessen ist, was vom Zufall, von Feuerkatastrophen und politischen Wirrnissen verschont geblieben ist.

Vorab sei gesagt, dass Illies für mich hier einen Rekord aufgestellt hat, was die Anzahl der Zeitsprünge angeht. Ich kam mir – je länger, je mehr – wie eine Flipperkugel vor, die hin und her kullert. Von der Biografie Friedrichs, der sehr früh Geschwister und Mutter verlor, zeitlebens von Melancholieschüben heimgesucht und während der Befreiungskriege zu einem großen Franzosenhasser wurde, bis hin zu den Nationalsozialisten, die 1943 Soldaten mit einem Büchlein „Caspar David Friedrich und seine Heimat“ Richtung Ostfront schickten.

Da sind wir gerade am Anfang des 20. Jahrhunderts und ohne Vorwarnung plötzlich am Ende des Zweiten Weltkrieges, um unversehens den Maler Johan Christian Clausen Dahl (1788- 1857) auf seinen Abendspaziergängen mit dem Künstler zu begleiten. Wir erfahren, dass der norwegische Kunstkritiker Andreas Aubert (1851 – 1913) alles getan hat, um den Deutschen ihren Friedrich wieder schmackhaft zu machen. Nur um wenige Seiten später die Schicksale einzelner Gemälde nachzuverfolgen.

Wir reiben uns die Augen bei dem dramatischen Auf und Ab im Renommee des Künstlers, der mit seiner Familie manchmal hungern musste, obwohl seine Gemälde vom preußischen König angekauft wurden und dann wieder bei irgendwelchen Flohmarktfunden oder in adligen Damenstiften auftauchten.

Schon 1901 war das Geburtshaus von Caspar David Friedrich abgebrannt, dabei waren neun Bilder des Malers, die sich noch in Familienbesitz  befanden, zerstört worden. Eines dieser Gemälde, bei dem Restauratoren so lange die Brandblasen mit Farbe aufgefüllt haben, landet nach Umwegen

passenderweise bei Wolfgang Gurlitt, einem schillernden Kunsthändler, der selbst fast ständig pleite ist und dessen Liebesverhältnisse den goldenen zwanziger Jahren alle Ehre machen. Sein Charme wedelt welpenhaft in alle Richtungen. Und so lebt Gurlitt fröhlich mit seiner Exfrau, seiner ihm ebenfalls sehr zugewandten Exschwägerin, seiner neuen Ehefrau, ihren gemeinsamen Töchtern und seiner großen Liebe Lilly Agoston zusammen. Muss man erst mal hinbekommen. (S. 27)

Illies springt von der Disney-Verfilmung des Romans Bambi von Felix Salten, bei dem der Zeichner Tyrus Wong angeblich von Friedrichs Gemälden beeinflusst worden sei, bis zur Bücherverbrennung der Nationalsozialisten, bei denen Felix Salten zu den verfemten jüdischen Autoren gehörte, dessen Bücher auf den Scheiterhaufen landeten.

Nach vierjähriger Produktionszeit kommt Walt Disneys Film Bambi in die Kinos, und Adolf Hitler gehört 1942 zu den Ersten, die ihn in Europa sehen. Er schaut Bambis Flucht vor dem Feuer inmitten des Krieges in seinem privaten Kino auf dem Berghof an und ist gerührt. (S. 32)

Wir erfahren, dass sich in Murnaus Film Nosferatu von 1922 Anleihen an Friedrich finden, und werden daran erinnert, dass am 7. Dezember 1996 zwei Einbrecher Ansicht eines Hafens aus dem Schloss Charlottenhof stahlen und staunen über die Auflösung dieses Diebstahls. Und laut Beckett sei Friedrich sogar die Quelle für Warten auf Godot gewesen.

Goethe wiederum konnte zum Leidwesen des Künstlers so gar nichts mit Friedrich anfangen, reagierte immer aggressiver auf dessen Gemälde und war nicht in der Lage, das radikal Neue, ja Moderne zu erkennen, als er Den Mönch am Meer auf der Staffelei in Friedrichs Atelier betrachtete.

Keine Frage, das liest sich süffig, ja spannend, man reibt sich die Augen ob all der herbeigetragenen Mosaikstückchen. Kein bisschen angestaubt. Und oft genug Augen öffnend für die Launen und Vorlieben der jeweiligen Zeit. Und für die Gefahren, denen Kunstwerke im Laufe der Jahrhunderte ausgesetzt sind. Was für eine Vorstellung, dass wir viele der Werke Caspar David Friedrichs nie kennenlernen werden, weil sie längst Feuer oder Krieg zum Opfer gefallen sind.

Dennoch frage ich mich, wieso uns das in solchen Edutainment-Schnipseln – ein Rezensent sprach freundlicher von „Miniaturen“ – präsentiert werden muss. Soll das sicherstellen, dass ich „dranbleibe“? Mich nicht zu sehr konzentrieren muss? Bin ich zu alt für diese schnellen Schnitte? Warum darf‘s nicht ein bisschen stringenter sein? Ein bisschen mehr Tiefgang haben? Das Buch heißt Zauber der Stille. Nun, das gilt sicherlich für die Gemälde, doch den Aufbau des Buches fand ich laut und mir wurde beim Lesen manchmal ein bisschen seekrank.

Den Stil mochte ich nicht durchgehend und hätte mir noch viel mehr Zitate aus zeitgenössischen Briefen und von Friedrich selbst gewünscht.

Gleich im ersten Kapitel Feuer geht es um den Brand vom 6. Juni 1931, als im Münchner Glaspalast neun Werke des Malers verbrennen, die Teil der 110 Gemälde umfassenden Sonderausstellung Werke deutscher Romantiker von Caspar David Friedrich bis Moritz von Schwind waren.

Gierig verschlingen die Flammen das trockene Holz der Keilrahmen und lassen die Reste der Leinwände als kleine schwarze Aschefetzen in den verschlafenen Himmel hinaufwirbeln, immer wieder aufs Neue werden sie von den heißen Wogen der Flammen in die Höhe geweht, immer und immer wieder, bis das Auge sie irgendwann nicht mehr sehen kann. (S. 14)

Ich kann ja mit diesen nachempfundenen Szenen nicht so viel anfangen, genauso wenig mit spekulativen Antworten:

Und wie hat wohl Thomas Mann dieses verstörend leuchtende München, diesen verheerenden Brand am frühen Morgen des 6. Juni erlebt, der ausgerechnet sein 56. Geburtstag ist? Ob er sich bei seiner Frau Katja beschwert hat über den unnötigen Lärm der Feuerwehr? Oder über den unerfreulichen Brandgeruch, der seine Nase ‚affiziere‘? Ob er sich die Brandstätte angeschaut hat? Wir wissen es nicht. (S. 17)

Hier noch eine interessante Besprechung von Tilman Krause aus der WELT. In der Kunsthalle Hamburg läuft bis zum 1. April 2024 eine große Friedrich-Ausstellung.

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Fundstück von R. F. Kuang

Ich kenne kein schöneres Zitat zu Scones als das aus dem Roman Babel von Rebecca F. Kuang:

He and Mrs Piper quickly bonded over a deep love of scones. She made them every which way – plain, served with a bit of clotted cream and raspberry jam; savoury and studded with cheese and garlic chives; or dotted through with bits of dried fruit. Robin liked them best plain – why ruin what was, in his opinion, perfect from conception? (S. 35)

Fundstück aus den Wahlverwandtschaften von Goethe

Charlotte, als sie erfährt, dass der von ihr geliebte Hauptmann eine weit entfernte Stelle angeboten bekommen hat:

Sie wiederholte sich aber- und abermals, was sie seit jenem unerwarteten Vorschlag des Grafen oft genug bei sich um und um gewendet hatte. Der Hauptmann schien vor ihr zu stehen. Er füllte noch das Haus, er belebte noch die Spaziergänge, und er sollte fort, das alles sollte leer werden! Sie sagte sich alles, was man sich sagen kann, ja sie antizipierte, wie man gewöhnlich pflegt, den leidigen Trost, daß auch solche Schmerzen durch die Zeit gelindert werden. Sie verwünschte die Zeit, die es braucht, um sie zu lindern; sie verwünschte die totenhafte Zeit, wo sie würden gelindert sein. (S. 81)

Aus: Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandtschaften (1809)

Cay Rademacher: Die Passage nach Maskat (2022)

Wie salzig die Luft schmeckte, wenn der Sturm den Schaum von den Kämmen blies. (S. 10)

Neben all den alten Krimi-Schätzchen, die ich normalerweise lese, habe ich auf die begeisterte Empfehlung vom Kaffeehaussitzer hin mir Die Passage nach Maskat (2022) von Cay Rademacher (*1965) besorgt. Nun, mein Fazit ist eher gemischt, aber zunächst zum Inhalt.

1929. Der widerliche Hamburger Kaufmann und Familienpatriarch Hugo Rosterg – „glatzköpfig, der Stiernacken quoll über den Hemdkragen, sein Gesicht war gerötet“ (S. 22) – reist samt Gattin Marthe, nichtsnutzigem Nazi-Sohn, Tochter Dora und derem Mann Theodor Jung auf dem Passagierschiff Champollion höchst luxuriös von Marseille über Port Said und Aden nach Maskat, um dort neue und noch viel einträglichere Geschäfte anzubahnen. Tochter Dora verantwortet die Geschäfte der Sippe in Berlin und ihr Mann Theodor arbeitet als Fotoreporter der Berliner Illustrirten.

Doch Jung wollte Dora nicht allein in die Ferne ziehen lassen, weil er spürte, dass er sie für immer verlieren würde; um ihre Ehe stand es schon lange schlecht. (S. 15)

Nebenbei bemerkt: Weshalb Jung, der immerhin 30 Jahre alt ist und im Ersten Weltkrieg auf einem U-Boot gedient hat, erst jetzt den Eindruck hat, seine Jugend hinter sich zu lassen, bleibt das Geheimnis des Erzählers.

und irgendwie wusste er in diesem Moment [des Ablegens], dass er nicht bloß von Marseille und von Europa Abschied nahm, sondern auch von seiner Jugend. (S. 36)

Außerdem an Bord: der ebenfalls ausschließlich unsympathisch gezeichnete Prokurist der Firma Rosterg, Bertold Lüttgen, der Jung als Rivalen in der Gunst Doras ausstechen und eine noch wichtigere Position in der Firma ergattern will.

Daneben spielen natürlich noch weitere Gäste auf dem Luxusdampfer wichtige und zunächst undurchsichtige Rollen, wie z. B. die angeblich so exzentrische Lady Agatha Westmacott (übrigens ein Pseudonym, unter dem Agatha Christie einige Bücher schrieb) samt ihrer armenischen Gesellschafterin, die Nackttänzerin Anita Berber sowie der italienische Anwalt Marinetti, der Marthe Rosterg schöne Augen macht und sich so auffallend oft in der Nähe der Familienkabinen herumtreibt. Und was macht Max Totzke, ehemaliger Preisboxer und Schuldeneintreiber des kriminellen Berliner Ringvereins Immertreu, auf einem Schiff, das so gar nichts mit seiner sonstigen Klientel zu tun hat? Und wie könnte es anders sein: Nicht alle Reisenden werden ihr Ziel lebend erreichen.

Jung liebt seine Frau Dora ja angeblich sehr, hat mit ihr in den elf Jahren ihrer Ehe aber nie über das Trauma gesprochen, das ihm als bitteres Andenken an seinen U-Boot-Einsatz im Weltkrieg geblieben ist, seine Angst, auf dem Meer zu sterben.

Aber er hatte mit seiner Frau niemals über das Meer und die Furcht, die es in ihm auslöste, geredet, und er würde jetzt nicht damit anfangen. (S. 24)

Seine Abhängigkeit von Schlaftabletten, ebenfalls großes Ehetabu.

Er schluckte die [Schlaf]Tablette, versteckte das Gläschen wieder, Dora wusste auch nach beinahe elf Ehejahren nichts davon. (S. 55)

Dass er vermutet, dass Dora ihrer Mutter Marthe Kokain besorgt, hat er natürlich nie angesprochen. 

Jung hatte es nie gewagt, mit Dora darüber zu sprechen, doch er ahnte, dass seine Frau das Medikament [Kokain] in Berlin besorgte und es per Post zur Mutter schickte. (S. 49)

Also, immer noch große Liebe. Zumindest von seiner Seite. An Bord wirkt Dora dann auch viel gelöster, gesteht ihm, dass sie schwanger sei, beide freuen sich sehr und verbringen nach langem wieder mal eine leidenschaftliche Nacht zusammen.

Dann der Schock, sie verschwindet spurlos, auch ihr Gepäck ist nicht mehr auffindbar. Und was Jung anschließend fast in den Wahnsinn treibt: Die Familie, Prokurist Lüttgen und sogar der Erste Offizier, der seit Jahren Geschäfte mit Rosterg Senior macht, sie alle behaupten, dass Dora nie an Bord gewesen sei, sondern sich ja wohl, wie abgesprochen, zu Hause um die Geschäfte kümmere. Ihr Name steht nicht auf der Passagierliste, sogar ein angebliches Telegramm von ihr wird ihm gezeigt. Als ihm endlich einfällt, dass er sie auf dem Schiff fotografiert hat, sind seine Filmrollen verschwunden.

Wem kann er jetzt noch trauen? Jung wird klar, dass er nur noch neun Tage hat, um das Geheimnis aufzuklären, andernfalls wäre es der Familie ein Leichtes, ihn des Gattinnenmordes zu bezichtigen, wurde Dora doch das letzte Mal mit ihm zusammen in Marseille gesehen.

Und wenn man bis hierhin den Eindruck gewonnen hat, dass ich die Schwarz-Weiß-Charakterzeichnung und Sprache dieses Krimis kaum überzeugend finde, so wäre das korrekt. Doch es gibt ein großes, ein entscheidenden Aber:

Die Geschichte ruft geradezu danach, verfilmt zu werden. All die vielen geschichtlichen Details, die so nett in die Handlung integriert werden, und die süffigen Ortsbeschreibungen – die Reisegruppe kraxelt sogar, was inzwischen verboten ist, die Pyramiden in Gizeh hoch und stattet Howard Carter einen Besuch im Tal der Könige ab – machen beim Lesen einfach Spaß. Wir laufen mit Jung durch das große Luxusschiff, vom mondänen Speisesaal der ersten Klasse bis hinunter zu den Decks der Dritten Klasse. Wir sind im  Suq dabei, als Prokurist Lüttgen heftig verprügelt wird, und durchqueren mit den Gästen den Suezkanal, schmecken sehr viel Salz und erfreuen uns am Himmel. 

Dazu kommt, dass die Geschichte spannend ist, natürlich will man unbedingt wissen, was und warum mit Dora passiert ist. Immer wieder sorgen unerwartete Wendungen dafür, dass man das Buch kaum aus der Hand legen mag. 

Dass die Auflösung sehr abrupt kommt und die Motive des Täters bizarr und unglaubwürdig sind, das steht dann schon wieder auf einem anderen Blatt. 

Also, ich fühlte mich an einem völlig verregneten Wochenende gut unterhalten, auch wenn man bei manchem nicht zu genau hinschauen sollte und die Luft gar häufig nach Salz geschmeckt hat.

die Luft schmeckte nach Salz (S. 33)

Die Luft schmeckte nach Salz und Rauch. (S. 36)

Die Luft schmeckte nach Seetang (S. 51)

und die Luft schmeckte nach Salz. (S. 57)

… und glaubte, dass die Luft nach Orangen und Zitronen schmeckte. (S. 83)

Die Idee, dass eine Reisende einfach verschwindet und niemand sie gesehen haben will, ist übrigens nicht neu. Man lese beispielsweise den empfehlenswerten Kriminalroman The Lady Vanishes von Ethel Lina White aus dem Jahr 1936.

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Fundstück von Goethe (1809)

Wie schwer ist es, daß der Mensch recht abwäge, was man aufopfern muß gegen das, was zu gewinnen ist, wie schwer, den Zweck zu wollen und die Mittel nicht zu verschmähen! Viele verwechseln gar die Mittel und den Zweck, erfreuen sich an jenen, ohne diesen im Auge zu behalten. Jedes Übel soll an der Stelle geheilt werden, wo es zum Vorschein kommt, und man bekümmert sich nicht um jenen Punkt, wo es eigentlich seinen Ursprung nimmt, woher es wirkt. Deswegen ist es so schwer, Rat zu pflegen, besonders mit der Menge, die im Täglichen ganz verständig ist, aber selten weiter sieht als auf morgen. Kommt nun gar dazu, daß der eine bei einer gemeinsamen Anstalt gewinnen, der andre verlieren soll, da ist mit Vergleich nun gar nichts auszurichten. Alles eigentlich gemeinsame Gute muß durch das unumschränkte Majestätsrecht gefördert werden.

Johann Wolfgang von Goethe: Die Wahlverwandtschaften, Goldmann Verlag, München, S. 48

Anita Brookner: Hotel du Lac (1984)

Für ihren vierten Roman Hotel du Lac wurde Anita Brookner 1984 mit dem Booker Prize ausgezeichnet, was viele Kritiker gegen sie aufbrachte , da deren Meinung nach unbedingt Empire of the Sun von James Graham Ballard diese Auszeichnung hätte bekommen müssen. Die deutsche Übersetzung des Romans stammt von Dora Winkler.

Anita Brookner (1928 – 2016), Tochter polnischer Einwanderer – der Nachname lautete ursprünglich Bruckner -, promovierte Kunsthistorikerin, zeitlebens unverheiratet, veröffentlichte ihren ersten Roman 1981 im Alter von 53 Jahren. Brookners Bücher sind das Gegenteil dessen, was Edith Hope, die Protagonistin in Hotel du Lac schreibt. Hope ist nämlich Verfasserin anspruchsloser Romanzen.

Die Enddreißigerin Edith erklärt ihrem Verleger, warum sich ihre Trivialromane gut verkaufen.

It‘s because they [die Leserinnen] prefer the old myths, when it comes to the crunch. They want to believe they are going to be discovered, looking their best, behind closed doors, just when they thought that all was lost, by a man who has battled across continents, abandoning whatever he may have had in his in-tray, to reclaim them. (S. 27)

Nach einem Mini-Skandal hatten ihre Freunde Edith dringend eine Auszeit angeraten, in der sie sich sortieren und Gras über die Sache wachsen könne. Am Genfer See, einquartiert im titelgebenden Hotel du Lac, versucht Edith Hope, sich nun also darüber klarzuwerden, wie sie ihr weiteres Leben leben möchte. Als brave Ehefrau eines langweiligen und ungeliebten Mannes? Oder als ewige Affäre des verheirateten Davids, der ihretwegen ganz sicher nicht seine Familie aufgeben würde?

They were sensible people. No one was to be hurt. She prided herself on giving nothing away, so that he never knew of her empty Sundays, the long eventless evenings, the holidays cancelled at the last minute. (S. 61)

Äußerlich passiert nicht viel in diesen 184 Seiten, doch es macht durchaus Freude, den tapferen und auch manchmal verwirrten Bemühungen Ediths zu folgen, ihr kurzzeitiges Hotelexil zu gestalten, ihre vor allem weiblichen Mitgäste zu entschlüsseln und sich einen Reim auf den zynischen Mr Neville zu machen.

Der Traurigkeit und Einsamkeit muss dabei immer wieder Paroli geboten werden, weil es sonst einfach nicht zum Aushalten wäre.

And, sitting in the deserted salon, the first to arrive from the dining room, the felt her precarious dignity hard-pressed and about to succumb in the light of her earlier sadness. The pianist, sitting down to play, gave her a brief nod. She nodded back, and thought how limited her means of expression had become: nodding to the pianist or to Mme Bonneuil, listening to Mrs Pusey, using a disguised voice in the novel she was writing, and with all of this, waiting for a voice that remained silent, hearing very little that meant anything to her at all. The dread implications of this condition made her blink her eyes and vow to be brave, to do better, not to give way. But it was not easy. (S. 62)

Der ironische Blick bewahrt dabei das Buch vor dem Abkippen ins gar zu Melancholische. Doch der Blick der Erzählerin auf die Beschädigungen aufgrund der Geschlechterrollen, die hier vor allem die Frauen davontragen, ist zutiefst pessimistisch. Die Spielregeln werden von den Männern bestimmt. Und fast immer spielen die Frauen mit.

Gabriele von Arnim: Der Trost der Schönheit – Eine Suche (2023)

Gabriele von Arnim (*1946), weitgereist, belesen, sprachgewandt, mäandert in ihrem neuesten Werk in allerschönster, manchmal schon meditativer Weise dem Begriff der Schönheit nach. Assoziativ ihren Erinnerungen folgend, unaufdringlich Zitate von klugen Menschen und Freundinnen einbindend, streift sie wie in einem Garten umher.

… dann brauchen wir die Zumutung, die Anfechtung, um Trost finden zu können […] Dann brauchen wir Chaos, Krankheit, Angst, Liebeskummer oder eine Pandemie, um aufgescheucht, um herausgeworfen zu werden aus dem Einerlei der dressierten Gefühle. Dann dann kratzen alte und neue Zweifel an unsere scheinbar soliden Lebenstüren, werden wir heimgesucht von Dämonen, die uns belagern und benagen. […] Vielleicht ist es falsch, schon wieder Kraft zu stecken in die Abschiebung der Vergangenheit. Ich könnte den Dämonen auch guten Tag sagen und sie bitten um ein Gespräch. (S. 51)

Dabei geht es um viel mehr als nur darum, was ein Gesicht schön mache (es sei keinesfalls die langweilige Makellosigkeit), warum Diktatoren und Städteplaner die Schönheit hassen und zerstören müssen oder welche Versehrungen aus von Arnims eigener Kindheit in einer gefühlskalten hanseatischen Bankiersfamilie erst heilen mussten, bevor Schönheit für sie überhaupt erfahrbar wurde. Genauso geht die Autorin aber auch den Momenten nach, in denen wir wie taub und stumpf nichts mit der Schönheit anzufangen wissen.

Dann heißt es wieder einmal: […] die schnappenden Krokodile freilassen, die Bruchstellen bloßlegen, vielleicht die Augen leerweinen – und sich vom heilenden Sein der Schönheit in ihrem Jubel und ihrer Traurigkeit, ihrer Stille und eventuellen Widersprüchlichkeit umfangen zu lassen. (S. 70)

Wir erfahren, wo Gabriele von Arnim Schönheit findet. Beim Schwimmen im See, in Bäumen, schöner und wild gemischter Tischdekoration, Wolken und Reisemitbringseln, in Menschen, Gesprächen und Musik. Oder in ihren Vorbildern wie jener alten Frau, die kurz vor ihrem neunzigsten Geburtstag das Singen für sich entdeckt habe. Überhaupt sei das Schöne am Alter:

Wir verändern uns nicht nur mit den Falten, die sich eingraben, sondern auch mit den Fragen, die wir stellen. Wir verstecken uns weniger hinter Antworten. Das Alter ist eine Fahrt aufs offene Meer der radikalen Ehrlichkeit. (S. 38)

Gesten, ein Blumenstrauß, die Amsel im Garten, ein besonderer Steine können Trost sein in einer Welt, in der

Bilderfetzen, Gedankenfragmente, Phantasien, Wirbel, Entsetzen und Hast als Flimmergestöber im Kopf durcheinanderstürzen. (S. 8)

Eine Welt, in der diejenigen, die keine Fragen und komplexen Gedanken ertragen, sich lautstark radikalisieren, in der Sprache und Handlungen verrohen, in der Sexisten, Rassisten und Terroristen ihrer Menschenverachtung freien Lauf lassen.

Ich bin verletzt und fürchte mich, bin beunruhigt und heiter, lebe gern. Alles auf einmal. Alles durcheinander. Suche Trost im Wort, im Bild, im Klang, im Wald. Will Wärme, Nähe, Schönheit, quecksilbrige Gefühle […] Trost dringt ein in tiefere Schichten, in den Raum der Stille in uns, in den wir hineinatmen, bis uns Flügel wachsen. (S. 15)

Jede und jeder wird in diesem Buch andere Stellen anstreichen oder abschreiben, und ich würde sie am liebsten alle hier zitieren:

Man braucht innere Freiheit und die eigene innere Zeit, um jenseits von Klischees und herkömmlichen Normen sehen zu können. Um Schönheit zu finden und zu empfinden. Man braucht den Mut zur Leere in sich. Muss Wahrnehmungsballast abwerfen, der Unrast entkommen sein… (S. 188)

Vielleicht liegt ja wirklich die Schönheit der Zuwendung auch in der Freiheit, die sie dem Gebenden schenkt. (S. 154)

Sie wartete, bis sich der Sturm in ihrem Inneren legte. Als es so weit war, pflanzte sie an den verwundeten Stellen Sonnenblumen. Deborah Levy (geb. 1959)

Mir hat vor allem die implizite Aufforderung gefallen, doch endlich die Augen aufzumachen. Sich seine höchst privaten Ängste einmal freundlich anzuschauen. Sie auszuhalten. Ihnen ihre Masken zu nehmen. Undress your fears. Die Schönheit in der Gegenwart wahrzunehmen und ihren Trost zuzulassen, nicht nur Vor- sondern auch Nachfreude zu empfinden, sich sozusagen Vorräte an Schönheit für schlechte Zeiten anzulegen.

Das Fühlen zu erkunden, ist ein Wagnis und die vielleicht einzige Chance, die wir haben, die Welt zu erkennen und uns darin. (S. 41)

Immer der Tatsache eingedenk, dass Schönheit – und unsere Freude an ihr – vergänglich ist und uns immer auch an unsere Endlichkeit gemahnt.

Wenn ich mich der Schönheit hingebe, kann ich nur getröstet werden, wenn ich auch bereit bin, meine Verletzungen zu fühlen und mich als Sterbliche zu begreifen. So vergänglich zu sein wie die Schönheit: Das ist das Wagnis. Die innere Lebendigkeit macht empfindlich. Dann ist Schönheit Trost und Zumutung. […] Wer Schönheit zu sehen vermag, bleibt nicht unergriffen. […] Sie gibt nicht nur, sie fordert auch, fragt uns, wer wir sind. Oder wer wir sein könnten. (S. 78)

Denn:

Beruhigung und Gefahr kichern gemeinsam, wenn Schönheit uns überfällt. (S. 155)

Alle brauchen wir Trost. Aber so ehrlich sind nicht viele. […] Schönheit erfüllt uns, macht uns demütig, selig, ängstlich, liebend und traurig angesichts der überwältigenden und vergänglichen Fülle. Das wollen viele nicht. (S. 84)

Trost heißt nicht, dass alles gut wird. Trost heißt am Schmerzfluss Ufer bauen, Liegeplätze, an denen man den Kahn anbinden, aussteigen und sich ausruhen kann. (S. 78)

Schönheit erleben heißt Abschied nehmen. (S. 192)

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Fundstück von Ross Thomas

Ich packte meine Tasche aus und mixte mir dann einen Drink. Ich trank ihn auf einem Stuhl, der mit limonengrünem Plastik bezogen war. Es muss auf der Welt noch viel einsamere Plätze geben als ein billiges Motelzimmer nach Mitternacht, aber mir fiel keiner ein. 

Aus: Ross Thomas: Keine weiteren Fragen, Alexander Verlag, Berlin 2021,  S. 134

Die Originalausgabe dieses Krimis von Ross Thomas (1926 – 1995) erschien 1976 unter dem Titel No Questions Asked und wurde für den Alexander Verlag erstmals vollständig ins Deutsche übersetzt von Henner Löffler und Gisbert Haefs.

Ein spannend und schnörkellos erzählter Noir-Krimi um Philip St. Ives, den professionellen Vermittler zwischen Unterwelt und Gesetz. Dennoch: Vielleicht sind es gerade die Schnörkel, die mir hier fehlen und mir die Charaktere irgendwie bedeutsam oder interessant hätten machen können. Dafür sind dann 247 Seiten doch zu kurz, oder anders ausgedrückt: Es geht einfach wirklich nichts über einen Marlowe-Krimi von Chandler

R. F. Kuang: Babel – An Arcane History (2022)

Doch, doch, hier wird hier noch gelesen, auch wenn das manchmal nicht so aussieht …

Zum Beispiel den historischen Fantasy-Roman Babel, or the Necessity of Violence: An Arcane History of the Oxford Translators‘ Revolution (2022) von Rebecca F. Kuang. Die enorm erfolgreiche und bereits mit Preisen überhäufte junge amerikanische Autorin wurde 1996 in China geboren. Als sie vier Jahre alt war, wanderte die Familie nach Amerika aus.

Die englische Wikipedia fasst das Wesentliche dieses Ziegelsteins mit über 500 Seiten, den es inzwischen auch in deutscher Übersetzung gibt, kurz und knackig zusammen:

Babel is set in an alternate-reality 1830s England in which Britain’s global economic and colonial supremacy are fueled by the use of magical silver bars. Their power comes from capturing what is „lost in translation“ between words in different languages that have similar, but not identical, meanings. Silver bars inscribed with such ‚match-pairs‘ can increase industrial and agricultural production, improve the accuracy of bullets, heal injuries, and more. To create and harness this power, Oxford University created the Royal Institute of Translation, nicknamed „Babel“, where scholars work to find match-pairs. The plot is focused on four new students at the institute, their growing awareness that their academic efforts maintain Britain’s imperialist supremacy, their debate over how to prevent the Opium War, and the use of violence.

Der undurchsichtige und eiskalte Professor Lovell holt einen kleinen chinesischen Waisenjungen aus Kanton nach Großbritannien. Dieser gibt sich selbst den Namen Robin Swift. Robin soll unter der rigiden Fuchtel des Professors, der sich als sein Vater entpuppt, Griechisch, Latein und Mandarin lernen, um schließlich an dem Oxforder Royal Institute of Translation – von allen nur Babel genannt – zu studieren und zu arbeiten, wobei Babel für die Aufrechterhaltung und Ausweitung des britischen Empire von höchster Bedeutung ist. Das ruft natürlich auch eine geheime Widerstandsorganisation auf den Plan.

Wer mehr zum Inhalt dieser mit Fantasy-Elementen und unzähligen belehrenden (und streckenweise auch ermüdenden) Fußnoten versehenen Harry-Potter-Geschichte wissen möchte, würde ebenfalls auf der englischen Wikipedia fündig.

Viele Kritiker und Kritikerinnen waren hin und weg von dieser in Romanform gegossenen Imperialismuskritik, die man so tatsächlich noch nie gelesen hat. Wie hängt Imperialismus mit Rassismus, mit Sprache und Übersetzung zusammen? Was macht das mit Robin, der jugendlichen Hauptfigur, mit chinesischer Mutter und britischem Vater, die zwischen den Welten balancieren muss, in der neuen „Heimat“ Großbritannien schikaniert und diskriminiert wird, genau dort aber Chancen und Bildungsmöglichkeiten vorfindet, von denen er in China nicht mal hätte träumen können; diese Bildung dann aber wieder zum Schaden seines Herkunftslands einsetzen soll.

Auf der einen Seite gefiel mir, wie die schiere Begeisterung der Autorin für Sprache, Geschichte, Etymologie und Fragen der Übersetzung geradezu alle Dämme überflutete und ich immer wieder neugierig Namen, Wörter und geschichtliche Begebenheiten recherchierte. Und doch: Einige Wochen nach der Lektüre kann ich mich kaum an die Namen der vier Hauptpersonen erinnern. Der Plot dünn, das Ende fragwürdig, der Bösewicht nur böse, die übrigen Charaktere blass und eher als Variablen in einer Versuchsanordnung angelegt. Unzählige bildungsbeflissene Details, die manchmal nur funktionsloses Name Dropping darstellen. Der didaktische Zeigefinger gegen Rassismus und imperialistische Bestrebungen überdeutlich. Ein Buch ausschließlich für den Kopf. Oder anders ausgedrückt: Vorbildlich recherchierte Details allein machen eine Geschichte nicht lebendig.

Bit by bit London grew to feel less overwhelming, less like a belching, contorted pit of monsters that might swallow him up at every corner and more like a navigable maze whose tricks and turns he could anticipate. He [Robin] read the city. London in the 1830s was exploding with print. Newspapers, magazines, journals, quarterlies, weeklies, monthlies, and books of every genre were flying off the shelves, tossed on doorsteps, and hawked from the corners of nearly every street. He pored over newsstand copies of The Times, the Standard, and the Morning Post; he read, though did not fully comprehend, articles in academic journals like Edinburgh Review and Quarterly Review; he read penny satirical papers like Figaro in London, melodramatic pseudo-news like colourful crime reports and a series on the dying confessions of condemned prisoners. For cheaper stuff, he entertained himself with the Bawbee Bagpipe. He stumbled on a series called The Pickwick Papers by someone named Charles Dickens, who was very funny but seemed to hate very much anyone who was not white. He discovered Fleet Street, the heart of London publishing, where newspapers came off the printing presses still hot. He went back there time and time again, bringing home stacks of yesterday‘s papers for free from piles that were dumped on the corner.

He didn‘t understand half of what he read, even if he could decipher all the individual words. The texts were packed with political allusions, inside jokes, slang, and conventions that he‘d never learned. In lieu of a childhood spent absorbing it all in London, he tried devouring the corpus instead, tried to plough through references to things like Tories, Whigs, Chartists, and Reformers and memorize what they were. He learned what the Corn Laws were and what they had to do with a Frenchman named Napoleon. He learned who the Catholics and Protestants were, and how the (he thought, at least) small doctrinal differences between the two were apparently a matter of great and bloody importance. […]

He read the city, and he learned its language. New words in English were a game to him, for in understanding the word he always came to understand something about English history or culture itself. He delighted when common words were, unexpectedly, formed from other words he knew.  Hussy was a compound  of house and wife. Holiday was a compound of holy and day. Bedlam came, implausibly, from Bethlehem. Goodbye was, incredibly, a shortened version of God be with you. In London‘s East End he encountered Cockney rhyming slang, which initially presented a great mystery … (S. 31/32)

Fundstücke von Jane Haynes

… You would say that when we give something, whether it is a gift or an emotion, we have to let it go. Our power over what is given comes to an end and we are helpless to control how it will be received. Giving is an act of trust. (S. 57)

I think one of the great mistakes of human communication is the naive assumption that it is easy to understand anyone, it is a huge undertaking and requires so much more than most of us are capable of […]. Empathy is an overrated commodity. (S. 70)

In order for a dialogue to begin there have to be two people who are meeting each other with an openness and equality that will facilitate a culture of trust. (S. 97)

Aus: Jane Haynes: Who is it that can tell me who I am?, Constable 2007

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Ilse Helbich: Anderswohin (2022)

Der Droschl Verlag schreibt über den schmalen Band Anderswohin der 1923 geborenen Publizistin Ilse Helbich, der den Untertitel trägt Vom Träumen, Suchen und Finden:

In Anderswohin, verbindet die 98-jährige Ilse Helbich persönliche Erinnerungen, Selbstreflexionen, philosophische Sequenzen sowie protokollierte Gedankengänge.

Mir ging es beim Lesen so wie schon bei der Lektüre ihres autobiografisch gefärbten Werks Das Haus. Damals schrieb ich, dass es eher einzelne Sätze und Abschnitte waren, die mich weiterlesen ließen, weniger der Gesamtzusammenhang, weniger die einzelnen Erinnerungen.

Auch in Anderswohin gibt es Stellen, in denen die 1923 in Wien geborene Publizistin ihre Gedanken zum Altsein, zum Schreiben, zum Einverstanden-Sein oder zum Suchen und Finden eines Sinns so fein und zart und klar und auf den Punkt benennt, dass ich diese am liebsten alle hier zitieren würde.

Protokoll: Die Fragen, auf die ich jetzt keine Antworten habe – oder mir die alten Antworten weggeschmolzen sind. Warum bin ich noch da? So ohne Zweck, ohne Aufgaben, so ohne die Helligkeit von hohen Stunden zwischen den Trübseligkeiten der allstündlichen Mühsal. (S. 5)

Protokoll: Immer, wenn ich über das Gehen, oder über das Träumen, oder das Suchen und Finden schreibe, bin ich zuhause in einer Zone durchsichtiger Klarheit, eine Stunde selbstverständliches Tätig-Sein, ohne Beschränkung, ohne Angst, bei mir zuhause. (S. 9)

Protokoll: In der Frage leben, ohne sie zu lösen. Ein Selbstzitat. Es gibt jedoch bei Rainer Maria Rilke eine Stelle, die lautet: ‚Wenn man die Fragen lebt, lebt man vielleicht allmählich, ohne es zu merken, eines fremden Tages in die Antworten hinein.‘ (S. 88)

Protokoll: Sich überlassen? Sich überlassen. (S. 89)

Und die für mich schönste Stelle:

Was habe ich gesucht? Ich weiß es nicht mehr.

Wenn ich die Gefundene sein werde. (S. 73)

Hier ein Interview aus dem Jahr 2021 und hier eine Veranstaltung mit der Autorin anlässlich ihres Buchs Anderswohin, die im Oktober ihren 100. Geburtstag feiert.

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Ernest J. Gaines: A Lesson before Dying (1993)

Schon in der Geschichte A long Day in November (1964) um einen kleinen Jungen und seine Nöte hatte es mir die Menschenfreundlichkeit des mit zahlreichen Ehrungen ausgezeichneten Autors sehr angetan. Und der Roman A Lesson before Dying (1993) hat mir nun endgültig Ernest J. Gaines auf den Radar geholt, von dem ich jetzt noch mehr lesen möchte. 1994 erschien die deutsche Übersetzung unter dem Titel Jeffersons Würde. Das Buch, das mit dem National Book Critics Circle Award for fiction ausgezeichnet wurde, verkaufte sich bisher mehr als zwei Millionen Mal und wurde 1999 verfilmt.

Der in Louisiana aufgewachsene Ernest J. Gaines (1933 – 2019) erzählt hier aus der Ich-Perspektive des jungen schwarzen Lehrers Grant Wiggins, der in den vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts eher widerwillig zurück auf die Plantage gekommen ist, wo schon seine Vorfahren als Erntearbeiter oder Haushaltshilfen der reichen weißen Plantagenbesitzer geschuftet haben. Er unterrichtet an der kleinen Schule für die schwarzen Kinder, die notdürftig in der Kirche der Gemeinde untergebracht ist, und wohnt wieder bei seiner resoluten, aber wortkargen Tante Lou und wartet darauf, dass sich seine Geliebte endlich von ihrem Mann scheiden lassen kann, um mit ihr ein Leben woanders, fernab des alltäglichen Rassismus der Südstaaten führen zu können.

Die Geschichte beginnt damit, dass ein junger Schwarzer namens Jefferson, der zur falschen Zeit am falschen Ort war, unschuldig zum Tode verurteilt wird, weil er dummerweise zeitgleich mit zwei schwarzen Kleinkriminellen unterwegs war, die einen Laden überfallen und dabei den weißen Ladenbesitzer erschossen haben. Eigentlich wissen alle, dass bei diesem Urteil einer rein weißen Jury kein Recht gesprochen wird, so hatte der Verteidiger auch erst gar nicht versucht, die Unschuld Jeffersons zu beweisen, sondern eher darauf abgezielt, dass Jefferson für einen Raubüberfall viel zu dumm, phlegmatisch und naiv sei. Er könne auf dem Feld arbeiten, Wasser holen, Zuckerrohr schneiden, doch keinen Überfall planen. Ein hirn- und harmloses Schwein würde man doch auch nicht zum Tode verurteilen. Umsonst, die Jury verurteilt ihn einstimmig zur Todesstrafe. Der Zeitpunkt der Vollstreckung werde dann noch mitgeteilt.

Tante Lou und Emma, die Patentante des Verurteilten, kommen ohne viele Diskussionen zu dem Ergebnis, dass Grant als der Gebildetste in der schwarzen Community derjenige sei, der dem zum Tode Verurteilten in den letzten Wochen oder Monaten seines Lebens etwas von seiner Würde zurückgeben und ihn davon überzeugen müsse, eben kein dumpfes Tier zu sein, sondern ein Mann. Davon ist Grant aus später nachvollziehbaren Gründen zunächst wenig begeistert. Seine ersten Besuche im Gefängnis sind wenig Erfolg versprechend, da Jefferson sich bereits aufgegeben hat. Philosophische Gespräche sind auch nicht unbedingt das Mittel der Wahl, um einen Kontakt zwischen den beiden so unterschiedlichen Männern herzustellen.

Und so muss Grant einen Weg finden zwischen seinem Widerwillen gegen die Aufgabe, seinen eigenen blinden Flecken und der Verzweiflung des Verurteilen. Gleichzeitig muss er zwischen dem rassistischen Sheriff, der nur auf einen Vorwand wartet, Grant die Besuche im Gefängnis verbieten zu können, und dem schwarzen tiefgläubigen Pfarrer lavieren, der entsetzt ist, dass Grant eben nicht vorhat, dem Verurteilten in den letzten Wochen Gott als einzigen Tröster und Helfer anzupreisen.

Mehr zum Inhalt zu sagen, wäre falsch. Das ist ein Leseerlebnis, das man für sich selbst entdecken muss. Nur so viel: Klingt die Thematik bedrückend – und wer bei diesem Buch nicht auch mal schlucken muss, der wäre mir dauerhaft suspekt -, so habe ich die Lektüre insgesamt doch nicht als bedrückend empfunden, dafür sind die Charakterzeichnungen zu menschlich, warmherzig und witzig und unfassbar empathisch. Die Dialoge lakonisch. Der Roman muss Rassismus und rassistische Strukturen (und die Todesstrafe) nicht laut anprangern und anklagen. Das passiert hier quasi im Vorbeigehen, zwischen und hinter den Zeilen. Und wirkt dadurch umso ergreifender und dringlicher.

Als Grant Geld bei seinen Freunden sammelt, um dem Verurteilten ein kleines Radio kaufen zu können, gibt ihm auch die Café-Betreiberin Thelma zehn Dollar mit den Worten „Here.“

It was the kind of ‚here‘ your mother or your big sister or your great-aunt or your grandmother would have said. It was the kind of ‚here‘ that let you know this was hard-earned money but, also, that you needed it more than she did, and the kind of ‚here‘ that said she wished you had it and didn‘t have to borrow it from her, but since you did not have it, and she did, then ‚here‘ it was, with a kind of love. It was the kind of ‚here‘ that asked the question, When will all this end? When will a man not have to struggle to have money to get what he needs ‚here‘? […] I took the money without looking at her. I didn‘t say thanks. I knew she didn‘t want to hear it. (S. 174)

Hier und hier gibt es weitere Informationen zum Autor, der 2019 im Alter von 86 Jahren verstarb.

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Michael Frank: One Hundred Saturdays (2022)

Michael Frank, selbst preisgekrönter Schriftsteller und Publizist, hatte 2015 das Glück, die damals 92-jährige Stella Levi bei einem Vortrag an der New York University kennenzulernen, bei dem es um Fragen der Erinnerungskultur ging.

Aus diesem Zufallskontakt entstand Jahre später dieses Buch, das auf Deutsch 2023 unter dem Titel Einhundert Samstage – Stella Levi und die Suche nach einer verlorenen Welt erschienen ist, übersetzt von Brigitte Jakobeit.

In den folgenden sechs Jahren trifft Michael Frank die alte Dame an einhundert Samstagen in ihrer New Yorker Wohnung und taucht mit ihr ein in deren Lebensgeschichte. Manchmal dauert es, bis Levi besondere oder besonders schmerzhafte Erinnerungen mitzuteilen bereit ist, die oft genug nicht einmal ihr eigener Sohn kennt. Irgendwann treffen Frank und Levi sich sogar auf Rhodos, wo Stella Levi mit ihrer Familie im jüdischen Viertel aufgewachsen ist.

Lange hat sich Levi, die 1923 geboren wurde, geweigert, ihre Geschichte zu erzählen, da sie sich niemals ausschließlich über ihr Leiden während der Zeit des Nationalsozialismus hatte definieren wollen. Sie wollte gerade nicht von Schulklasse zu Schulklasse tingeln, um dort Vorträge zu halten, da sie ihr langes Leben schließlich auch vor Auschwitz und nach Auschwitz  gelebt habe.

Doch sie erkennt, dass sie allmählich zu den letzten Überlebenden gehört, die überhaupt noch die Geschichte ihrer Herkunft, die Geschichte einer untergegangenen, nein, sinnlos vernichteten Welt erzählen können. Aus diesem Grund wird der Kindheit und der Jugend Stellas ein Drittel des Buches eingeräumt, und das ist wahrlich faszinierend.

Stella Levi wuchs in La Juderia auf, dem alten jüdischen Viertel im Ostteil der Altstadt von Rhodos. Dort lebten sie als die Nachfahren sephardischer Juden, die Ende des 15. Jahrhunderts aus Spanien vertrieben worden waren. Es ist eine lärmige, eine enge, aber auch liebevolle Welt zwischen Aberglaube, alten Wundermittelchen, strenger Nachbarschaftskontrolle, jüdischen Traditionen und Feiertagen, den ersten Anzeichen der Moderne, zwischen relativer Armut und reichen Verwandten, engen Familienbindungen, Bildungshunger und dem meist friedlichen Neben- und Miteinander verschiedener Sprachen, Religionen und Milieus.

… Stella reminds me that the Rhodes of her youth was undergoing a multifaceted transition toward modernity. While her grandmothers‘ generation was still alive, yes, they continued to respect their beliefs and embrace their treatments, but even then there was an understanding that other choices, other ways, might be called for. (S. 26)

So wird nach dem Tod ihrer Großmutter Sara ihre Tante Tia Rachel rüde von ihrem Bruder zurück ins Haus beordert, als diese den traditionellen Klagegesang vor dem Haus anstimmen wollte.

… it wasn‘t fitting, it was almost unseemly, Mazliah whispered, to have the dead woman‘s daughter standing outside, ululating in public. ‚Not today,‘ Mazliah told his sister. ‚We‘ve moved beyond this sort of thing now.‘ Tia Rachel turned around and sat down, quietly humiliated, and that was the end of los lloros in Stella‘s family … (S. 35)

Ganz selbstverständlich gehen die Frauen der Familie einmal die Woche ins türkische Bad, man picknickt mit griechischen Freunden, zu denen man sein eigenes kosheres Essen mitbringt, und die Kinder sprechen Judäo-Spanisch, Griechisch und lernen Französisch und später auch Italienisch in der Schule. Stella hat zwei Brüder und vier Schwestern, von denen besonders Felicie als intellektuell gilt. Sie liest Thomas Mann und Freud und schämt sich für althergebrachte Heilmethoden und abergläubische Praktiken, doch Levi erklärt, dass vieles davon funktioniert habe bzw. früher einen ganz praktischen Sinn erfüllt habe. Wenn die Großmutter mit dem Kind, das auf der Straße gefallen und sich wehgetan hat, zu genau der Stelle ging und dort Salz auf die Straße streute, dann sei das nicht einfach dumpfes Mittelalter gewesen:

The salt or sugar being thrown down into the street where people fell, or were afraid to fall, and the prayer recited afterwards? This, Stella points out, is connected to the topography of the Juderia and its history. Before the Italians came, before there was electricity, after nightfall, the narrow streets of the Juderia were indeed verifiably dangerous, and people were afraid of falling and not being found until morning, so someone devised a response using the tools at hand (salt, sugar, a prayer). (S. 26)

Schwester Renée hingegen geht noch ganz in den alten Traditionen auf und bestickt mit Hingabe ihre Aussteuer für die Hochzeit mit einem Bräutigam, den sie sich nicht selbst aussuchen wird.

Doch vor allem ist es eine bunte, eine menschliche und quicklebendige Welt.

The Juderia was such an alive place. It was alive with scent, color, taste, movement, sound – so much sound, for so many hours of the day. When Stella wasn‘t sleeping over at Nisso‘s house she would often be awakened even earlier, by the first call to prayer in the morning, which boomed out from the minaret that towered over the mosque nearby. If she drifted back to sleep, and even if she didn‘t, the next thing Stella would hear was the gurgle of coffee being put up downstairs, which was quickly followed by the whisking and mixing and kneading and banging about that started as her mother, or her neighbors‘ mothers, with all their windows and doors flung open to the bright morning light, would get an early start on the day‘s cooking. Next came the housemaids – for those who had them – who while they worked would sing to, and with, one another across the kortijos in Judeo-Spanish […] in a call-and-response that seemed to stand out of time. As the morning advanced, along came the broom-maker hawking his wares, the Turkish vendors with the vegetables and their yogurt. […] Next: the men reciting the morning prayers from the courtyard of the synagogue. After that, and threaded all through the day, singing: as children walked to school and back, as babies were put down for their naps, as young people gathered, and as women cooked or, later, as they embroidered deep into the night. (S. 30-31)

Stella erzählt nicht nur vom Frauen- und Männerbild, von der Nahrungszubereitung, ihren ersten Freundschaften zu Männern, den sich ändernden Trauerritualen, sondern auch vom nachbarschaftlichen Zusammenhang und den verwandtschaftlichen Beziehungen (bei denen ich schon früh den Überblick verloren habe).

Bemerkenswert fand ich dabei, dass es schon immer Verwandte und Bekannte gab, die außerhalb Europas ihr Glück gesucht haben. Stellas Bruder Morris wanderte zwei Jahre vor Stellas Geburt mit Verwandten nach Amerika aus. Über einen Heiratsvermittler wird Selma, ihre ältere Schwester, mit einem Mann in New York verheiratet, der ihr gerade einmal bis zur Schulter reichte. Und ihr Bruder Victor verließ Rhodos 1939, um nach Belgisch-Kongo auszuwandern. Schwester Felicie schafft es 1940, mit dem letzten Dampfer von Rhodos aus nach Amerika zu flüchten.

Noch unter italienischer Besatzung nimmt die antisemitische Gesetzgebung Fahrt auf. Stellas Vater, der als Kaufmann gearbeitet hat, wird quasi enteignet und De Vecchi lässt den Jahrhunderte alten jüdischen Friedhof verlegen, um Platz für einen öffentlichen Park zu schaffen. 1938, Stella ist 15 und eine Musterschülerin, wird jüdischen Kindern der Schulbesuch untersagt. Eine traumatische Erfahrung, die auf ihr ganzes weiteres Leben abfärbt. Einer Schulklasse erklärt sie später:

It would take you a lifetime to understand what that meant to your sense of who you are, what you deserve in life. I am what I am today because of what happened to me in 1938. I took it very personally. It felt like my family and I were being treated like animals – animals don’t need to work or study, do they? (S. 76)

Einige couragierte italienische Lehrer bieten noch ein paar Jahre Nachmittagsunterricht für interessierte jüdische Schüler und Schülerinnen an. Doch trotz aller Einschränkungen und selbst nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten im Herbst 1943 können oder wollen sich die meisten Juden nicht vorstellen, dass es noch schlimmer kommen könnte.

Im Frühjahr 1944 beginnen die britischen Bombardierungen der Insel.

Doch die Nazis halten ihre Vernichtungsmaschinerie nicht an. Am 19. Juli 1944 sollen sich die jüdischen Männer einfinden, am nächsten Tag die Frauen einschließlich all ihrer Wertgegenstände. Täten sie das nicht, würden die Männer erschossen.

‚We still – still – had no idea why they were collecting us,‘ Stella says. ‚We thought they were taking us to a camp, maybe another island, to work. And that we would need money to pay for our food. It‘s amazing how the human mind tries to make sense out of —‘. She pauses. ‚Anyway we did as we were told. We went home, and we packed our bags. (S. 115)

Am Morgen des 23. Juli, einem Sonntag, lassen die Nazis die Sirenen heulen, die vor einem Luftangriff warnen, damit sich niemand auf die Straße traut. Die über 1.700 Juden von Rhodos werden durch die Stadt getrieben, auf Boote verfrachtet und auf entsetzliche Art und Weise dann später mit Zügen nach Auschwitz gebracht. Über 90 Prozent werden die Lager nicht überleben.

Die Frage, wie es möglich war, dass innerhalb nur weniger Tage eine Handvoll SS-Offiziere die komplette jüdische Bevölkerung identifizieren, zusammentreiben und verschiffen konnte, ließ sich nach Durchsicht der Aktenberge klären, die Jahrzehnte später, nämlich 2011, in der Polizeistation von Rhodos entsorgt werden sollten, um Platz zu schaffen. Historiker konnten nach diesem Fund nachweisen, dass die italienischen Behörden nach polizeilicher Aufforderung bereits im April eine Liste aller Juden auf Rhodos angefertigt und diese Liste an die Deutschen weitergeleitet hatten. Es gab auf anderen griechischen Inseln auch Proteste und Solidarität mit den Juden, die man beispielsweise versteckte oder mit gefälschten Papieren ausstattete, doch nicht auf Rhodos.

Stella Levi erzählt auch von ihrem Erleben in Auschwitz, dem herzzerreißenden Erkennen, dass ihre Eltern, Onkel und Tante vergast worden sind, ihrem Überlebenswillen, den traumatischen Erlebnissen und dem Glück, dass sie und ihre Schwester Renée überlebt haben, dem endgültigen Verlust der Heimat und dem langen Warten auf gültige Papiere in Italien, dessen Staatsbürger sie ja noch waren, bis sie endlich zu ihren Geschwistern in die USA reisen konnten. Frank zeichnet dabei ebenfalls den beruflichen und privaten Lebensweg dieser beeindruckenden und hellwachen Frau bis ins hohe Alter nach, doch der Schwerpunkt liegt auf ihrer Jugendzeit und den Erfahrungen während des Krieges.

Ein Buch, das – das schreibt sich so leicht und ist doch so bedeutsam – den Jüdinnen und Juden auf Rhodos ein Denkmal setzt, das uns eine Welt zeigt, die die Nazis vernichtet haben, und das uns sehr schlicht und gänzlich unpathetisch mahnt.

Mich beunruhigt es zutiefst, dass wir wieder Politiker in unserem Land haben, die alles tun, um derlei Menschenverachtung und völkische Herrenmenschenfantasien wieder an die Macht zu bringen, und dass wir Wähler und Wählerinnen haben, die genau das wollen und gutheißen. Oder in Stellas Worten:

In the end we are all similar, everyone with differences and defects. What‘s essential is to value humanity. (S. 199)

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In Lärbro auf Gotland in Schweden wurden seit 1942 in einem Kriegslazarett auch Opfer des Nazi-Regimes und Überlebende aus Auschwitz behandelt. Nicht alle konnten gerettet werden. Und so finden sich – ungewöhnlich für einen christlichen Friedhof – auch neun jüdische Gräber auf dem Friedhof an der Kirche.

Robert Cedric Sherriff: The Fortnight in September (1931)

Anlässlich der neuen deutschen Übersetzung des Romans von R. C. Sherriff (1896 – 1975) von Karl-Heinz Ott, die im Juni 2023 unter dem Titel Zwei Wochen am Meer im Unionsverlag erschienen ist, gibt’s heute mal einen Post aus dem Archiv:

The Fortnight in September ist eines dieser nur auf den ersten Blick unspektakulären, ja fast biederen Bücher, die sich dann auf leisen Sohlen zu ihrem Platz im Regal der Lieblingsromane schleichen. Doch von vorn:

On rainy days, when the clouds drove across on a westerly wind, the signs of fine weather came from over the Railway Embankment at the bottom of the garden. Many a time, when Mrs. Stevens specially wanted it to clear up, she would look round the corner of the side door and search along the horizon of Railway Embankment for a streak of lighter sky.

Schon seit 20 Jahren – immer im September – fahren Mr und Mrs Stevens mit ihren drei Kindern für 14 Tage in die gleiche Pension ins britische Seebad Bognor. Also tägliche Spaziergänge auf der Strandpromenade, Musikpavillions, Jahrmarktsrummel, vormittägliches Baden, gutes Essen, das ganze Programm.

Und bei einem dieser Familienurlaube und den dazu notwendigen Vorbereitungen – schließlich muss der Kanarienvogel bei der Nachbarin untergebracht, die Versorgung der Katze sichergestellt und der Gepäcktransport zum Bahnhof organisiert werden – begleiten die Leserinnen und Leser die Familie.

Die ängstliche Mrs Stevens, schon eine belebte U-Bahn-Station ist ihr ein Graus, gewinnt im Laufe des Buches am wenigsten Kontur. Noch nicht einmal ihre Familie weiß, dass ihr die abendliche Stunde im Urlaub die liebste ist, die sie nach dem Abendessen allein mit ihrem – natürlich rein medizinischen – Glas Portwein und einer Handarbeit verbringt.

Und während der zehnjährige Ernie nach einem langen Strandtag schon tief und fest schläft, bummeln die beiden wesentlich älteren Geschwister Dick und Mary noch ein wenig durch den Küstenort. Die beiden sind seit kurzem berufstätig, wohnen aber noch zu Hause, doch alle ahnen, dass die Zeit der gemeinsamen Familienurlaube sich allmählich dem Ende zuneigt.

Mr Stevens, der sich vom Laufburschen zum Angestellten hochgearbeitet hat, ist ein liebevoller Familienvater, zwar ein wenig pedantisch und alles akribisch planend, dabei aber immer darauf bedacht, dass jedes Familienmitglied im Urlaub seinen Interessen nachgehen kann, und so verfügt er, dass alle zwei Tage jeder seinem eigenen Tagesprogramm folgt, damit man sich nicht gegenseitig auf die Nerven fällt und, wenn die Familie wieder zusammenkommt, auch etwas zu erzählen hat. Die Abende beschließt er mit einem Bier in seinem Lieblingspub.

Klingt das unspektakulär? Fast ein wenig hausbacken? Ja, sicherlich, und doch hat das Buch – neu aufgelegt in der elegant-grauen Reihe der Persephone Books – einen ganz eigenen Reiz.

Der Erzähler lässt seinen Figuren ihre Durchschnittlichkeit, ihre Begrenzung und manchmal ist es auch des Auktorialen ein wenig zu viel. Dennoch mochte ich sehr, wie die unbändige, fast naive Freude an 14 Tagen Urlaubsfreiheit spürbar und nachvollziehbar wurde. Wie sehr die fünf diese Zeit als Familie genossen und alle kleinen und großen Aufregungen gemeinsam gemeistert und besprochen haben.

Mr Stevens hat beispielsweise das Ritual, einen Tag im Urlaub ganz allein eine lange Wanderung zu unternehmen, in der er seine Vergangenheit, seine Ehe und im Besonderen das vergangene Jahr Revue passieren lässt. Das richtet ihn wieder aus und versöhnt ihn mit Enttäuschungen und geplatzten Hoffnungen.

Der Horizont der „kleinen Leute“ mag eng sein, so wie metaphorisch schon der Eisenbahndamm am Ende des Gartens die Sicht versperrt, und die Stevens mögen sich durchaus durch Reichtum und selbstsicheres Auftreten anderer beeindrucken und auch einschüchtern lassen; dennoch wird deutlich, dass sie Arroganz und moralische Leere durchschauen und stolz auf ihre Familie sind.

Der Haupteindruck, der von der Lektüre zurückbleibt, ist der, dass Sherriff ein freundliches Buch geschrieben hat. Das ist weder platt noch Heile-Welt-Idylle, aber ein freundliches, ein menschenfreundliches Buch.

Und letztendlich gilt es doch für uns alle, was Mr. Stevens am letzten Abend  durch den Kopf geht:

The first evening came back to him very clearly as he sat in the armchair to finish his pipe before going up to bed. He had known on that first night how quickly the holiday would slip away, and had pictured himself as he would be sitting on the last evening, looking back with mingled pleasure and sadness. (S. 319)

Das Buch war damals ein unglaublicher Überraschungserfolg, wurde auch von der Kritik begeistert aufgenommen, in mehrere Sprachen übersetzt und erschien 1933 in einer deutschen Übersetzung unter dem Titel Badereise im September.

Walter Benjamin hat damals den Roman besprochen und sah in ihm besonders die Fähigkeit der „kleinen Leute“ verkörpert, sich ihren Alltag durch kleine Fluchten und Tagträumereien erträglich zu machen, eine recht herablassende Haltung, wie  mir scheint.

Fast 90 Jahre nach der Ersterscheinung, im Frühjahr 2020, bat der Guardian renommierte Schriftsteller und Schriftstellerinnen um Lektüretipps, mit denen man sich die Pandemie ein wenig erträglicher machen könne. Kazuo Ishiguro empfahl – wie schön – A Fortnight in September.

Hier lang zu einem Interview mit Karl-Heinz Ott, der das Buch ins Deutsche übersetzt hat, auch wenn sich darin leider kein Hinweis auf die alte deutsche Übersetzung von 1933 findet.

Hier gibt es eine Besprechung von Meike Albath auf der Seite des Deutschlandfunks.

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Nita Prose: The Maid (2022)

The Maid, das bereits millionenfach verkaufte Debüt der Lektorin Nita Prose, ist nicht der erste Krimi, der aus der Sicht einer leicht autistischen Hauptfigur erzählt wird, aber mal wieder einer, den ich kaum aus den Händen legen mochte und der inzwischen auch auf Deutsch erhältlich ist.

Die junge Molly, 25, sagt selbst über sich:

I think it‘s because I have difficulty interpreting expressions that I‘m the last person anyone invites to a party, even though I rather like parties. Apparently, I make awkward conversation, and if you believe the whispers, I have no friends my age. To be fair, this is one hundred percent accurate. I have no friends my age, few friends of any age, for that matter. (S. 9)

Molly ist bei ihrer Großmutter aufgewachsen, an der sie sehr gehangen hat. Gran hat alles dafür getan, dass Molly ein weitgehend normales und selbstbestimmtes Leben führen kann, hat ihr einen intakten moralischen Kompass mitgegeben und erklärt, was verschiedene Gesichtsausdrücke und Reaktionsweisen der Mitmenschen bedeuten können und ihr auch den Job im Hotel besorgt. Doch vor neun Monaten ist Gran gestorben und die junge Frau muss sich nun allein in ihrer kleinen Welt zurechtfinden. Einziger Halt dabei ist ihre Arbeit als Zimmermädchen im edlen Regency Grand Hotel. Sie liebt diese Arbeit innig, kommt sie doch ihrem schon manchmal zwanghaften Bedürfnis nach Ordnung, Sauberkeit, Routinen und klaren Abläufen entgegen. Außerdem werden Zimmermädchen quasi nie wahrgenommen und das enthebt Molly von dem Problem, dass sie selten weiß, ob ihre Reaktionen  und Kommentare angemessen wären. Gleichzeitig ist sie eine gute Beobachterin, kein Detail – und sei es eine schiefe Franse – entgeht ihr.

Doch dann passiert etwas ganz und gar Unvorhergesehenes: Molly entdeckt den unsympathischen und schwerreichen Hotelgast Mr Black, mit dessen wesentlich jüngerer Frau sie ab und an gesprochen hat, mausetot in seiner Suite. Ein weiterer Handlungsstrang dreht sich um den attraktiven Barkeeper, dessen oberflächlichem Charme Molly zunächst wenig entgegenzusetzen hat und der keinerlei Skrupel zeigt, Mollys Anständigkeit für seine Zwecke einzuspannen. Und wie könnte es anders sein; die Kommissarin findet Mollys Verhalten ausgesprochen verdächtig. Doch so allein in der Welt, wie Molly dachte, steht sie dann gar nicht, und mit Hilfe dieser unerwarteten Freunde geht sie daran, ihre Unschuld zu beweisen und die Grenzen ihrer Welt auszuweiten.

Manchmal möchte man gern mit und auch über Molly lachen, wenn sie anderen in ihrer ganz eigenen und unverwechselbaren Art die Leviten liest, und dann wieder bleibt einem das Lachen im Halse stecken, zum Beispiel wenn Molly sich daran erinnert, wie sie als Kind lieb und voller Vertrauen der Welt gegenüber, in der Schule gequält wurde.

Das Ganze liest sich charmant und ausgesprochen menschenfreundlich und dennoch nicht oberflächlich oder hohl. Und spannend ist es obendrein. Man könnte sagen, Molly putzt und schleicht sich unauffällig, aber unaufhaltsam in die Leser*innenherzen. Hier ein paar begeisterte Auszüge aus renommierten Rezensionen.

Und überhaupt: Wie oft nehmen wir eigentlich andere Menschen wirklich wahr?

I am your maid. I‘m the one who cleans your hotel room, who enters like a phantom when you‘re out gallivanting for the day, no care at all about what you‘ve left behind, the mess, or what I might see when you‘re gone. […] When I‘m done with my work, I leave your room pristine. Your bed is made perfectly, with four plump pillows, as though no one had ever lain there. The dust and grime you left behind has been vacuumed into oblivion. Your polished mirror reflects your face of innocence back at you. It‘s as though you were never here. It‘s as though all of your filth, all of your lies and deceits, have been erased. I am your maid. I know so much about you. But when it comes down to it: what is it that you know about me? (S. 1)

Der zweite Band um Molly soll 2023 unter dem Titel The Mystery Guest erscheinen und die Verfilmung von The Maid ist bereits geplant.

Penelope Mortimer: Bevor der letzte Zug fährt (OA 1958)

Wer einen – bedrückenden – Blick in ein vermutlich nicht so seltenes Frauenleben Mitte der Fünfziger Jahre des letzten Jahrhunderts werfen möchte, ist mit Penelope Mortimers Roman Bevor der letzte Zug fährt gut bedient. Das Buch erschien im englischen Original 1958 unter dem Titel Daddy‘s Gone A-Hunting und wurde nun in einer ansprechenden Ausgabe vom Dörlemann Verlag herausgebracht, erstmals ins Deutsche übersetzt von Kristine Kress.

Erzählt wird die Geschichte der Zahnarztgattin Ruth Whiting, die mit gerade einmal 37 Jahren spürt, dass es aus ihrem wohlsituierten Vorstadtleben im Grunde kein Entkommen mehr gibt: Ehemann Rex kommt von seiner Arbeit in London nur an den Wochenenden nach Hause, die zwei Söhne sind im Internat und Tochter Angela studiert in Oxford. Ruth geht shopping, ist dabei finanziell völlig abhängig von ihrem Mann, es gibt belanglose Treffen mit den anderen Frauen in der Nachbarschaft mit dem üblichen boshaften Klatsch und Tratsch, wirkliche Interessen hat man nicht, und falls man doch intelligent und sensibel genug ist, sich beim dem oberflächlichen Geschwätz auf den Partys zu langweilen, behält man das besser für sich oder entwickelt auf Dauer nervöse Ängste.

Wie kleine Eisberge halten alle [die Frauen] ein helles, strahlendes Gesicht über Wasser, doch unter der Oberfläche, viele Faden tief getaucht in Müßiggang, verbirgt jede ihre eigene, vereinsamte Persönlichkeit. Einige sind glücklich, einige vergiftet von Langeweile, einige trinken zu viel, und einige sind, unterhalb der Demarkationslinie, leicht verrückt; manche lieben ihre Ehemänner, und manche gehen an Lieblosigkeit ein; ein paar wenige haben Talent, so unbrauchbar für sie wie ein gelähmtes Körperglied. Ihre Freundschaften, die so offen und heiter wirken, sind glühend und kurzlebig, und verwandeln sich schnell in Bosheit. Zusammengeschlossen könnte ihre Energie eine Revolution auslösen, halb Südengland mit Strom versorgen… (S. 44)

Ruth geht es immer schlechter, die Liebe zu ihrem Mann – falls je vorhanden – ist längst weg.

Das erste Stadium des Albtraums ist der Verlust der Fähigkeit, etwas für belanglos zu halten. Das Bewusstsein ist bis zu dem Punkt geschärft, an dem nichts mehr banal ist, sondern jeder Augenblick, jedes Detail denselben unerträglichen Schrecken hat. (S. 75)

Rex vertreibt sich die Zeit mit Liebschaften, dem Aufrechterhalten der bürgerlichen Fassade und lässt seinen kalten Zorn darüber, dass er Ruth heiraten „musste“, weil diese mit 18 „trächtig“ war, zumindest verbal rücksichtslos an ihr aus. Er verachtet Ruth, so als sei die frühe Heirat aufgrund Ruths Schwangerschaft ausschließlich die Schuld seiner Frau gewesen. 

In all den Jahren ihrer Ehe – ein langer Krieg, in dem ein Angriff, so er nicht erfolgte, stets drohte – hatte sie eine meisterhafte Geschicklichkeit erworben. Verletzungen konnten vermieden, dem Unglück entkommen werden, indem man weglief. Gefühle von Schuld und Feigheit wurden überwunden mit Hilfe von Träumen, Spielen und dem sanften Klang ihrer eigenen Stimme, die sie beriet und tadelte, wenn sie im Haus herumwirtschaftete. […] Sie war immer noch jung und ihr nach außen gewöhnliches Leben erfüllt von tiefer Fantasie und voller Verstecke – unter den gleichförmigen Tagen befand sich ein Irrgarten aus Heimlichkeit und List und Hoffnung. (S. 13)

Dann droht sich Ruths Schicksal in dem ihrer 18-jährigen Tochter Angela zu wiederholen. Auch sie wird ungewollt schwanger von einem Mann, von dem man nicht so richtig weiß, warum sie überhaupt mit ihm geschlafen hat. Ruth, obwohl ihr eigentlich längst jede Eigeninitiative abhanden gekommen bzw. von Rex unterdrückt worden ist, versucht nun, Wege zu finden, damit Angela halbwegs sicher abtreiben kann, obwohl das illegal ist. Nicht nur, weil sie weiß, dass Rex, sollte er von der Schwangerschaft erfahren, ihre Tochter verstoßen würde, sondern auch, damit Angela ihren Weg finden kann, ohne vorschnell in einer lieblosen Hausfrauenehe festzustecken. 

Denk nicht darüber nach, ob du das Richtige getan hast. Nichts ist richtig. Das Schlimmste ist, zu viel zu erwarten und nicht zu wissen, nicht erklärt zu bekommen, warum man so wenig kriegt. In Liebe wahrhaftig sein, ist richtig. (S. 280)

Heimlich eine Lösung zu finden ist alles andere als einfach, zumal sie sich, stärker als Angela, bewusst ist, dass bei einer Abtreibung unwiderruflich ein Leben zerstört wird. 

Mortimer schafft es, Ruths Beklemmung, ihre Hoffnungslosigkeit, ihren unterdrückten Sinn für Humor und ihr nach außen hin unsichtbares Aufbäumen geradezu schmerzhaft zu sezieren. Die Kosten, die von dem einzelnen zu tragen sind, wenn die Gesellschaft das Einhalten bestimmter Rollenbilder – von Mann und Frau – verlangt. Kosten, die auch die nächste Generation noch spürt.

Das ganze Leben ist eine ewige Vorbereitung auf gar nichts. Steck Fähnchen in die Häppchen, inspizier die Vorratskammer, leer die Aschenbecher aus; halt alles in Ordnung, geh zur Maniküre, schick kleine Botschaften den kurzen Weg durchs Telefon. Wenn du dich bewegst, rascheln alte Einkaufslisten wie abgestorbene Blätter; wenn du still sitzt, lauert der Terror verrinnender Zeit. Du musst weitermachen. Du rennst hinter den hohen Mauern herum. (S. 87)

Gleichzeitig ertappte ich mich öfter bei dem Gedanken, ja, ich hab das jetzt verstanden, ihr Mann Rex ist ein Ekel, Ruth hat resigniert, wird ein Leben lang dafür bezahlen, dass sie mit 18 mit dem falschen Mann geschlafen hat. Für mich hätte die Story besser als Erzählung funktioniert. So war es allem Drumherum, allen Nebencharakteren und der passenden Sprache zum Trotz manchmal auch ein arg langer Weg durch diese 300 Seiten.

Sie fühlte sich besiegt und geschlagen und alt. Irgendwo jenseits dieses verrauchten Raums mit seinen Krümeln und sterbenden Pflanzen, den flotten Kleidern vollgestopft mit alternden Körpern, der Intimität und Boshaftigkeit, irgendwo da draußen war die Welt. Schiffe fuhren herum, Jollen segelten in einer Bucht, und Kanus glitten einen Fluss entlang; Schwarze nahmen am Mittagstisch Platz, und Soldaten lagen in Schützengräben, Giraffen fraßen die Wipfel von Bäumen. Waren sie vielleicht alle tot, ohne es zu wissen? (S. 60)

Aber, und es ist ein großes Aber: Hinter Ruths scheinbar zeitgebundenen Fragen lauern Fragen, die heute möglicherweise kein bisschen einfacher zu beantworten sind. 

Aber wie soll ich mit mir zurechtkommen? Was soll ich mit mir mein Leben lang anfangen? […] Aber was ist, wenn da kein anderer ist, den ich lieben, bemitleiden oder loben kann? Wenn niemand von mir weiß, sich an mich erinnert, wenn ich für niemanden wichtig bin? (S. 145)

Hier noch ein interessanter Artikel zur Autorin.

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Fundstück von Ewald Frie

Ich konnte weit vor der Einschulung lesen und schreiben. Ich verschlang alle Bücher in unserem Vitrinenschrank. Die Frakturschrift einiger Bibelausgaben betrachtete ich eher als sportliche Herausforderung denn als Hindernis. Dann nahm ich mir die Bestände der Katholischen öffentlichen Bücherei vor. Meine Mutter legte eine Obergrenze an Büchern fest, die ich pro Woche lesen durfte. Sie war in Sorge um meine Gesundheit. [… Meine Geschwister] beschwerten sich, ich würde nur deswegen so viel lesen, weil ich zu faul zum Arbeiten sei. […] Immerhin führte mein Lesepensum dazu, dass ich ohne erkennbare Anstrengung mit guten Noten durch die Schule kam. Außerdem konnte ich Theater spielen, lange Gedichte aufsagen und bei Familienfesten den Conferencier geben. In den Augen meines Vaters waren das lauter schöne und beeindruckende, aber auch völlig nutzlose Fähigkeiten. Die üblichen Haus- und Hofarbeiten machte ich nicht gut. Außerdem hatte ich Angst vor Tieren. Nach dem Abitur gab er mir den Ratschlag, reich zu heiraten. Wahrscheinlich konnte er sich einfach keinen Ort vorstellen, an dem meine Fähigkeiten gebraucht würden.

Aus: Ewald Frie: Ein Hof und elf Geschwister – Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben, C. H. Beck 2023, S. 151

Christopher Huang: Unnatural Ends (2023)

Seit 2019, als ich von dem Kriminalroman A Gentleman‘s Murder von Christopher Huang (2018) hin und weg war, habe ich auf das nächste Buch des Autors gewartet. Und nun – nach der Lektüre von Unnatural Ends – frage ich mich, ob es nur meine Erwartungen waren, die enttäuscht wurden, oder ob sich Huang hier doch verhoben hat.

Kurz zum Inhalt: Familienpatriarch Sir Lawrence Linwood wird im April 1921 von seiner Frau ermordet aufgefunden. Die Beisetzung ruft seine drei erwachsenen Adoptivkinder zurück ins heimatliche Herrenhaus Linwood Hall in Yorkshire, als da wären Alan, seines Zeichens Archäologe, seine Schwester Caroline, Journalistin in Paris, und Roger, Autofan und Ingenieur. Bei der Testamentsverlesung dann die Überraschung: Die Kinder sollen jeweils ein Drittel des Erbteils bekommen, doch falls sein Tod auf ein Verbrechen zurückzuführen sei, solle das Kind Alleinerbe des Linwoodschen Anwesens und Vermögens sein, das den Mord aufklärt.

Besonders überrascht sind Roger, Caroline und Alan über diese Klausel nicht, denn ihr Vater hat sie von klein auf auf Konkurrenzdenken und das rücksichtslose Verfolgen ihrer Ziele getrimmt. Gefühle galten als schwächliche Sentimentalität, die es möglichst auszumerzen galt, wobei sich Rebecca Linwood, die Mutter, in die Erziehung der drei adoptierten Kinder niemals eingemischt hat.

Zunächst gehen die drei Geschwister tatsächlich getrennt voneinander verschiedenen Spuren nach, während die Polizei immer irgendwo hilflos und ziemlich funktionslos im Dunklen herumtappt.

An der Ausgangslage für diesen Krimi, der – abgesehen von den Rückblenden in die Kindheit der Geschwister – 1921 spielt, lag es trotzdem nicht, dass das mit viel Zeitkolorit angereicherte Buch nur bedingt für mich funktioniert hat.

Dass die drei jungen Menschen emotional quasi unbeschadet aus ihrer Kindheit hervorgegangen sind, ist schlicht unrealistisch. Zwar wird der alptraumhafte väterliche Einfluss auf sie, ihr Bestreben, sich selbst als Erwachsene noch seinem Diktat zu beugen und seine Werte hochzuhalten, immer wieder behauptet, doch in ihrem Tun zeigen die Geschwister, dass sie sich längst davon emanzipiert haben.

Roger, Alan und Caroline, aus deren personaler Perspektive abwechselnd erzählt wird, klingen leider alle gleich, was besonders dann ein Problem ist, wenn dreimal die gleiche Situation geschildert wird, wie beispielsweise ihre Ankunft im Dorf Linwood Hall.

There were better reasons for coming home, Alan supposed, than Father‘s funeral. Standing on the platform of the Linwood Hollow railway station, he waited until the train had chugged its way around the bend, then turned towards the village before taking a deep breath of the crisp Yorkshire air. He held it in his lungs, letting Yorkshire diffuse into his being, then expelled the air  and, with it, all his previous cares. (S. 9)

Die vielen Wiederholungen – mit denen beispielsweise das „exotische“ Aussehen von Caroline und Roger betont wird – wirken redundant und bemüht. Da hätte viel straffer erzählt werden können und müssen. Hin und wieder verliert sich Huang in langen, langen Beschreibungen. Wenn‘s tragisch wird, beginnt ein heftiger Sturm. Das wirkte hier nicht immer echt.

Und dann die logischen Löcher. Wird in einem Mordfall tatsächlich erst so spät das Konto des Opfers unter die Lupe genommen? Was macht die Polizei überhaupt? Wieso wissen die drei Geschwister nicht, wie viele Kinder der Anwalt der Familie hat, wenn dieser doch seit Jahrzehnten für alle Angelegenheiten der Linwoods zuständig ist? Woher bezieht der Mörder seine Informationen?

Der Krimi wirkt wie eine unglückliche Kombination aus einem Schauerroman und einem Golden Age-Krimi. Und auch wenn die philosophische Grundidee interessant – und äußerst beklemmend – ist und weit über dem Durchschnitt vieler anderer Krimis liegt, hier ist mir zu viel Gothic Grusel; die Auflösung habe ich lange vor dem Ende geahnt und am Ende geht mir das Leiden einer Romanfigur, verursacht vom komplett eindimensional geschilderten Schurken, näher als die ganze übrige Handlung.

Fazit: Lest A Gentleman‘s Murder. Gibt es auch auf Deutsch und ist richtig gut.

Ewald Frie: Ein Hof und elf Geschwister – Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben (2023)

Dass ich mal freiwillig und gern ein ganzes Buch über Landwirtschaft lesen würde, hätte ich auch nicht gedacht, aber Ewald Frie (*1962) hat zwei seiner biografischen Umstände einfach cool kombiniert.

Zum einen ist Frie Professor für Neuere Geschichte an der Universität Tübingen und zum anderen entstammt er einer alten münsterländischen Bauernfamilie, die sich bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgen lässt. Was lag also näher, sowohl als Wissenschaftler als auch als Bauernkind, das noch zehn Geschwister hat, dem Phänomen nachzugehen, dass uns das bäuerliche Leben mit seinen ganz eigenen Werten und Spielregeln immer fremder wird.

Ich erzähle eine Geschichte, in die ich selbst verstrickt bin. Das ist schwierig. Ich weiß mehr, als ein Fremder wissen könnte. Aber ich bin voreingenommen. Und ich werde nicht alles erzählen, was ich weiß. Schließlich will ich mit meinen Geschwistern weiterhin Feste feiern und Doppelkopf spielen. (S. 16)

Das Ergebnis Ein Hof und elf Geschwister – Der stille Abschied vom bäuerlichen Leben verkauft sich nicht nur richtig gut, sondern hat dann gleich den Sachbuchpreis 2023 gewonnen.

Und auch ich, deren einzige Verbindung zur Landwirtschaft die dürftige Tatsache ist, dass meine Oma aus einer kleinen und eher ärmlichen Bauernfamilie kam, habe die 190 Seiten, randvoll mit auf den Punkt gebrachten Informationen, mit großem Interesse gelesen. Das ausgesprochen kurzweilige Buch beleuchtet einen gesellschaftlichen Wandel, dessen Folgen uns – trotz ekliger Massentierhaltung mit seinen Auswirkungen auf Klima und Umwelt und lächerlich geringen Preisen für Lebensmittel – vermutlich noch gar nicht genügend bewusst sind; ein Wandel, der sich hier sowohl in seinen positiven als auch negativen Folgen anschaulich verfolgen lässt.

Alle meine Geschwister haben nach den Maßstäben ihrer Zeit die Schule gut überstanden und wurden beruflich erfolgreich. Mein ältester Bruder hat die Veränderung der ländlichen Welt mitgestaltet. Wir anderen haben sie verlassen, ausgestattet mit der neuen Währung, die nicht mehr Vieh und Land, sondern Bildung hieß. Die meisten von uns haben studiert. Ich bin der Einzige, der die Universität nicht hat verlassen können. Mit meiner professionellen Kompetenz als Historiker blicke ich auf meine Geschwister und mich selbst. Ich verstehe uns als Tor zu einer Geschichte der Bundesrepublik. Ich erzähle sie aus transkribierten Interviews, die ich im Sommer 2020 geführt habe. (S. 15)

Der elterliche Hof der Fries lag zwei Kilometer vom Dorf Nottuln entfernt; dort gab es Arztpraxis, Einzelhandel, Landhandel, Freibad und Wochenendkino.

All das war beeindruckend, aber nichts davon war Alltag. Um ins Dorf zu fahren, musste es Gründe geben. Soziale Verbindungen gehörten bis in die 1960er-Jahre für Bauernfamilien wie uns eher nicht dazu. Das Dorf war ein Ort der kleinen Leute, zu denen Bauernfamilien wie wir sich nicht zählten. (S. 21)

Doch spätestens nach dem Zweiten Weltkrieg ändert sich das Dorfgefüge durch die Ankunft vieler Flüchtlinge. Besonders die protestantischen Flüchtlinge hatten es schwer. Im Kommunionunterricht wurde vor Kontakten mit evangelischen Kindern gewarnt.

Auf dem Schulhof wurde ein Seil gespannt (vielleicht auch ein Kreidestrich gezogen, die mündliche Überlieferung ist nicht eindeutig), um Kontakte mit Andersgläubigen zu unterbinden. (S. 23)

Der Dienstleistungssektor wurde – genau wie die Orientierung an der Universitätsstadt Münster – stärker. Familien zogen zu. Hallenbad, Freibad und Tennisplätze wurden gebaut. Die Landhandwerker verschwanden, die Strumpffabrik, die es seit den 1880er-Jahren gegeben hatte, brannte ab.

Auf dem Fabrikgelände entstanden eine Bushaltestelle und ein Supermarkt. (S. 24)

Die 1950er-Jahre waren eine gute Zeit für den Hof, hatte doch der Vater als passionierter Rinderzüchter besonderen Erfolg mit einer seiner Kühe, die auf der Westfalenschau 1950 in Hamm einen Preis erhielt.

Züchter waren eine Macht im Münsterland der 1950er-Jahre. Einerseits unter den Bauern. […] Die Züchter waren aber auch gesamtwirtschaftlich wichtig. (S. 35)

Hier erläutert Frie auch das fachliche Drumherum der Männerwelt der Züchtervereine mit Stallbüchern, Milchleistungsprüfung, dem monatlichen Zuchtviehmarkt, der über Gewinn und Verlust entschied (der teuerste Bulle in der ersten Klasse wurde 1961 für 25.000 Mark verkauft), und Milchkontrolleuren wie „Onkel Schürmann“.

Er durfte in unserem Fremdenzimmer an einem richtigen Schreibtisch sitzen, auf dem auch das Telefon stand, und seine Einträge machen. Wenn er spät kam, übernachtete er bei uns und bekam morgens ein anständiges Frühstück. (S. 34)

Frie befragt seine Brüder u. a. nach dem, was für sie „richtige Maloche“ gewesen sei, z. B. dem knochenharten Job des Ställe-Ausmistens und dem anschließenden Verteilen des Mists auf den Feldern.

Zwischen 1949 und 1960 verschwanden die Hälfte aller Pferde von den westfälischen Bauernhöfen. Dafür verzehnfachte sich die Zahl der Traktoren. (S. 26)

Im Wohnhaus zogen elektrische Haushaltsgeräte ein und eine Heizung wurde eingebaut, das bedeutete das Ende der Eisblumen an den Fenstern und der

feuchtkalten Betten, in die vor dem Schlafengehen sandgefüllte Schnapsflaschen gelegt wurden, die am Herdfeuer aufgewärmt worden waren. Von diesen Kälteerfahrungen erzählen nur die vier ältesten Geschwister. (S. 28)

Der Vater arbeitete hart und ausdauernd und erwartete, dass seine Söhne da ohne groß zu murren, mithalten würden. Erklärt und diskutiert wurde nicht, auch jähzornige Ausbrüche und Handgreiflichkeiten waren, z. B. in Stresssituationen während der Ernte, nicht ungewöhnlich. Die Methoden waren  für die Kinder manchmal schwer erträglich:

Er kastrierte Ferkel mit dem Taschenmesser. Überzählige Katzenjunge ertränkte er mithilfe eines steinbeschwerten Jutesacks in einem Teich. Verendende Rinder schächtete er notfalls mit dem Brotmesser, damit wenigstens das Fleisch seinen Wert nicht verlor. (S. 28)

Von ganzem Herzen war er Bauer. Sein Wissen und Handeln gingen von dort aus. Welten jenseits der Landwirtschaft konnte er bestaunen, aber nicht gut verstehen. (S. 30)

Doch die Welt der Rinderzucht änderte sich durch die Erfindung der künstlichen Besamung.

Die Idee war aus Dänemark gekommen und ursprünglich als Mittel gegen die Weiterverbreitung von Viehseuchen gedacht gewesen. Aber ihr Veränderungspotential war enorm. […] Die Züchterverbände kämpften erbittert gegen die neue Erfindung. Aber sie konnten ihre Durchsetzung nur verzögern. 1961 wurden 42 Prozent der Kühe in Deutschland künstlich besamt, bei großen regionalen Unterschieden. (S. 42)

Frie geht natürlich auch auf die Arbeitsbelastung der Kinder und Jugendlichen ein, die auf einem Bauernhof aufwuchsen. Nur Hausaufgaben galten als akzeptable Alternative zur Arbeit auf dem Hof.

Arbeit war immer. Die weit überdurchschnittliche Arbeitsbelastung von Kindern und Jugendlichen auf dem Land war in den 1950er-Jahren bekannt und wurde vom Jugendschutz vielstimmig beklagt. Für meine älteren Geschwister war sie eine natürliche Folge der Zugehörigkeit zur Familie und damit zum Hof. Nicht-arbeiten hätte bedeutet, die anderen im Stich zu lassen. Daher wichen alle der Arbeit manchmal und ein wenig aus, lehnten sie aber nicht grundsätzlich ab. (S. 46)

Die Arbeit, die man zu tun hatte, hing dabei vom Alter, der körperlichen Leistungsfähigkeit und dem Geschlecht ab.

‘Den Schlepper selbstständig zu fahren ist für Jungen, aber auch für viele Mädchen eine Selbstverständlichkeit, sobald ihre Körpergröße und Stärke das Niedertreten des Kupplungspedals ermöglicht‘, stellte der Agrarsoziologe Julius Otto Müller 1964 fest. Auf unserem Hof wurden Holzklötze und Latten als Hilfsmittel zurechtgesägt, damit auch noch Jüngere Bremse und Kupplung bedienen konnten. (S. 47)

Während die Männer für Feld, Vieh und Pferde und später für Maschinen und Traktoren verantwortlich waren, kümmerten sich die – wohlhabenderen – Bäuerinnen mit ihren Töchtern und den angestellten „Stützen“ um Haushalt, Garten, Hühner und Schweine und das Melken der Kühe. Als jedoch die Melkmaschine Einzug auf dem Hof hielt, ging diese Arbeit an die Männer über. Nur während der Erntezeit waren auch die Frauen auf dem Feld. Und die ungeliebte Hackarbeit im Rübenfeld übernahmen ebenfalls Frauen und Kinder. Ärmere Bauersfrauen erkannte man beim Kirchgang daran, dass sie von der Feldarbeit braungebrannt waren.

Frie erzählt, dass Frauen, die im Stall arbeiten mussten, vor der Installation von Wasserleitungen enorme Mengen an Wasser zu tragen hatten.

461 Liter Wasser, hat eine zeitgenössische Untersuchung festgestellt, trug eine Bauersfrau täglich vom Brunnen Richtung Stall oder Haushalt. (S. 50)

Den Frauen war es möglich, auch selbst etwas Geld zu verdienen, da noch bis in die 1950er-Jahre regelmäßig fahrende Händler vorbeikamen und den Bäuerinnen Eier und Butter abkauften.

Das Geld ging in eine Kasse, aus der die Frauen eigenständig Ausgaben für Haushalt und Kinder tätigen konnten. (S. 48)

Doch spätestens Ende der 1960er war diese Kasse verschwunden, denn die Milch wurde – vom Eigenbedarf abgesehen – irgendwann komplett an die Molkerei geliefert, weshalb die Bäuerinnen den Anschluss an die zentrale Milchsammlung vehement ablehnten. Auch die Hühnerhaltung wurde

von einem Nebenerwerb vieler Frauen zu einem Hauptgeschäft weniger Männer. Massenställe mit Käfighaltung entstanden, die nicht mehr an fahrende Händler, sondern an den stationären Großhandel lieferten. (S. 49)

Die Schwestern des Autors hatten niemals den Wunsch, Bäuerin zu werden, da sie früh erkannten, dass es weniger anstrengende Arbeiten gibt, bei denen man nicht jedes Wochenende arbeiten muss. In diesem Bestreben sind sie auch immer von ihrer Mutter unterstützt worden.

1955 wie 1968 lehnte die Hälfte der weiblichen Landjugendlichen in Deutschland die Heirat eines Bauern rundheraus ab. […] Die Zahl der Mädchen, die unbedingt einen Bauern heiraten wollten, sank deutschlandweit zwischen 1955 und 1968 von über 25 auf unter 10 Prozent. (S. 60)

Die Ehe als Liebes-, Lebens- und Wirtschaftsentscheidung (S. 96) kam damit allmählich aus der Mode.

Ein weiterer Aspekt, den Frie beleuchtet, ist das Vereinswesen. Die „einfachen“ Dörfler gingen in die neu entstehenden Sportvereine, doch die Bauernsöhne waren im Schützen- und Reiterverein oder in der katholischen Landjugend aktiv. Fußball als Vereinssport für Jugendliche war für den Vater des Autors lange verpönt und wurde seinen Söhnen zunächst nicht gestattet.

Wilhelm kann sich noch heute darüber aufregen, dass das Geld für ein [Turnier-]Pferd reichte, für Fußballschuhe jedoch nicht. (S. 76)

Gesellschaftlich wandelte sich auch der Blick auf die „richtige“ Art, seine Kinder zu erziehen. Schließlich galten Kinder

nicht mehr nur als Investition in die Zukunft, die in der Gegenwart möglichst wenig Arbeit machen sollten, sondern als Objekt ständiger Fürsorge, ja Liebe. In den späten 1950er-Jahren fanden sich im Landwirtschaftlichen Wochenblatt vereinzelt noch Ratschläge wie dieser: ‚In der Frühzeit der Entwicklung bis zum ersten Geburtstag sollte das Kleinkind so wenig beachtet werden wie eben möglich … Je länger ein Säugling in seinem Bettchen sich selbst überlassen bleibt, um so ruhiger ist er als Kleinkind.‘ In den 1960ern wurde dagegen Zuwendung empfohlen, auch wenn sie zeitintensiv war. (S. 107)

In den 1960ern änderte sich allmählich auch das Ansehen der einst so stolzen Bauern. Mit zunehmenden Hygienestandards in der übrigen Gesellschaft fiel immer stärker auf, dass Bauernkinder oft nach Tieren und Silage rochen.

Vor allem die Schwestern bemerkten, dass Gerüche [in der Schule] darüber entschieden, wer dazugehörte und wer nicht. Und es waren die Bauern, die nicht dazugehörten. (S. 109)

Sie hatten oft auch wesentlich weniger Taschengeld zur Verfügung und besonders die Mädchen fragten sich:

Kann ich mit der Kleidung, die mir zur Verfügung steht, an einem Fest teilnehmen? Oder ist es nicht besser, gleich zu Hause zu bleiben? (S. 120)

Es stellen sich nun vermehrt Fragen nach Investitionen und die Söhne haben andere Vorstellungen von der Zukunft des Hofes als der Altbauer, ein Generationenwechsel steht an.

Sehr nachdrücklich und staubtrocken komisch auch der Abschnitt, in dem Frie darüber berichtet, was sein Vater über seinen Bücherkonsum gedacht hat. Die übrigen Brüder hielten Lesen wohl eher für „keine wirklich gute Beschäftigung“. (S. 151)

Der Mutter hingegen war bewusst, dass schulische (und universitäre) Bildung der Weg sein würde, der ihren Kindern später finanzielle Selbstständigkeit ermöglicht, denn im Gegensatz zu früheren Generationen würde der Hof die Versorgung der Geschwister nicht mehr sicherstellen. Geholfen habe dabei auch das 1971 eingeführte BAföG.

Als sein Körper schon schmerzte, hat mein Vater gesagt, er wünsche seinen Kindern Berufe, die drei Bedingungen erfüllen: ‚Warm, trocken und im Sitzen.‘ Das haben wir geschafft. Selbst Hermann, der Hoferbe, arbeitete auf Traktoren mit geschlossener Fahrerkabine und gefederten Sitzen. (S. 155)

Hier die sehenswerte und sympathische Rede des Preisträgers auf YouTube.

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Booth Tarkington: The Magnificent Ambersons (1918)

Booth Tarkington (1869 – 1946) kennt hier wohl kein Mensch mehr, dabei ist er einer von nur vier Autoren und Theaterschriftstellern, denen zweimal der Pulitzer Prize for Fiction verliehen wurde und galt in den 20. und 30. Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts als einer der renommiertesten Schriftsteller Amerikas. 

Die Times nannte ihn 1922 gar einen der zwölf wichtigsten Männer Amerikas. Eine Ehrung, die er selbst ausgesprochen albern fand:

‚Yes, I got in as last on the Times list,‘ Tarkington commented. ‚What darn silliness! You can demonstrate who are the 10 fattest people in a country and who are the 27 tallest . . . but you can’t say who are the 10 greatest with any more authority than you can say who are the 13 damndest fools.` [1]

Von seinem Ruhm blieb offensichtlich nicht viel übrig und von seinem Roman The Magnificent Ambersons, der ihm 1919 den ersten Pulitzer Prize einbrachte und 1942 von Orson Welles verfilmt wurde, konnte ich nur eine lieblose Book on Demand-Ausgabe auftreiben. Auf Deutsch erschien der Roman unter dem Titel Die stolzen Ambersons (1945).

Nach den ersten Seiten war auch ich geneigt, den Autor sofort wieder in die Mottenkiste zu packen. Das wäre allerdings tatsächlich voreilig gewesen, denn trotz einiger Schwächen (wie den ersten ausgesprochen langatmigen Seiten) und einer Sentimentalität, die besonders gegen Ende an Charles Dickens erinnerte, ist diese amerikanische Version des Buddenbrook-Themas – der Verfall und Untergang einer einst tonangebenden und steinreichen Familie – spannend eingebettet in die gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Umbrüche Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts, die Tarkington schon in The Turmoil (1915) beklagte. 

Der Roman spielt überwiegend in einem der reichen Vororte von Indianapolis. Dort haben die Ambersons das Sagen. Der Großvater, Major Amberson, hat 1873 ein Vermögen gemacht, von dem noch die nächsten Generationen glauben, bequem leben zu können. Die Söhne lernen nichts Handfestes, sind in der Politik aktiv, genießen den ererbten Luxus, ihre gesellschaftliche Vormachtstellung und ihre Pferde, um die sich die schlecht bezahlten Diener, meist Farbige, kümmern dürfen. Man ist nicht willentlich oder wissentlich böse, aber von unfassbarem Snobismus. Die Tochter Isabel heiratet eher auf den „Ruf“ ihres Zukünftigen bedacht als aus Liebe, was sich selbstredend später rächen wird. 

Als Gegenmodell fungiert Eugene, ein Jugendfreund Isabels, der sich nicht zu schade ist, die Hände bei der Arbeit schmutzig zu machen und der frühzeitig das Potenzial des Automobils erkennt und zudem eine wunderschöne und gescheite Tochter hat.

George, der Sohn Isabels, wird von der ganzen Familie verwöhnt, mit Kritik nicht behelligt und hält sich dementsprechend für den Mittelpunkt des Universums. Seine Entwicklung vom Kind bis zum jungen Mann und seine späteren Liebeswirren verfolgen wir mit fasziniertem Schrecken. George ist, was immer man von diesem Arroganzbeutel halten mag, psychologisch so glaubwürdig gezeichnet, dass man in ihm auch immer das Opfer seiner Erziehung und Schicht sieht. Er sieht keine Notwendigkeit, einen Beruf zu erlernen, und findet, es reiche aus, ein Gentleman zu sein. 

Hier wird der Roman auch zu einer überzeugenden Charakterstudie eines verzogenen Upper-Class-Schnösels und seiner schwachen Mutter – ich würde den Roman gern allen Müttern in die Hand drücken, die die Liebe zu ihren Kindern mit Blindheit und Konfliktscheu verwechseln, gepaart mit der Unfähigkeit, ihren Kindern Grenzen zu setzen; hier könnten sie sich über die schauerlichen Folgen ihres Tuns bzw. Nicht-Tuns informieren. 

Der noble Vorort, in dem die Ambersons ganze Straßenzüge besitzen und sich jahrelang fast wie auf dem offenen Land fühlen, wird immer dichter bebaut, die Stadt rückt mit ihrem Schmutz und ihrem Lärm näher. Die Art, Geld zu verdienen, ändert sich. Ein großer Name aus den Zeiten des Bürgerkriegs allein beeindruckt immer weniger.

Immigranten verändern das Stadtbild und es entstehen, deutsche, jüdische, irische, italienische, ungarische, serbische und schwarze Viertel. Fabriken werden hochgezogen, Profitstreben und Kapitalismus nehmen an Fahrt auf und Armut, Schmutz und Ruß drängen immer stärker ins öffentliche Stadtbild.

But not the emigrants, themselves, were the almost dominant type on the streets downtown. That type was the emigrant‘s prosperous offspring: descendant of the emigrations of the Seventies and Eighties and Nineties, those great folk-journeyings in search not so directly of freedom and democracy as of more money for the same labour. A new Midlander – in fact, a new American – was beginning to emerge.

Erfindungen wie das Auto werden aufgrund ihrer technischen Kinderkrankheiten von den Ambersons als schmutzige, lärmige Geld- und Zeitverschwendung verspottet, die sich nicht länger als ein oder zwei Jahre halten werde. Doch nahezu lautlos verschwinden die Pferde, Ställe stehen plötzlich leer und Autos beginnen, zu einem Industriezweig zu werden, den die Ambersons zu ihrem eigenen Schaden seit Jahren ignoriert und beschimpft haben. 

Fazit: Doch gern gelesen.

‚I mean the things that we have and that we think are so solid – they‘re like smoke, and time is like the sky that the smoke disappears into. You know how wreath of smoke goes up from a chimney, and seems all thick and black and busy against the sky, as if it were going to do such important things and last forever, and you see it getting thinner and thinner – and then, in such a little while, it isn‘t there at all; nothing is left but the sky, and the sky keeps on being just the same forever‘.  

[1]  Robert Gottlieb: The Rise and Fall of Booth Tarkington, in: The New Yorker, November 4, 2019

Jóse Sánchez de Murillo: Luise Rinser – ein Leben in Widersprüchen (2011)

Jóse Sánchez de Murillo (*1943) lernte 1995 die Schriftstellerin Luise Rinser kennen und blieb mit ihr bis zu ihrem Tod eng befreundet. 2011 erschien unter Mitarbeit von Rinsers Sohn Christoph seine Biografie Luise Rinser – Ein Leben in Widersprüchen. 

Nun soll es hier keinen Abriss des ganzen Rinser’schen Lebens gehen, zumal der Ruhm der weitgereisten und bis ins hohe Alter aktiven Autorin (1911 – 2002), ihre moralische Anerkennung als Feministin und streitbare Katholikin und ihre beeindruckenden Verkaufszahlen (ca. 5 Millionen verkaufte Bücher in über 20 Sprachen) inzwischen doch eher der Vergangenheit angehören.

Nur auf drei Aspekte möchte ich eingehen.

Murillo arbeitet die von der Autorin selbst konsequent verleugnete Nazi-Vergangenheit der Schriftstellerin heraus. Sie hat als junge Frau Lobgedichte auf Hitler im waschechten Blut-und-Boden-Stil geschrieben, ihren jüdischen Schulleiter wegen angeblicher Unfähigkeit denunziert und war als Nazi-Ausbilderin für Lehrerinnen tätig.

So schreibt sie als Junglehrerin im Januar 1934 über den Tagesablauf in einem von ihr organisierten Ausbildungslager für Lehrerinnen u. a.:

8.25: Morgenfeier. Wir stehen im tief verwehten Garten um den Flaggenmast. Nach einigen Tagen haben wir schon gelernt, mit fröhlichen Gesichtern im Schneegestöber zu stehen und dem steifen Nordost eines unserer kräftigen H.J.-Lieder entgegenzuwerfen, während die rotweiße Flagge steigt. Dann sagt jemand einen Spruch vom Führer, von Fichte, Königin Luise, und ein Gedicht von Schirach, Anmacker oder Eckart. – Ja, das muß ein deutsches Mädel auch können: Kälte, Nässe, Schnee und Wind vergessen in Zucht und Begeisterung, und ohne sich gleich Schnupfen und Halsweh zu holen. (S. 110)

18.30: Einüben von Sprechchören oder politische Schulung. Wir lesen, sitzend vor einem großen Bild des Führers, aus D. Dietrich ‚Mit Hitler in die Macht‘, und sprechen anschließend daran über politische Begriffe. (S. 111)

Auch den Auftrag, ein Drehbuch für einen Propagandafilm über das Bild der deutschen Frau im Arbeitsdienst zu schreiben, nimmt sie an. Ihr späterer Gefängnisaufenthalt in Traunstein war keineswegs eine Folge bewussten Widerstands, sondern Strafe wegen angeblicher „Wehrkraftzersetzung“. Sie hatte einer verzweifelten Frau geraten, dass deren Mann – als der Krieg schon längst verloren war –  aus der Armee desertieren solle. Statt diesem menschlichen Rat zu folgen, zeigt das Ehepaar Luise Rinser an. Spätestens in Traunstein seien Rinser, so Murillo, dann aber die Augen über das wahre Wesen des Nationalsozialismus aufgegangen.

Später, im Nachkriegsdeutschland, spricht sie vor ehemaligen Nazi-Funktionären und setzt sich vehement für eine Erneuerung des Denkens aus. Ihre eigene Rolle verschweigt sie. Im Gegenteil, in ihren autobiografischen Texten stilisiert sie sich immer stärker als Nazi-Gegnerin im aktiven Widerstand. Als Jahrzehnte später erste Informationen an die Öffentlichkeit dringen, dass ihre eigene Weste so rein nicht gewesen sei, tobt sie und tut das als böse Gerüchteküche, gar als Sauerei ab. Auch ihrem Freund Murillo gegenüber schweigt sie sich über ihre wahre Rolle zwischen 1933 bis 1945 aus. Die ZEIT zitiert Murillo mit den Worten:

Faktisch gesehen hat sie gelogen – uns alle angelogen …

Da erschien mir – gerade im Hinblick auf ihren moralischen Impetus nach dem Zweiten Weltkrieg – die Ehrlichkeit redlicher und vor allem glaubwürdiger, mit der Eva Sternheim-Peters sich selbst in Habe ich denn allein gejubelt auf ihre Nazi-Begeisterung hin befragt hat.

Im Gefängnistagebuch schreibt Rinser:

Manchmal stehe ich mir hier selbst gegenüber, wie nie zuvor. Ich sehe mich mit meinen niederen Instinkten, mit den falschen, verlogenen Ansichten von Ehre, Moral, Standesbewußtsein und all diesen schönen, angelernten, konventionellen Ideen. Zum Schluß bleibt nichts von einem, als ein Tier, das fressen und schlafen will, sich vor Schlägen fürchtet und in die Freiheit ausbrechen will. Draußen tarnen wir das bloß mit vielen Worten. (S. 224)

Auch nach dem Krieg ist ihre politische Rolle – gelinde gesagt – widersprüchlich. Sie setzt sich für Frauenrechte ein, ist SPD-nahe, verehrt Willy Brand, solidarisiert sich mit der Friedensbewegung und wird 1984 sogar von den Grünen als (aussichtslose) Kandidatin für das Amt des Bundespräsidenten vorgeschlagen.

Gleichzeitig ist sie hin und weg von dem nordkoreanischen Diktator Kim Il-sung, dessen Interpretation des Sozialismus sie als Vorbild für den Westen preist. Auch der um ihn veranstaltete Personenkult sei eher für seine Anhänger wichtig. Kim Il-sung selbst in seiner warmherzig väterlichen und uneitlen Art benötige derlei gar nicht. Wie das mit der von Murillo erwähnten Rolle Rinsers als angebliche Intellektuelle zusammenpasst, erschließt sich mir nicht unbedingt.

Der dritte Aspekt, dem sich Murillo ausführlich widmet, ist Rinsers Beziehung zu künstlerisch tätigen Männern, zu denen sie auf der einen Seite immer ein enges Verhältnis sucht, denen sie aber gleichzeitig vorwirft, sie in ihrer Arbeit als Schriftstellerin zu behindern. 1942 schreibt sie:

Es ist schwer, zugleich Frau und ein schaffender Mensch zu sein. Die Spannungen, die für die Arbeit nötig sind, stören das schöne Gleichgewicht, das der Mann von der Frau erwartet. Wer eben brennend an einer Erzählung arbeitet, kann nicht sanft und anschmiegsam sein. Ach, die Männer sind oft so sonderbar: sie leiden es nicht gern (sofern sie echte Männer sind), daß eine Frau ihnen irgendwie den Rang abläuft, auch wenn die Frau gar nicht daran denkt, dies zu tun. Sie arbeitet (= schreibt) mit eben der Selbstverständlichkeit, mit der sie liebt, Kinder zur Welt bringt, und kocht und den Garten bestellt. (S. 177)

Sie führt intensive Brieffreundschaften mit Ernst Jünger, der auf ihre Annäherungsversuche allerdings nicht eingeht, und mit Hermann Hesse, dem ihr Erstlingswerk Die gläsernen Ringe (1941) ausnehmend gut gefällt:

Ich bin durch Ihre Geschichte wie durch einen Garten gegangen, jedem Bilde dankbar, mit jedem einverstanden, und es wird nicht lange dauern, bis ich es zum zweiten mal lese. (S. 166)

Sie war dreimal verheiratet und hatte zwei Söhne, Christoph und Stephan. Stephan (1941 – 1994), dem sie nie gesagt hat, wer sein tatsächlicher Vater war, wurde von ihr als kleines Kind häufig in ein Kinderheim abgeschoben. Er starb sehr früh, vermutlich auch an den Folgen seines Alkoholkonsums. Gleichwohl hat sie an seinem Grab dann darüber schwadroniert, dass ein Schmetterling auf seinem Grabstein ein Zeichen sei, dass nun alles gut und vergeben sei.

Auch das seltsame Konstrukt, einen Benediktinerabt und dann etwas später Karl Rahner verliebt zu machen und sie sich beide aufgrund des Zölibats doch immer auf Abstand halten zu können, wird ausführlich beleuchtet. Die letzte wesentliche Beziehung zu einem Mann ist dann die Freundschaft mit ihrem späteren Biografen Murillo.

Es gefiel mir, dass Murillo aus vielen, vielen Briefen zitiert. Dennoch liest sich die Biografie mit ihren über 460 Seiten streckenweise dröge, oft Entschuldigungen suchend und gar zu respektvoll. Der Autor unterstellt Rinser in ihren Werken oft eine hohe philosophische Erkenntnistiefe, während viele Kritiker sie in die vielleicht ebenso einseitige Schublade der einfachen „Erbauungsschriftstellerin“ steckten.

Nick Hornby: Stuff I‘ve been reading (2013)

Nick Hornby (*1957) ist nicht nur ein erfolgreicher Romanautor, Drehbuchschreiber, Vater eines autistischen Sohnes, musikbegeisterter Fußballfan (Arsenal London), sondern auch ein bücherverschlingender Leser. Das Fazit seiner Lektüren hält er in launigen Kolumnen fest, die dann natürlich wieder als Bücher veröffentlicht werden.

Ich mag seinen frischen, frechen Stil, der so unprätentiös und auf den Punkt daherkommt. Er begründet seine Ansichten und spricht aus, was ich mich manchmal nur zu denken traue. Und trotz Fußballignoranz, anderem Musikgeschmack und null Interesse meinerseits an der Geschichte des Fernsehens gibt es doch kein Nick-Hornby-Buch übers Lesen, das mir nicht mindestens fünf neue Titel auf die Wunschliste setzt. Anbei also einige Fundstücke aus seinem Buch Stuff I‘ve been reading (2013), in dem Kolumnen von August 2006 bis Dezember 2011 versammelt sind.

Zu Thomas Hardy

One thing I knew for sure before I started Claire Tomalin‘s biography of Thomas Hardy: I wouldn‘t  be going back to the work. Hardy‘s prose is best consumed when you‘re young, and your endless craving for misery is left unsatisfied by a diet of The Smiths and incessant parental misunderstanding. (S. 29)

Zu The Road von Cormac McCarthy – fairerweise sollte ich hier vielleicht hinzufügen, dass Hornby noch einiges mehr über diesen Roman schreibt, den er „brilliant“ findet, aber das würde hier den Rahmen sprengen…

As you probably know by now – and more than eight million of you voted for it in the Believer Book Award – The Road may well be the most miserable book ever written, and God knows there‘s some competition out there. As you probably know by now, it‘s about the end of the world. Two survivors of the apocalypse, a man and his young son, wander through the scarred grey landscape foraging for food,  and trying to avoid the feral gangs who would rather kill them and eat them than share their sandwiches with them. The man spends much of the book wondering whether he should shoot his son with their last remaining bullet, just to spare him any further pain. […] Sometimes you feel like begging the man to use his last bullet on you, rather than the boy. The boy is a fictional creation, after all, but you‘re not. You‘re really suffering. (S. 62)

Zum Vater von Charles Dickens

Pretty much all you have to do as a dad is earn some money, stay out of prison and make sure your kids go to school; John Dickens struck out on all three requirements, and is therefore directly responsible for some of the greatest fiction in the English language. (S. 244)

Zu manchen KritikerInnen

‘What we need,‘ one of those scary critics who write for the serious magazines said recently, ‘is more straight talking about bad books.‘ Well, of course we do. It‘s hard to think of anything we need more, in fact. Because then, surely, people, would stop reading bad books, and writers would stop writing them, and the only books that anyone read or wrote would be the ones that the scary critics in the serious magazines liked, and the world would be a happier place, unless you happen to enjoy reading the books that the scary critics don‘t like – in which case the world would be an unhappier place for you. Tough. (S. 21)

Tim Slessor: First Overland – Als Erste im Land Rover 18.000 Meilen von London nach Singapur (OA 1957)

Mitte der fünfziger Jahre: Fünf junge Männer, die entweder gerade in den letzten Semestern ihres Studiums in Cambridge bzw. Oxford stecken oder kürzlich ihr Studium beendet haben, sowie der Sekretär des Automobilclubs der Universität brüten einen leicht wahnsinnigen Traum aus. Obwohl sie weder über Geld, Ausrüstung noch geeignete Fahrzeuge verfügen, finden sie es eine super Idee, es als erste motorisierte Expedition über Land von London bis nach Singapur zu schaffen und nebenher noch ein paar Untersuchungen zu ihren jeweiligen Fachgebieten durchzuführen. Monatelang bereiten sie sich akribisch vor, wobei jeder der Teilnehmer für einen Bereich besonders zuständig ist, sei es die geschäftliche Seite, die Organisation von Visa und Dokumenten, die Vorratshaltung oder eben die Wartung der Fahrzeuge. 

800 Kilometer nordöstlich von Kalkutta, jenseits der Teegärten von Assam, erheben sich die verschlungenen Bergrücken des Patkai- und des Naga-Gebirges. Diese von Urwäldern überzogenen Ausläufer des Himalaya bilden eine der großen natürlichen Grenzen unserer Erde. Es gibt bis heute keine befestigte Straße, die hinüberführt. Lediglich während der Kriegszeit, im Jahr 1944, hatte man zwei Trassen durch den Urwald geschlagen, bis nach Burma, und für einen kurzen Zeitraum offen gehalten. Doch nach der Niederschlagung der Japaner waren diese strategischen Versorgungslinien überflüssig geworden. Im Laufe unserer Erkundigungen erfuhren wir, dass seit dem Ende des Krieges keine der beiden Straßen mehr in Benutzung gewesen war. Wahrscheinlich waren sie völlig zugewuchert und unpassierbar geworden, nachdem die einst planierten Straßendecken zehn Jahre lang den heftigsten Monsunregen der Welt ausgesetzt waren. Wollte man aber von Kalkutta aus auf dem Landweg weiterkommen, gab es keine andere Möglichkeit – was ein Problem war, aber zugleich auch der Grund dafür, weshalb wir Singapur als Ziel gewählt hatten. (S. 18)

Sie beschwatzen die BBC, ihnen Geld für eine Filmkamera zu geben, überzeugen Rover, ihnen zwei fabrikneue und für sie modifizierte Land Rover zur Verfügung zu stellen, und gewinnen alle möglichen und unmöglichen Firmen als Sponsoren und Ausrüster für ihre geplante Tour.  

Im September 1955 geht es schließlich los.

Eines der Ergebnisse dieser Expedition ist der launige, spannende und manchmal haarsträubende Reisebericht von Tim Slessor, der im Deutschen unter dem Titel First Overland – Als Erste im Land Rover 18.000 Meilen von London nach Singapur 2023 im Malik Verlag erschienen ist. Die Originalausgabe erschien 1957.

Die 343 Seiten sind randvoll mit Anekdoten, Landschaftsschilderungen, politischen und geschichtlichen Informationen – besonders die aberwitzigen Ausläufer des Zweiten Weltkriegs haben mich ins Nachdenken gebracht -, und mit Hinweisen auf das erst kürzlich untergegangene britische Empire. Die jungen Männer werden aufgrund ihrer Nationalität überall wie Ehrengäste bewirtet und in Indien beispielsweise von einem anglo-indischen Gastgeber oder Plantagenbesitzer an den nächsten weitergereicht. Auch den Autor selbst ficht die koloniale und ausbeuterische Vergangenheit seines Landes nicht an:

Was auch immer die Briten in Indien versäumt haben zu tun – wobei unsere Errungenschaften unendlich viel größer waren, als einige unserer Kritiker die Welt glauben lassen wollen -, wir haben drei Dinge hinterlassen, die die Menschen dort ohne uns niemals gehabt hätten. Das erste davon ist eine gemeinsame Sprache – Englisch -, die in einem Land mit so vielen unterschiedlichen Dialekten und Idiomen nach wie vor die einzige Sprache ist, die überall verstanden wird, und daher die einzige Möglichkeit darstellt, das Land zu regieren. Zweitens: Wo vorher ein uneiniger Haufen kleiner Staaten war, ließen wir eine geeinte Nation zurück. […] Und drittens hinterließen wir dem Land eine Hauptstadt, die seiner gewaltigen Größe würdig ist. (S. 181)

Sie besuchen Tee-Plantagen, verteidigen ihre Vorräte gegen gewitzte Dorfkinder, ruinieren mit ihren schweren Fahrzeugen eine Brücke, haben Unfälle und fahren lebensgefährliche Haarnadelkurvenstrecken, gehen in Lashio, einer Stadt im heutigen Myanmar, ins Kino und feuern mit den Einheimischen die Helden aus Im Schatten der Krone an und spielen ein bisschen Schatzsucher in den Rubinminen des Landes – die gefährlichen Arbeitsbedingungen werden dabei geflissentlich ignoriert – und durchqueren Rebellengebiete auf der geschichtlich bedeutsamen Stilwell Road.

Zwei Tage später erreichten wir Ledo. Das war das äußerste Ende der Assam Trunk Road, und von hier aus hatte General Stilwell seine Versorgungstrasse Richtung Süden nach Burma gebaut. Das Dorf war einst ein Kommandoposten für die Alliierten gewesen und hatte Tausende schlammgrüner Armeelaster in Richtung Japan aufbrechen sehen, neben voll beladenen Transportflugzeugen, die langsam ihre Kreise zogen, um an Höhe zu gewinnen und die Luftbrücke nach China zu bilden. […] Einst hatten wir Nachrichten gehört, in denen dieser Teil der Welt von großer Bedeutung war. Das war zwölf Jahre her. Heute findet man Ledo nur noch auf den genaueren Landkarten. Es ist in Vergessenheit geraten. (S. 238)

Hin und wieder werden die jungen Männer von ihren diversen Interviewpartnern der einheimischen Presse in die politischen Auseinandersetzungen der jeweiligen Länder hineingezogen. So sollen sie mal eben die Gemeinsamkeiten zwischen Großbritannien und Thailand erörtern und in Indien erhofft man sich von ihnen gehässige Kommentare über Pakistan. Verhalten und leise klingen auch Zweifel an der westlichen Fortschrittsgläubigkeit an – oder ist es nur die europäische Hoffnung auf ein paar pittoreske Fleckchen, die man im Urlaub besuchen kann?

In Kathmandu findet man nicht das Elend und die große Armut, die sonst überall in Indien herrschen. Die Gebäude wirken malerisch, das Wetter ist perfekt; die Menschen sind bunt und fröhlich und überschlagen sich beinahe vor Freundlichkeit. […] Es gibt keine Industrie, keine Eile, keine Neonreklame, keine Kinos. Zeit ist hier nicht besonders wichtig, und obwohl Nepal eines der rückständigsten Länder Asiens ist, möchte man am liebsten hoffen, dass das so bleibt. Doch schon jetzt kommen fast mit jedem Flugzeug wohlmeinende Berater mit Plänen für den wirtschaftlichen Fortschritt Nepals an. Man muss anerkennen, dass es gewichtige Gründe für derartige Pläne gibt, fragt sich aber trotzdem, ob diese unbekümmerten Menschen nicht unermesslich viel mehr verlieren, als sie gewinnen würden, wenn sie plötzlich mit Riesenschritten auf dieser Keiner-weiß-genau-Was zusteuern, das der Westen so liebevoll Fortschritt nennt? (S. 194)

Der Nachteil bei sechs Protagonisten ist, dass einem die jungen Männer nicht wirklich vertraut werden, dazu ist das Buch dann doch zu kurz und der Schwerpunkt des Erzählers liegt einfach eher auf der Strecke an sich und den zu bewältigenden Herausforderungen, Gefahren und Begegnungen.

Nicht immer geht es um das Reisen und Entdecken an sich. Manchmal ist es auch ein Abhaken wichtiger Termine, um die Geldgeber und Sponsoren zufriedenzustellen, sodass sie nicht alles, was sie gern gesehen hätten, sehen und nicht allen Einladungen folgen können, die ihnen gastfreundlich ausgesprochen werden.

Ich finde dieses unbekümmerte Aufbrechen in etwas gänzlich Ungewisses faszinierend und habe diese Reiseerinnerungen mit einigen Abstrichen gern gelesen, auch wenn sie hin und wieder etwas hektisch und oberflächlich daherkamen und in ihrem eher hemdsärmeligen Stil dem hinreißenden Das Morgenland ist weit von Oss Kröher nicht das Wasser reichen können.

Manchmal aber sollte man nicht allzu gründlich hinschauen, bevor man einen Sprung wagt, sondern lieber etwas zuversichtlich sein und dann gleichzeitig hinschauen und losspringen. (S. 19)

Helga Schubert: Vom Aufstehen – Ein Leben in Geschichten (2021)

Allein schon die wenigen Zeilen aus den ersten Seiten von Vom Aufstehen – Ein Leben in Geschichten -, die zeigen, wie klein, wie unscheinbar, aber doch überlebenswichtig unsere Kraftquellen sein können, und die mich darüber hinaus an meinen Opa erinnerten, haben mich für das Buch gewonnen:

Mein idealer Ort ist eine Erinnerung: An das Aufwachen nach dem Mittagsschlaf im Garten meiner Großmutter und ihres Freundes […] in der Greifswalder Obstbausiedlung am ersten Tag der Sommerferien. Immer am ersten Tag der langen wunderbaren Sommerferien. Neben mich auf einen extra dorthin geschleppten Holztisch hatte dann ihr alter Freund […] ein großes Stück warmen Streuselkuchen auf einen Porzellanteller gelegt, den er zu meiner Begrüßung gebacken hatte. (S. 7)

Und an den übrigen Ferientagen:

Nach dem Essen wusch sie alles gleich ab, ich dagegen musste nicht abtrocknen, sondern durfte mich in die Hängematte legen und lesen, bis ich einschlief und wieder aufwachte: Am gedeckten Kaffeetisch. Bis zum Ende des Sommers. So konnte ich alle Kälte überleben. Jeden Tag. Bis heute. (S. 10)

Mit den hier versammelten 29 „Geschichten“ verdichtet die 1940 geborene Autorin und Psychotherapeutin Helga Schubert wesentliche Stationen ihres Lebens auf den Kern hin. Sodass das Geschriebene durchlässig wird, das Menschliche sichtbar wird, das für uns alle gilt.

Ich bin sicher, das ist ein Buch, das ich immer mal wieder durchstöbern werde, manches geht mir näher als anderes, manches bleibt mir auch fern. Aber so viele Sätze, so viele Stellen, die ich markiert habe, die ich abschreiben und zitieren möchte. Schade nur, dass es keine Geschichte aus ihrer Tätigkeit als Psychotherapeutin gibt.

In einem Erzählstrang beschäftigt sich die Erzählerin mit der – freundlich ausgedrückt – problematischen Beziehung zu ihrer Mutter und den lebenslangen Verletzungen, die aus dem Verhalten der Mutter resultieren. An anderer Stelle reflektiert Schubert ihr Schreiben, die Bedeutung von Geschichten und erinnert sich an das Grausame, das Menschen tun, an Verbrechen.

Weitere Stellen drehen sich um den Winter, die Natur, ihre familiäre Herkunft, Heimat, den zu pflegenden Mann oder das Problem, als Studentin in der DDR an Bücher von Uwe Johnson zu kommen. Genauso geht es aber auch um das ihr gewährte Privileg der Reisefreiheit, das sie nicht nur im Westen verdächtig machte, sondern auch den Mitbürgern gegenüber, die nicht reisen durften. 

Andere mussten beim Fluchtversuch sterben oder nach ihrem Ausreiseantrag Demütigungen hinnehmen, wir Schriftsteller durften uns Gründe für unsere Anträge auf ein Dienstvisum mit Rückkehrerlaubnis am selben Abend ausdenken. (S. 28)

Dann das schreckliche Fernweh und das Lebensgefühl, sich im Osten immer schon eingemauert gefühlt zu haben, sich von der Stasi bespitzelt zu wissen und im Kopf völlig absurde Konstellationen verarbeiten zu müssen:

Ohne Aussicht auf Änderung: 1980: Ziehen Sie Ihren Antrag auf Ausreise zurück: Sie werden der Einladung zum Ingeborg-Bachmann-Preis in Klagenfurt nicht folgen, wollen Sie etwa Reich-Ranicki vortanzen? […] ‚Durch den Ingeborg-Bachmann-Wettbewerb soll das derzeitig von feindlichen Kräften betriebene Weiterbestehen einer einheitlichen deutschsprachigen Literatur weiter hochgespielt werden.‘ Ich zog den Antrag nicht zurück – sie mussten es mir verbieten.

1983: Wenn Sie den Fallada-Preis annehmen, und dann noch ein Jahr nach Erich Loest, für Ihr Buch, das nur im Westen gedruckt wird, verschaffen Sie diesem Buch Aufmerksamkeit und schaden damit dem Ansehen der Kulturpolitik der DDR in den Augen fortschrittlicher Intellektueller im Westen, die dann schlussfolgern könnten, bei uns gebe es eine Zensur, denn warum durfte das Buch nicht in der DDR erscheinen, darum müssen Sie ihn ablehnen …(S. 28-29)

Die Verzweiflung 1987 nach einer Amerika-Reise, als sie sich eingesteht, sich nicht länger mit dem Leben in einem so eng begrenzten Raum zufriedengeben zu wollen.

Ich habe weder die Reife noch die Bescheidenheit, dachte ich, um die Schöpfung nur in diesem engen Umkreis zu bewundern, ich will mir mein Maß nicht vorschreiben und meine Sehnsucht nicht nehmen lassen. (S. 41)

Ein bedeutsamer Baustein für die Biografie der Autorin ist der Fall der Mauer, ein Prozess, den die Erzählerin als protestantische Zeitzeugin bewegt und aufmerksam verfolgt, wobei sie sich fragt, ob sie überhaupt literarisch vom 9. November 1989, als sie schon fast fünfzig Jahre alt war, erzählen könne. Wünschenswert wäre:

Mit Selbstironie, aus verschiedenen Blickwinkeln, mit einem ersten Satz, der die Pointe unmerklich vorbereitet, denn sie muss überraschend kommen, den Leser verblüffen, heimlich sentimental machen, aber in seine Gegenwart entlassen. Nichts Eindeutiges, Belehrendes, Aufklärerisches. Vor allem ohne Pathos. (S. 25)

Mit der letzten Geschichte, die dem Buch seinen Namen gab, gewann die 1940 geborene Autorin und Psychotherapeutin 2020 den Ingeborg-Bachmann-Preis.

Was hier ist, ist überall, was nicht hier ist, ist nirgends, soll Buddha gelehrt haben. Dieser Satz macht auch beim Schreiben Hoffnung, denn wenn er stimmt, ist nichts unwichtig, wenn ich es nur genau genug betrachte. (S. 129)

Schubert spannt den Bogen von der Kindheit bis ins hohe Alter, und da würde ich am liebsten ganze Seiten zitieren. 

Habe ich die Vorhänge nicht eben zugezogen, frage  ich mich, wenn ich sie aufziehe. Und erst das Frühstück. Hab ich es nicht eben abgeräumt – und nun kommt schon die Tagesschau. Sich der Zeit demütig ergeben, las ich kürzlich. Das ist das Gute, das Sanfte, das Glückbringende am Alter: Ich muss gar nichts. Mir kann niemand etwas befehlen. Wenn ich sage, ich bin achtzig, dann habe ich sofort mildernde Umstände bei der Hotline der Nordwestmecklen-burgischen Sparkasse, nachdem mein Online-Zugang zum Push-TAN-Verfahren gesperrt wurde. (S. 166)

Ich komme beim Älterwerden auch langsam aus der Zukunft an, ich nehme Abschied von den Aussichtstürmen, die ich nie besteigen, den warmen Meeren, in denen ich nie baden werde, den Opernhäusern, den Museen in fernen Hauptstädten, der Transsibirischen Eisenbahn, in der ich nicht schlafen werde. Denn ich habe mir in meinem langen Leben alles einverleibt, was ich wollte an Liebe, Wärme, Bildern, Erinnerungen, Fantasien, Sonaten. Es ist alles in diesem Moment in mir. Und wenn ich ganz alt bin, vielleicht gelähmt und vielleicht blind, und vielleicht sehr hilfsbedürftig, dann wird das alles auch noch in mir sein. Das ist nämlich mein Schatz. Mein unveräußerlicher. Ich habe wie jeder Mensch meinen Schatz in mir vergraben. (S. 170)

Ein weises, freundliches, manchmal ironisches Buch, das ich eigentlich gleich wieder von vorn beginnen möchte. 

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Fundstück von Raymond Chandler über Bücher

Guter Gott, was soll ich bloß mit all den Büchern anfangen, die einmal ein großes Haus überschwemmt haben? Ich glaube, mit Besitz muß man erbarmungslos umgehen.

Aus einem Brief Raymond Chandlers an Helga Greene vom 19. Juni 1956, zitiert nach: Frank MacShane: Raymond Chandler – Eine Biografie, Diogenes, Zürich 1984, S. 394, übersetzt von Christa Hotz, Alfred Probst und Wulf Teichmann

In der Übersetzung von Hans Wollschläger klingt das folgendermaßen:

Lieber Gott, was auf Erden soll ich mit den Büchern machen, die schon ein großes Haus völlig überflutet haben? Man wird wohl gegenüber seinen Besitztümern eine gewisse Rigorosität lernen müssen.

Zitiert nach: Frank McShane (Hrsg.): Raymond Chandler: Briefe 1937 – 1959, btb 1990, S. 566

Hier die Originalstelle:

And the books! Dear God, what on earth shall I do with books that overflowed a large house? I guess you have to be ruthless about possessions.

Zitiert nach: Frank McShane: Selected Letters of Raymond Chandler, Columbia University Press, New York 1981, S. 402

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Fundstücke von Fumio Sasaki zu einem minimalistischen Lebensstil

Am leichtesten fällt einem das Wegwerfen, wenn man es sich bewusst angewöhnt. […] Ichiro Suzuki […] erklärte einmal, unglaubliche Taten ließen sich einzig durch das Anhäufen winziger Erfolge vollbringen. (S. 71)

Versuchen Sie, von allen Gegenständen letztlich nur noch ein Exemplar zu besitzen. (S. 72)

Wer sich an Erinnerungsstücke klammert, hängt einem vergangenen Bild seiner selbst nach. Wenn Sie also nur das geringste Interesse haben, sich zu verändern und zu wachsen, dann raffen Sie sich auf und lassen Sie los. Behalten Sie nur Dinge, die Sie brauchen, um sich in Zukunft weiterzuentwickeln. (S. 84)

Marie Kondo [… ] Wenn man einen Gegenstand berühre, müsse man einen ‚Funken von Freude‘ spüren, ansonsten könne man ihn entsorgen. Diese einfache Methode kann sehr nützlich sein. (S. 89)

Was wäre für Sie wirklich wichtig, wenn Sie bei Null anfingen, wenn Einbrecher Ihre Wohnung völlig leergeräumt hätten? […] Setzen Sie gedanklich alles auf Anfang, dann zeigt sich schon, welche Dinge wirklich unverzichtbar sind. (S. 106)

Indem ich meinen Besitz reduzierte, minimierte ich auch den Ärger, den meine Angehörigen nach meinem Ableben haben werden. […] irgendwie finde ich diesen Gedanken befreiend. (S. 128)

Nur Dankbarkeit ermöglicht es, aus dem Teufelskreis von Erregung [über eine Neuanschaffung] – Vertrautheit – Langeweile auszubrechen. … Dankbarkeit erlaubt uns, unseren Alltag mit frischen Augen zu betrachten. (S. 231)

Minimalismus hat mir die Konzentration geschenkt, mein inneres Ich wieder zu beleben. (S. 195)

Das Ziel eines Minimalisten besteht nicht in der Reduktion selbst. Ein Minimalist versucht, Ablenkungen zu beseitigen, um sich besser auf die wirklich wichtigen Dinge konzentrieren zu können. […] Sobald Sie dann angefangen haben auszumisten, wird es Zeit, die Dinge herauszufinden, die  wirklich zählen. Minimalismus ist wie der Prolog eines Buches. Den Rest des Textes können nur Sie selbst schreiben. (S. 135)

aus: Fumio Sasaki: Das kann doch weg! Das befreiende Gefühl, mit weniger zu leben, INTEGRAL, München 2018 (japanische OA 2015); aus dem Amerikanischen übersetzt von Martin Bauer

Fundstück von Jack Sheffield

At the end of school I was in my classroom, marking problem solving of a different type. The top maths group had to work out how long it took for a snail that travelled only two centimetres every ten minutes to get to the top of a sunflower that was two metres tall. Whilst I was pleased that most of the children had got it right, I was more pleased that they had asked why the snail wanted to get there in the first place. I had just finished putting red ticks on the last exercise book, which included a lovely drawing by Jennifer Jayne Tait of an exhausted snail, when I heard the first verse of ‚Climb Every Mountain‘ echoing down the corridor.

aus: Jack Sheffield: Teacher, Teacher! – The Alternative School Logbook, 1977-1978, Corgi Books, 2004, S. 42

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David M. Wallace: The Little Brudders of Miséricorde (2022)

Was schreibt man zu dem wahnsinnig guten Romandebüt The Little Brudders of Miséricorde des Kanadiers David M. Wallace, wenn man ihm viele Leser*innen wünscht, aber gleichzeitig nur wenig zum Plot sagen will, weil man unbedingt selbst die Geschichte von Lyle Spencer nachlesen und mitverfolgen muss? Vielleicht dies: Es ist ein Buch, dessen Titel alles Notwendige über uns sagt – und in dem sicherlich viel von der Biografie des Autors steckt.

There are times when we drift peacefully through life, Spence thought, and times when the daily dread of life‘s hardships makes each moment feel unbearable. And there are times when lightning strikes. A single spark sets your world ablaze and the flames consume everything in their path. (S. 124)

Lyle Spencer, von allen nur Spence genannt, 62 und ehemaliger Schauspiellehrer, ist vor kurzem von Vancouver nach Montréal gezogen. Doch der Neuanfang dort fällt ihm schwer. Einmal die Woche gießt er die Pflanzen in der Wohnung seiner Tochter, die gerade mit ihrem Verlobten in Paris weilt. Seine Fortschritte im täglichen Französischkurs sind überschaubar und da die anderen Kursteilnehmer wesentlich jünger sind als er, findet er dort keinen Anschluss. Er geht hin und wieder zur Messe und bemüht sich, mit der französischen Ausgabe des Kleinen Prinzen seine Sprachkenntnisse zu verbessern. 

Perhaps we never understand other people, at all. We simply inspect the emblems of their lives – their clothes, the books on their shelves and the pictures on their walls. We drop clues for one another and pray we will be understood. Some days, even language seems like some elaborate deception. (S. 186)

Als er eines Tages lautstark eine Maus, die sich bei ihm in der Wohnung häuslich niedergelassen hat, beschuldigt, die Josephsfigur aus seiner Weihnachtskrippe gestohlen zu haben, zetert die zurück, dass ein bisschen Rücksichtnahme ja doch nett wäre, er habe sie aufgeweckt.

His name is Thierry. After my initial shock, I feel surprisingly calm. Almost relieved. […] I understand that no one is going to believe me. I know that. But perfectly sane people believe crazier things than this. Moses talked to a burning bush, after all. (S. 34)

Der zweite Erzählstrang nimmt uns mit in Spences Vergangenheit; seine Lebensgeschichte fügt sich allmählich wie ein Puzzle zusammen, und irgendwann erkennen wir den Kern und Urgrund seiner Isolation. Seine Kindheit, seine katastrophale Ehe, seine Arbeit als Lehrer, bei der er zwar versucht hat, seinen Schülerinnen und Schülern einen sicheren Raum zu bieten, in dem sie sich entfalten und Verletzungen heilen konnten. Doch spätestens nach dem Suizid einer Schülerin weiß er, dass ihm das nicht bei allen gelungen ist. 

Spence had known Sam for five years. […] Since he had been Samantha. He had watched the boy slowly and confidently transform himself from Samantha into Sam until, now, he could not remember ever thinking of him as a girl. […] Many of the teenagers in the room had some similar story of transformation. Big or small. Not from the very beginning – and not all at once – Spence‘s studio had begun to gather in the misfits. The broken kids. The boys without fathers. The girls with stories they had been forbidden to tell. […] Spence smiled at Melody […] Last year she had written and performed a powerful monologue about dealing with her mental illness. Her honesty disabused the notion that self-harm was some new fad. No one mocked Amy‘s stutter here. Or told Craig to remove his mascara and eyeliner. (S. 27-28)

Manche dieser Rückblicke wirken streckenweise wie protokolliert und emotional eingefroren, während die Kapitel in der Gegenwart, in der ihm Thierry ein guter, wenn zunächst auch rüpelhafter, Haschisch rauchender, fluchender und kleinkrimineller Macho-Hausgenosse ist, viel unmittelbarer und farbiger erscheinen.

Thierry is on the kitchen counter having a bath. His first, as far as I am aware. He is reclining in a wide mouth coffee cup. The sort you might use for a latte. The soapy water splashes over the lip of the cup and into the saucer as I add a little more hot water from the kettle. ‚Take it easy, brudder! I jes wanna bath not a scuba lesson.‘ I hand him a Q-Tip and he uses it to scratch his back. (S. 174)

Dabei geht es weder um Klamauk, Unterhaltung oder Eskapismus, auch wenn ich bei der ein oder anderen Szene überlege, mit wem man das Buch am besten verfilmen sollte.

He [Thierry] points to the illustration [bei der man den kleinen Prinzen auf seinem Asteroiden sieht]. ‚C‘est impossible. I like de lil guy an‘ all. But dat planet-‘

‚Asteroid.‘

‚-dat asteroid no bigger den dis appartement. Dat not really believable, man. You sure dis book is famous?‘ […]

‚I agree. It‘s not a very plausible premise.‘ I put the book aside and go to the kitchen. Thierry is still on my shoulder. ‚Maintenant, mon petit bonhomme, what shall we have for dinner?‘ (S. 113)

Die Existenz Thierrys wird nicht hinterfragt, er ist irgendwann da, die beiden arrangieren sich. Thierry verbessert Spences Französisch und berichtet ihm, was sonst so im Haus passiert und was der üble Vermieter Nick auf dem Kerbholz hat, während Spence dafür sorgt, dass Thierry die Toilette benutzt und schließlich sogar Lesen lernt.

Alles andere muss die Leserin, der Leser selbst entdecken. Am Ende fügt sich in diesem feinen und leisen Roman alles stimmig ineinander und man verabschiedet sich schließlich nur ungern von Spence und Thierry mit seinem losen Mundwerk. Zu beanstanden wäre nur, dass der Erzähler Spence auf seinem Weg gar zu viele Katastrophen aufgebürdet hat. Da hätte es auch weniger getan. 

I suppose we all keep much of who we truly are hidden from ourselves. We bury gifts that we secretly fear are unworthy of being offered. Efface transgressions that we cannot confess; attenuate our own suffering.  Perhaps Thierry is right, though, when he observed we are all thieves. In every transgression there is a kind of theft. Truth goes missing. Trust disappears. Innocence is lost. (S. 111)

Fundstück von Paula Fox

Ich schreibe immer neu, um die Zusammenhänge meines Lebens zu entdecken, wie es mit anderen verbunden ist. […] Und so sind die Unbescheidenheit, der Anspruch eines Romanautors ungeheuerlich; läge nicht dahinter das überwältigende Wissen, wie wenig man weiß; wie pausenlos man mit dem Stoff des eigenen Lebens und gegen die Beschränktheit des eigenen Erfahrungshorizontes zu kämpfen hat.

aus: Paula Fox‘ Dankesrede für die Newbery Medal 1974, zitiert nach:

Bernadette Conrad: Die vielen Leben der Paula Fox,  C.H. Beck Verlag, München, 2011, S. 316 f

Fundstück von Joseph Roth

Jetzt sitze ich gegenüber dem leeren Platz und höre die Stunden rinnen. Man verliert eine Heimat nach der anderen, sage ich mir. Hier sitze ich am Wanderstab. Die Füße sind wund, das Herz ist müde, die Augen sind trocken. Das Elend hockt sich neben mich, wird immer sanfter und größer, der Schmerz bleibt stehen, wird gewaltig und gütig, der Schrecken schmettert heran und kann nicht mehr schrecken. Und dies ist eben das Trostlose.

aus: Das neue Tage-Buch, 25.6.1938 

zitiert nach: Hauke Goos: Schöner Schreiben – 50 Glanzlichter der deutschen Sprache von Adorno bis Vaterunser, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2021, S. 112

Christopher Fowler: Full Dark House (2003)

Nachdem schon The Book of Forgotten Authors von Christopher Fowler (1953 – 2023) eine so vergnügliche Lektüre war, war ich gespannt auf Fowlers preisgekrönte Kriminalromane um die beiden Londoner Sonderermittler Arthur Bryant und John May. Der erste Band Full Dark House erschien 2003, der letzte Band London Bridge is falling down kam 2021 heraus.

Full Dark House beginnt mit einem Paukenschlag.

It was really a hell of a blast. The explosion occurred at daybreak on the second Tuesday morning of September, its shock waves rippling through the beer-stained streets of Mornington Crescent. It dentonated car alarms, hurled house bricks across the street, blew a chimney stack forty feet into the sky, ruptured the eardrums of several tramps, denuded over two dozen pigeons, catapulted a surprised ginger tom through the window of a kebab shop and fired several roofing tiles into the forehead of the Pope, who was featuring on a poster for condoms opposite the tube station. (S. 11)

Die Explosion hat die Diensträume der Peculiar Crime Unit – spezialisiert auf äußerst merkwürdige Verbrechen, die die reguläre Polizei nicht mal mit der Feuerzange anpacken würde – pulverisiert, das Tragische dabei ist, dass Arthur Bryant, mit über 80 der dienstälteste Ermittler der Unit, sich noch im Gebäude befunden hatte, und so findet einige Tage später seine Beerdigung statt. Sein überlebender Partner John May, drei Jahre jünger als grumpy Arthur, sieht nur eine Möglichkeit, mit der Trauer um seinen Kollegen weiterleben zu können. Er muss herausfinden, wer seinen übellaunigen, für allerlei Esoterisches offenen und stets frierenden Partner umgebracht hat.

Es verdichten sich die Hinweise, dass die Spuren bis zurück in den Zweiten Weltkrieg führen. Während des Blitz, als London 1940 und 1941 von der deutschen Luftwaffe bombardiert wurde, lösen der 19-jährige John und der 22-jährige Arthur ihren ersten gemeinsamen Fall. Eine Reihe seltsamer Todesfälle gefährdet die unfassbar teure Aufführung der Oper Orpheus in the Underworld im Palace Theatre, die die Moral der kriegszermürbten Londoner heben soll.

Und so wechselt die Geschichte zwischen dem immer neue Haken schlagenden Fall, der inzwischen doch schon 60 Jahre zurückliegt, und der Gegenwart, in der John den Mord an seinem Freund und Kollegen klären muss.

Sind Zeitsprünge oft nicht mehr als ein nervtötendes Mittel, mit dem künstlich Spannung erzeugt werden soll, war das hier nicht der Fall: In beiden Zeitebenen verfolgt man die Geschehnisse quasi mit angehaltenem Atem. Unbedingt will ich wissen, wie es weitergeht, und zwar egal, in welchem Jahr der Handlung man sich gerade befindet.

Das Zweite, was diesen Krimi auszeichnet, ist die gelungene Einbettung in die zwei Zeitebenen. Hier hat ein Autor gründlich zum Blitz, zum London der Kriegsjahre und zum Theater recherchiert und die Informationen organisch in die Handlung verwoben. Die Lektüre macht neugierig und man wird vermutlich das ein oder andere noch mal nachlesen, beispielsweise zum Palace Theatre, bei dem ich am liebsten sofort eine Führung hinter den Kulissen buchen würde.

Der zweite Band der Reihe The Water Room greift ebenfalls Londoner Stadtgeschichte auf, indem die inzwischen leider nicht mehr zugänglichen bzw. übertunnelten und zubetonierten Flüsse Londons eine wesentliche Rolle spielen.

Die beiden Detektive, die die Handlung tragen, sind eigenständig genug gezeichnet, um an ihnen auch als Personen Anteil zu nehmen. Und wo bitte hat man schon mal gehört, dass die Protagonisten des ersten Bands einer Krimireihe um die 80 Jahre alt sind? Dadurch können sowohl die Transformationsprozesse, die London durchgemacht hat, als auch die Probleme der zwei Männer beim Älterwerden mit in den Blick genommen werden.

Fazit: Die ersten beiden Bände um die beiden alten Herren, die sich gerne kabbeln und selten einer Meinung sind, sehr, sehr gern gelesen.

Der dritte Band Seventy-Seven Clocks war dann allerdings eine herbe Enttäuschung, da tummelten sich viel zu viele Personen, Klischees und lieblos zusammengestümperte Charakterzeichnungen. Das Buch war stellenweise nicht nur unglaublich brutal, sondern ärgerte mich zusätzlich durch dermaßen an den Haaren herbeigezogene Verrenkungen in der Handlung, sodass ich mir den vierten Band erst einmal verkneife.

Fowler, der am 2. März 2023 starb, hat übrigens auch einen Blog betrieben. Hier die Sätze seines allerletzten Eintrags vom 18. Januar 2023:

It’s very hard to write now without falling asleep or forgetting what I was going to say. If there’s something I really need to get out I’ll put it on Twitter. So you might want to check your old  @peculiar feed once in a while. All fun things have to come to an end. I love you all. Except for that horrible old troll – are there any other kind?

There, now you have a smidgen of extra time on your hands, go have fun.

…and read a book.

Andreas Fischer: Die Königin von Troisdorf (2021)

Der Filmemacher Andreas Fischer (*1961) geht in seinem ersten Roman Die Königin von Troisdorf – Wie der Endsieg ausblieb den Themen nach, die ihn auch schon in mehreren seiner Filmprojekte beschäftigt haben: Wie sind wir zu denen geworden, die wir heute sind? Wie sah eine Kindheit in den sechziger und siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts aus? Welche eigenen Traumata und Verkrüppelungen haben Eltern und Großeltern an die Kinder bzw. Enkel weitergegeben, die während der Wirtschaftswunderzeit aufgewachsen sind?

Das mag zunächst vielleicht nicht nach spannender Literatur klingen, doch ich habe dieses autobiografisch grundierte Buch regelrecht inhaliert. Es ist irritierend, dass Fischer keinen Verlag für dieses unfassbar gute Buch gefunden und es deshalb schließlich selbst verlegt hat.

Fischer schreibt nicht chronologisch, sondern reiht kurze Szenen in überraschenden Zeitsprüngen aneinander, die – wie in einem ungeordneten Kasten voller Fotos – ein Schlaglicht auf eine bestimmte Situation werfen. Und diese Form samt der unsentimentalen Sprache, die Fischer für seinen Inhalt gewählt hat, sorgen dafür, dass sich das Buch weit über das Niveau bloßer Erinnerungsbücher erhebt. Zeigt doch dieses Mosaik, dass immer alles in uns zeitgleich gegenwärtig ist, die kleinen, die großen, die hässlichen und die schönen Momente.

1969. Troisdorf. Ich bin 8 Jahre alt. 3. Schuljahr.

Viele andere Kinder haben Geschwister, Einzelkinder wie ich sind eher selten. Mich beginnt die Frage zu beschäftigen, warum ich keine Geschwister habe. Ich weiß nicht, ob ich es mir schön vorstellen soll. Müsste ich meine Spielsachen teilen? Stünde noch ein Bett für einen Bruder oder eine Schwester in meinem Zimmer? Hätte ich dann noch Platz, um mit meinen Matchboxautos auf dem Boden Zusammenstoß spielen zu können? An einem Abend frage ich meine Mutter, warum ich keine Geschwister habe. ‚Einer von deiner Sorte hat uns gereicht‘, sagt Mutter. (S. 37)

Der collagenartige Aufbau passt natürlich zu seinem familiären Hintergrund. Seine Eltern betrieben ein gut gehendes Fotogeschäft in Troisdorf. Sie arbeiteten so hart, dass der einzige Sohn da eher ein Störfaktor war und tagsüber viel Zeit bei seiner Tante Hilde und seinem Onkel verbringen musste. Die Großmutter mütterlicherseits, Oma Lena, lebte ebenfalls mit im elterlichen Haus und war, man kann es nicht anders sagen, von ausgesuchter Bösartigkeit. Die freundlichen Worte gegenüber ihrem Enkel dürften sich an einer Hand abzählen lassen.

Der Hass meiner Oma auf mich durchzieht das ganze Haus vom Keller bis zum Dach wie ein bestialischer Gestank, dessen Quelle nicht zu orten ist. Ich bin zu klein, um Überlegungen anzustellen, wo die Ursache liegen könnte. Der Gestank ist völlig normal, ganz selbstverständlich gehört er zu meiner Welt wie das Geschäft meiner Eltern, das weiße Schulgebäude und Vaters Schnapsflasche im Kühlschrank. (S. 117)

Sie hat vermutlich den Tod ihres einzigen und überaus braven Sohnes Günther nie verwunden, der sehr jung und voller Begeisterung für Hitler in den Krieg gezogen war. So schreibt der 19-jährige Günther an seine Eltern im Januar 1940 aus Königsberg, nachdem er und seine Kameraden bei 28 Grad unter Null bereits die ersten Erfrierungen davongetragen hatten:

Ich bin riesig stolz, in dieser großen Zeit Soldat sein zu dürfen. Keine Härte, keine Kälte, darf größer werden als mein Stolz. Nie werde ich klagen. (S. 99)

Also kein Zufall, wenn sich der Ich-Erzähler erinnert, wie seine Oma Lena über ihn irgendwann zu seiner Mutter gesagt hat:

‘Bei Günther hat die Saat meiner Erziehung gefruchtet. Bei dem Bengel ist alles hoffnungslos.‘ (S. 109)

Die Fischers im Troisdorf der sechziger und siebziger Jahre sind eine Familie, wie es damals unzählige gegeben haben muss, nach außen hin wird eine biedere, spießige Wohlanständigkeit mit üppiger Schrankwand, finanziellem Erfolg, Arbeitsethos und neuem Auto präsentiert; die Frauen der Familie streng katholisch.

Was jedoch nicht außen dringen durfte: Bei dieser Form des Katholizismus ging es nie um spirituelle Fragen. Der Sohn wurde auch mal zum Gottesdienst geprügelt, Hauptsache, die Fassade, die man den Nachbarn gegenüber zeigte, stimmte.

Ich habe zu gehorchen, nur ein gehorsames Kind ist ein gutes Kind. Ich habe nichts zu wollen und schon überhaupt nicht etwas nicht zu wollen. Ein Infragestellen der Befehlsgewalt bedeutet für Hindenburg und Ludendorff Hochverrat, eine Gefährdung der Herrschaftsstruktur an und für sich … (S.246)

Dann der Rassismus: Man freute sich zwar über die Gastarbeiter, die gute Kunden im Fotogeschäft der Eltern waren, doch privat sah man auf sie herab. Nie hätten Mutter und Oma Lena später mal einen Gyros aus dem neu eröffneten griechischen Restaurant probiert.

Die abendliche Sauferei des Vaters, der den Untergang des Nazi-Reiches nie verwunden hat. Das Ableugnen der deutschen Verbrechen.

Das absolute Desinteresse an dem, was ihren Sohn interessiert, oder an dem, was er kann. Jahrzehnte später ist der Vater fassungslos, als er Andreas am Telefon Englisch sprechen hört. Er hat nicht einmal gewusst, dass Englisch einer der Leistungskurse seines Sohnes gewesen war. Doch genauso gibt es die Erinnerung an den Moment, als der Vater mit dem Dreizehnjährigen, der sich sehnlichst ein Jugendlexikon gewünscht hatte, in die große Buchhandlung geht und dort das Jugendlexikon nur grob als Schund abtut und ihm stattdessen die zwanzigbändige Ausgabe der Brockhaus Enzyklopädie zeigt.

Eine Woche später liefert uns der Inhaber der Buchhandlung persönlich die zwanzig Bände der Enzyklopädie ins Haus.

Vater hatte recht. Der Brockhaus wird mich die Schulzeit und das Studium hindurch begleiten, mir bei unzähligen Hausaufgaben und Referaten hilfreich sein. Ich habe den Brockhaus heute noch, im Zeitalter von Wikipedia und Google, ich bin zwölfmal mit ihm umgezogen, die blauen Schutzumschläge habe ich nie entfernt, alle Bände befinden sich noch in ihren Pappschubern, das sieht nicht so gut aus, aber so wertvoll sind sie mir. (S. 317)

Nie fuhr die Familie gemeinsam in Urlaub. Und nur in anderen Familien sieht der Junge, wie Familienleben auch gelebt hätte werden können. Und nur bei seiner Tante Hilde findet Andreas Anerkennung und Wärme.

1971. Ich bin 10 Jahre alt. 5. Schuljahr.

Am nächsten Tag gehe ich in das Juweliergeschäft und kaufe die Seepferdchenbrosche. Tante Hilde freut sich sehr. ‚Wie komme ich denn dazu?‘, fragt sie […] ‚Einfach so‘, sage ich. Tante Hilde gibt mir einen Kuss auf die Backe. Dann geht sie zur Garderobe, sie holt ihren feinen Pelzmantel und befestigt die Seepferdchenbrosche am Kragen. Während der nächsten vierzig Jahre trägt sie die Brosche, bis ich das Seepferdchen vorsichtig vom Kragen ihres letzten, dunklen Wintermantels ablöse und einstecke, bevor ich den Mantel in den großen Pappkarton packe, der für die Kleiderkammer der Caritas bestimmt ist. (S. 177/178)

Durch die mosaikartige Anlage des Buches bleibt man als Leserin die fast 500 Seiten anteilnehmend dabei, erkennt mit Schrecken Dinge aus der eigenen Familiengeschichte wieder und möchte wissen, wie und ob es Andreas gelingt, sich ohne gar zu schlimme Blessuren aus dieser ungesunden Familie zu befreien. Man freut sich bei den seltenen Momenten mit, wenn Andreas etwas Schönes mit seinem Vater unternehmen kann oder ausnahmsweise von ihm den Rücken gestärkt bekommt und wenn man spürt, dass hier einer mit wachem Blick beobachtet, sich die Werte der Familie nicht einfach zu eigen macht, sich eben nicht wie Onkel Günther in blindem Gehorsam anpasst, sondern trotz aller Verletzlichkeit rebelliert und kleine und irgendwann größere Fluchten wagt.

Gleichzeitig nimmt Fischer einen weiten Blick ein. Dadurch dass er den entscheidenden Momenten auch im Leben seiner Eltern und Großeltern nachgeht, z. B. aus alten Familienbriefen zitiert, begreifen die Leser*innen, wie beispielsweise enttäuschte Hoffnungen auf nationalsozialistische „Größe“ gekoppelt mit privater Trauer die vorangegangenen Generationen seelisch verkrüppelt haben. All die nie aufgearbeiteten Erfahrungen und verdrängte Schuld haben seine Großmutter und seine Eltern zu den oftmals unerträglichen Menschen gemacht, die selbst keine Verbindung mehr zu ihren eigenen Gefühlen hatten und wohl meist nicht anders konnten, als dem Sohn und Enkel mit Enttäuschung, Lieblosigkeit, Härte und Unverständnis zu begegnen.

Daneben ist dem Autor aber auch eine kleine Sittengeschichte der Sechzigerjahre gelungen. Es geht um Cola und Gyros, um Jeans und die Frage nach der Haarlänge bei den Jungen oder die zwiespältige Haltung zu Wehrdienstverweigerern. Genauso lesen wir aber auch von der noch nicht hinterfragten Rolle der katholischen Kirche, latentem Rassismus, dem Einzug moderner Luxusgüter in die bundesdeutschen Haushalte und den technischen Neuerungen wie dem Kassettenrekorder, mit dem man die Lieblingstitel aus dem Radio mitschnitt.

Hier ein kurzes Interview mit dem Autor.

Sebastian Schoepp schreibt im Dezember 2022 in der Süddeutschen Zeitung:

Andreas ist der mangelhafte Ersatz [für den gefallenen Günther], wie diese ganze verhasste Bundesrepublik, mit der man sich hatte zufriedengeben müssen, nachdem der Endsieg ausgeblieben und die kleinbürgerlich-spießigen Träume davon ausgeträumt waren, was alles aus einem hätte werden können in diesem Reich bis hinter dem Ural. Gesprochen wird darüber natürlich nicht. Die Verluste, die uneingestandene, verdrängte, in Arbeitswut erstickte Schuld schweben nur ständig über allem. In dieser Familie geschehen keine Brutalitäten, kein sexueller Missbrauch, keine Gewalt, es ist nur eine alltägliche Kette von Mikrograusamkeiten, wie eine Tropfenfolter. […] Jeder, der so was auch nur im Ansatz selbst erlebt hat, wird von Fischers so nüchterner wie wirkungsvoller Prosa tief in der Seele angefasst.

Fundstücke von Roger Willemsen

‚Verlust der Kindheit‘? Die Kindheit geht ja nicht verloren, jedenfalls nie ganz, sie zieht sich nur zurück und macht Platz. […] Aber für den inneren Menschen nimmt sie keinen untergeordneten Rang ein. Sie bricht sich Bahn, sie kehrt zurück, in neuen Mischungsverhältnissen. Es kann sein, dass nur der Humor das Exil des inneren Kindes bleibt oder das Begehren oder die Habsucht, die Tierliebe oder die Melancholie. Nichts ist je ganz vorbei, auch nicht die Kindheit. (S. 15)

Anders gefragt: Wann wurde man nicht, was man hätte sein können? (S. 25)

Warum sollte nicht fehlen können, was man nie besaß? Wahrscheinlich ist selbst anderen Gefühlskomplexen – der Liebe, der Begierde, der Enttäuschung – manchmal etwas wie Heimweh beigemengt. (S. 27)

Aus: Roger Willemsen: Der Knacks, Fischer Verlag, Frankfurt 2008

Christopher Fowler: The Book of Forgotten Authors (2017)

Auf Christopher Fowlers Buch bin ich, so ich mich richtig erinnere, zuerst bei Magda aufmerksam geworden. Und wow, dieser Spaziergang mit dem britischen Schriftsteller zu seinen literarischen Wiederentdeckungen macht einfach unglaublichen Spaß. Fowler (1953 – 2023) stöbert, recherchiert und parliert auf seiner Suche nach halb und ganz vergessenen (meist englischsprachigen) Schriftstellerinnen und Schriftstellern, dass es nur so eine Lust ist und ich ausnahmsweise bei all den begeisterten Rezensionsschnipseln auf den ersten Seiten immer nur zustimmend nicken kann.

We tend to think that books, like cockroaches, will survive the Four Horsemen of the Apocalypse, but they won‘t. They disappear, not just in the ravages of war like the Great Library of Alexandria, but through simple neglect, and it is our duty to keep fine novels alive. (S. 182)

Fowler präsentiert uns weit mehr als die auf der Rückseite angekündigten 99 „forgotten authors“. Seine Themenpalette ist ein fröhlicher und komplett subjektiver Mischmasch, gespeist aus – auch etwas abseitigeren – Wiederentdeckungen und seiner Lust des Suchens und Sammelns. Da geht es nicht nur um Bücher, die später u. a. von Disney verfilmt wurden, um vergessene Krimi-SchriftstellerInnen, Horror, zu Unrecht geschmähte Bestseller-Autorinnen, Gruselgeschichten, Klassiker, Booker-PreisträgerInnen, Kinderliteratur und schräge Anekdoten, sondern auch um Comics, Pulp Fiction, Detektivgeschichten, die unbekannten Werke Charles Dickens‘, ein bisschen Weltliteratur, Margaret Millar, William Melvin Kelley oder um die Frage „Where are all the BAME Writers?“.

[Georgette Heyer‘s] narratives were peppered with wicked dukes, hearty knights, feisty ladies and headstrong rakes whose amorous escapades unfurled against colourful historical backdrops. Along the way horses rear, eyes flash, bosoms heave and ladies of quality exhibit a tendency to faint. Her pages are packed with arranged marriages, desperate elopements and abductions, crimes of passion and descriptions of the prevailing fashions. No wonder, then that critics were sceptical […] The gap between popularity and peer respect was created largely by Heyer‘s worldwide readers, who lapped up the romances while failing to notice their favourite author‘s meticulous attention to period detail. (S. 155)

Was für mich dieses Buch von allen anderen mir bekannten „Leseverführern“ unterscheidet, ist dieser selbstironische Ton, diese Belesenheit und die Fähigkeit, auch kritisch auf Punkt und Pointe genau zu formulieren.

It‘s a crime to be talented and die young; the beautiful, glamorous mystery writer Pamela Branch succumbed at forty-seven after years of suffering cancer, and her work was quickly forgotten. She was born on her parents‘  tea estate in Ceylon, went to RADA, married, learned Urdu, trekked the Himalayas, trained racehorses and moved to a twelfth-century Greek monastery. As one does.

Back in post-war London she lived a chaotic existence in tiny, dark flats with a slobbery boxer dog and a husband, Newton, who failed to find his footing as a writer and became an alcoholic film censor. Yet their existence was devil-may-care and full of laughter, which explains the tone of her bizarre, deliciously funny novels. (S. 49)

Bei Fowler gibt es nichts von dieser selbstverliebten Überheblichkeit, mit der andere ihre Bücherlieblinge gleich als „Kanon“ deklarieren. Er stellt nicht sich selbst in den Mittelpunkt, sondern die Literatur, die er mag, und das auf eine sympathische Art und Weise, dass ich mich zwischendurch immer wieder streng zur Zurückhaltung ermahnen muss, denn ihm würde ich nahezu unbesehen auch die Bücher abkaufen, deren Inhalt mich eigentlich überhaupt nicht interessiert. 

Sadly, we live in a time where there is no patience for barmy British sleuths who uncover insanely complex murders, and Dickson Carr wasn‘t remotely interested in offering his readers realism or relevance. (S. 69)

Natürlich hat Fowler auch einen Blick fürs unerwartete, aber anschauliche Detail und den Aha-Effekt, wenn er uns beispielsweise erzählt, dass Peter Fleming, der Bruder des James Bond-Erfinders Ian Fleming, beschloss, Abenteurer zu werden.

… not a career category open to many […] In 1932 Fleming replied to an advertisement in the personal columns of the The Times that read: ‚Room Two More Guns – Exploring and sporting expedition under experienced guidance, leaving England June to explore rivers central Brazil, if possible ascertain fate Colonel Percy Fawcett.‘ […] The resulting travelogue, Brazilian Adventure became regarded as a classic, […]  (S. 120)

Und am Ende – und ich habe zum Glück noch einige Kapitel vor mir – weiß die geneigte Leserschaft wieder ein bisschen mehr, wie viel Spaß Literatur bedeuten kann und wie wenig wir eigentlich von diesem Paralleluniversum kennen. Und um wie viele Bücher meine Wunschliste jetzt wieder angewachsen ist, behalte ich mal lieber für mich …

When I was a child, my father guiltily read Sven Hassel‘s paperbacks, keeping them in his bedside table where the children wouldn‘t find them. Some hope. He thought I wouldn‘t find the key to the cocktail cabinet either. (S. 148)

Hier der Link zu seiner Artikelserie Invisible Ink im Independent.

Fundstücke über das Fernsehen

Ich habe mir jetzt Ihren Auftritt bei ‚Talk um Zehn‘ angeschaut […] Haben Sie denn gar keinen Respekt vor Ihrer eigenen Dummheit? Was hatten Sie in dieser Talkshow verloren? Hatten Sie ein Buch vorzustellen? Oder eine CD? Eine Talkshow ist billige Sendezeit und kein Forum der Vernunft!

aus: Stefan Schwarz: Da stimmt was nicht, Rowohlt, Berlin 2021, S. 228

Television is really what we‘ve been looking for all our lives. You don‘t have to concentrate. You don‘t have to react. You don‘t have to remember. You don‘t miss your brain because you don‘t need it. Your heart and liver and lungs continue to function normally. Apart from all that, all is peace and quiet. You are in the poor man‘s nirvana.

Raymond Chandler in einem Brief an Charles Morton vom 22. November 1950, zitiert nach: Tom Hiney: Raymond Chandler – A Biography, Grove Press 1997, S. 191

Agatha Christie: The Mysterious Affair at Styles (1920)

The Mysterious Affair at Styles, der erste Krimi um den belgischen Privatdetektiv Hercule Poirot setzte die unglaubliche Karriere von Agatha Christie (1890 – 1976) in Gang. Geschrieben 1916, aber erst 1920 als Fortsetzungsgeschichte veröffentlicht, war der Krimi das erste Buch von Christi, das von einem Verlag angenommen wurde, alle früheren Publikationsversuche waren gescheitert.

Zu ihrem ersten Giftmord inspiriert haben Christie sowohl die belgischen Flüchtlinge in Torquay als auch ihre Arbeit als ausgebildete Apothekenhelferin während des ersten Weltkrieges.

So wird der Held bei seinem ersten Auftreten beschrieben:

He was hardly more than five feet four inches but carried himself with great dignity. His head was exactly the shape of an egg, and he always perched it a little on one side. His moustache was very stiff and military. Even if everything on his face was covered, the tips of moustache and the pink-tipped nose would be visible. The neatness of his attire was almost incredible; I believe a speck of dust would have caused him more pain than a bullet wound. Yet this quaint dandified little man who, I was sorry to see, now limped badly, had been in his time one of the most celebrated members of the Belgian police. (S. 23)

Auf dem Landsitz Styles, auf dem der zur Selbstüberschätzung neigende Captain Arthur Hastings, der uns die Geschichte erzählt, gerade zu Gast weilt, wird die vermögende Familienpatriarchin tot aufgefunden. Ein Arzt, der schon früh morgens ganz überraschend in der Nähe weilt, vermutet, dass die alte Dame vergiftet worden sei. Zum Glück kann Hastings seinen alten Freund Poirot, der zufällig in just diesem Dorf als belgischer Flüchtling – der Roman spielt während des Ersten Weltkrieges – untergebracht ist, dazu überreden, sich des Falls anzunehmen.

Christie hatte einfach eine Begabung, ihre Leser*innen sofort in das Geschehen hineinzuziehen; und auch wenn einige Figuren schon sehr holzschnittartig, manchmal auch mit leicht rassistischen Untertönen geschildert werden, bin ich der Handlung lange Zeit halbwegs vergnügt gefolgt. Die Auflösung am Ende wirkte auf mich allerdings wie eine sehr lange und sehr langweilige Vorlesung, die Poirot vortragen muss, da nicht alle Handlungsfäden organisch angelegt wurden.

Dem kleinen belgischen Detektiv kann ich immer noch nicht besonders viel abgewinnen. Das Gute daran: Ich muss jetzt nicht alle weiteren Poirot-Bände – insgesamt 33 an der Zahl – lesen, denn ich bin und bleibe Anhänger der Miss Marple-Fraktion.

Auch Agatha Christie hat im Laufe der Jahrzehnte nicht nur sehr bereut, ihn nicht von Vornherein als jüngeren Mann angelegt zu haben, sie hätte ihn auch gern selbst gemeuchelt, beugte sich jedoch dem Geschmack ihrer Leser*innen.

Mehr Spaß als an Poirot hatte ich an den Seitenhieben auf den Ich-Erzähler Hastings.

[Poirot sagt] ‚… But we must be more intelligent. We must be so intelligent that he [the murderer] does not suspect us of being intelligent at all.‘ I acquiesced. ‚There, mon ami, you will be of great assistance to me.‘ I was pleased with the compliment. There had been times when I hardly thought that Poirot appreciated me at my true worth. (S. 142)

Zum Weiterstöbern: Das Kapitel in Christies Autobiografie über die Entstehung von The Mysterious Affair at Styles liest sich sehr fluffig.

Kulturbowle hat, was ich sehr reizvoll fand, diesen ersten Band um Poirot gelesen und im Anschluss daran den letzten Band, in dem Poirot ermittelt.

Fundstück von Martin Boyd

Whether she was in a state of elation or of gloom from their last encounter, her heart began to beat when she knew that she was to see him again, and she always counted on the next meeting as one that would fix their relationship. Austin had no idea of the effect he was having on her, that his most casual words or absent-minded glances were flinging her from heaven to hell and back again. He was much too occupied with his own affairs and he simply thought of her as a slightly comic moody character. So the situation remained always the same, and she might have spared herself her passionate broodings. She was the only actor in the drama which was played nowhere but in her own agonised heart.

aus: Martin Boyd: The Cardboard Crown, Text Publishing Melbourne, 1952, S. 34-35

Bernadette Conrad: Die vielen Leben der Paula Fox (2011)

Mir geht es wie Magda, die in ihrem letzten Newsletter schrieb:

Mich fasziniert die Frage, wie Leser*innen ihre Lektüren auswählen, wie sie auf bestimmte Bücher kommen, welche manchmal sehr einleuchtenden, manchmal aber auch total überraschenden Assoziationsketten sie von Autor A zu Autorin B und von einem kanonisierten Kultklassiker zu obskuren, längst vergessenen literarischen Schätzen bringen…

Ausnahmsweise kann ich diesmal meine Assoziationskette ganz genau auffädeln:

Ich sah eine der Folgen des Literaturclubs mit Usama Al Shahmani, also las ich In der Fremde sprechen die Bäume arabisch. Das war so toll, also musste ein weiteres Buch des Autors her: Die Fremde – ein seltsamer Lehrmeister. Dieser Band entstand in Zusammenarbeit mit Bernadette Conrad, deren Anteil am Buch ich vernachlässigt habe, ging es mir doch vorrangig um Al Shahmani.

Dennoch nahm ich ich dabei natürlich zur Kenntnis, dass Conrad eine Biografie zu der amerikanischen Schriftstellerin Paula Fox (1923 – 2017) geschrieben hat, von der ich vor Jahrzehnten zwei Bücher gelesen hatte. Also gut, dann les ich eben diese Biografie und damit wären wir bei Die vielen Leben der Paula Fox (2011) von Bernadette Conrad.

Judith Hermann spricht im Klappentext davon, dass Conrad das Leben der amerikanischen Schriftstellerin mit „großer Zärtlichkeit und Intuition“ erzähle. Mir war die Biografie, bei der uns Conrad auch nicht vorenthält, wo sie während der Recherche wohnt, wo sie sich verlaufen und was sie wo gegesessen hat, allerdings ein wenig zu gefühlig.

Ich hatte sie mir strenger vorgestellt, reservierter – und schaue nun in ein Gesicht, das – auch ernst – von innen beleuchtet scheint. (S. 14)

Conrad reist den einzelnen Lebensstationen und Wohnorten der Paula Fox mit der Andacht einer Pilgerin nach, das ist für einen Fan der Schriftstellerin, wie es Conrad ist, sicherlich reizvoll, der Erkenntnisgewinn für mich als Leserin war dabei manchmal begrenzt. Auch findet sich in dem ganzen Buch kein einziger kritischer Satz, auch nicht von Freunden oder Familienmitgliedern. Doch ein Ansporn, endlich mal wieder die Bücher von Fox aus dem Regal zu nehmen, ist die Biografie allemal.

Paula Fox (1923 – 2017) gilt vielen als eine writer‘s writer, also als eine Schriftstellerin, die von Schriftsteller*innen geschätzt und gelesen wird, aber in der allgemeinen Wahrnehmung immer wieder unter den Radar fällt und nie auf irgendwelchen Bestsellerlisten zu finden sein wird. Dabei war sie auch eine sehr erfolgreiche und preisgekrönte Autorin von 23 Kinder- und Jugendbüchern. Ihre erste erfolgreiche Zeit war Anfang der Siebziger.

Bernadette Conrad trifft die von ihr verehrte Autorin das erste Mal persönlich im Jahre 2005 in deren Haus in Brooklyn, New York, um ein Zeitungsporträt über sie zu schreiben. Dabei entsteht irgendwann die Idee zu einem Buch und über mehrere Jahre besucht Conrad die alte Dame und ihren Ehemann Martin Greenberg in New York.

Conrads Ausgangsfrage für ihre Spurensuche lautet:

Und wie konnte es überhaupt sein, dass ein Mensch, der so früh von seinen Wurzeln abgeschnitten, ‚herausgeschnitten‘, wird aus dem, was der Zusammenhang seines Lebens hätte werden können – dass so ein Mensch schreibend, erzählend auf außergewöhnliche Weise verbindenden und zusammenhangstiftend werden konnte? (S. 12)

Nun werde ich hier die Lebensstationen von Paula Fox nicht im Detail nacherzählen, doch welche Eindrücke bleiben nach der Lektüre? Ein interessanter, nicht ungefährdeter Lebensweg, ein Aufstieg vom vernachlässigten Mädchen, mit häufigen Orts- und Wohnungswechseln und vielen verschiedenen Jobs, u. a. als Model, Lehrerin oder Journalistin, zur anerkannten Autorin.

Irgendwann ein inneres und äußeres Ankommen, das erste Buch entstand in ihren Vierzigern, später die Reise nach Jerusalem im Jahr 1996, auf der sie von einem Räuber niedergeschlagen wird, Hirnblutung, sie fällt ins Koma. Als sie langsam wieder gesundet, weiß sie, dass sie nie wieder so wird schreiben können wie zuvor. Sie hat ihre Fähigkeit, Geschichten zu erfinden, durch die Gehirnverletztung unwiderbringlich verloren. Danach entstehen ihre autobiografischen Werke.

Wer bisher dachte, er habe eine suboptimale Beziehung zur eigenen Mutter, wird das nach dieser Biografie vermutlich relativieren. Eine solche Bösartigkeit wie bei der Mutter von Paula Fox ist mir auch in der Literatur nur selten untergekommen. Die jungen Eltern der kleinen Paula geben ihr Kind wenige Tage nach der Geburt ins Findelheim. Paula wird von einem netten, liebevollen Pfarrer in Pflege genommen, bei dem sie bis zu ihrem 6. Lebensjahr sehr glücklich ist. Das Drama ist allerdings, dass ihre leibliche Familie sie aus dieser Pflege wieder herausholt und sich dann doch nicht um sie kümmert, sie zeitweise verwahrlosen lässt oder in der Obhut von Dienstboten „vergisst“. Dabei wird dem Kind gerade von Seiten der Mutter ein geradezu pathologischer Hass entgegengebracht. Als Paula dann selbst als junge Frau von einem Bekannten ungewollt schwanger wird, reagiert ihre Mutter Elsie bloß „unüberbietbar grausam“ mit der Frage:

‘Is is your father‘s? (S. 146)

Auch Paula Fox gibt ihr erstes Kind, Baby Linda, nach der Geburt zur Adoption frei. Zwar will sie diesen Entschluss zehn Tage später rückgängig machen, doch ihr Arzt, der mit den geplanten Stiefeltern befreundet ist, lügt sie an und behauptet, die Frist für einen Widerruf sei bereits verstrichen. Erst 49 Jahre später wird sie ihre leibliche Tochter Linda kennenlernen. Linda wiederum wird später die Mutter von Courtney Love.

Schließlich noch das wache Mitererleben ihrer „Wiederentdeckung“, nachdem Jonathan Franzens Essay Why bother? – später bekannt geworden unter dem Titel Harper’s Essay – im Jahr 1996 das Interesse eines jungen Verlagslektors an der Autorin geweckt  hatte. 1999 erscheint die Neuauflage von Desperate Characters mit einer Einleitung von Jonathan Franzen:

Es erschien mir so offensichtlich besser als jeder Roman ihrer Zeitgenossen John Updike, Philp Roth und Saul Bellow. […] Es erschien mir ein unabweisbar großes Buch. (S. 302)

Jonatham Lethem, David Foster Wallace und Jeffrey Eugenides outen sich als Fans. Ein Rezensent beim New Yorker Magazine ist begeistert. Eine Lawine kommt ins Rollen.

Meine Lieblingsstelle findet sich ganz am Anfang, als Conrad Paula Fox und ihren Mann Martin Greenberg fragt, ob sie ein Foto von den beiden machen dürfe.

Paula Fox setzt sich aufs Sofa. ‚Setzt du dich neben mich?‘ ‚Ich habe mich immer gern neben dich gesetzt‘, sagt er, das klingt kein bisschen routiniert und auch nicht galant. Sondern einfach entschieden zärtlich. (S. 17)

Hier noch eine Liste weiterer writer‘s writers, auf dass uns die Ideen für unsere Wunschlisten nicht ausgehen.

Und hier geht es lang zu einem langen Interview mit Paula Fox.

Usama Al Shahmani/Bernadette Conrad: Die Fremde – ein seltsamer Lehrmeister (2016)

Nachdem ich In der Fremde sprechen die Bäume arabisch gelesen hatte, wollte ich mehr von dem Schriftsteller, Übersetzer und Literaturwissenschaftler Usama Al Shahmani lesen. Und so geht es heute um den 2016 in Zusammenarbeit mit der Journalistin Bernadette Conrad (*1963) entstandenen Band Die Fremde – ein seltsamer Lehrmeister, der im Limmat Verlag veröffentlicht wurde. Das Buch handelt schwerpunktmäßig von den Erfahrungen und Erinnerungen Al Shahmanis, der 2002 in die Schweiz flüchtete und sich seitdem dort ein Leben und ein Zuhause aufgebaut hat, auch wenn Conrad ebenfalls einige Kapitel und Interviewfragen beisteuert.

Es ist wieder ein berührendes Buch und ein wichtiges Buch. Ganz zu Beginn zitiert Conrad einen Satz von Al Shahmani:

Und manchmal habe ich ein schlechtes Gewissen, weil ich Dich durch meine Geschichten aus dem Irak traurig mache. (S. 8)

Conrad ist sich jedoch sicher:

Ich denke, dass nicht nur nichts verkehrt daran ist, dass wir uns von denen, die Krieg, Folter, Diktatur erlebt haben, traurig machen lassen, sondern dass dies im Gegenteil wichtig ist. Nicht nur, weil Entsetzen und Trauer die angemessenen Gefühle sind, um auf menschengemachtes Grauen zu reagieren. Diese Trauer zuzulassen ist auch eine Reverenz; ein Minimum, dass man als jemand, der von diesen Erfahrungen verschont geblieben ist, beitragen kann gegen eine Spaltung der Welt. (S. 8)

Al Shahmani schildert seine Kindheit und Jugend unter einem rigiden Vater und die brutalen Schulerfahrungen, die Angst, die eine ganze Gesellschaft zermürbt, lähmt und vergiftet. Die erste Flucht – noch im Irak – in die Literatur.

Ich war kaum zwanzig, als Frischs Roman ‚Mein Name sei Gantenbein‘ auf Arabisch veröffentlicht wurde, übersetzt von einem Ägypter. Ich hatte es von meinem alten Schulfreund Riad ausleihen können. (S. 131)

Dann erzählt Al Shahmani von seinem regimekritischen Theaterstück, das der Auslöser für seine lebensgefährliche Flucht war.

Die ersten keineswegs guten Jahre in der Schweiz, die Monotonie und Einsamkeit in den verschiedenen Flüchtlingsunterkünften, sein beharrliches Lernen der deutschen Sprache, Erinnerungen an Freunde und Studienkollegen, die kurzzeitige Hoffnung, nach dem Sturz Saddams wieder zurückkehren zu können. Familienangehörige, wie die Onkel und Bruder Ali, die Krieg und Diktatur zum Opfer fielen. Der gefolterte Freund, den er nach dessen Haftentlassung erst nicht erkennt.

Aber auch die Freude über das Kennenlernen seiner späteren Frau Nada, die Geburt ihrer beiden Kinder, das allmählich Heimischwerden in der Schweiz, neue Freundschaften und die Desorientierung, als er viele Jahre später zurück in den Irak reist, um seine Familie zu besuchen.

Es wäre müßig, hier noch viel zum Inhalt zu sagen. Ich möchte es so ausdrücken: Al Shahmani erzählt uns, verschont uns nicht. Er zeigt sowohl die widerwärtige Fratze des Saddam-Regimes und dessen Auswirkungen auf die Zivilgesellschaft, die allmählich verroht und abstumpft, als auch die Widersprüche und Brüche und Traumata eines Menschen, der die ersten 30 Jahre in Krieg und unter dieser Diktatur gelebt hat und der die seelischen Narben nicht mit dem Grenzübertritt nach Europa hinter sich gelassen hat.

Eines Tages zeigte das irakische Fernsehen einen Vater, der seinen Sohn der Sicherheitsbehörde eigenhändig auslieferte, weil er den Waffendienst an der Front ablehnte, um anschließend zu flüchten. Nachdem der Sohn von den Sicherheitskräften verfolgt wurde, um anschließend auf der Flucht erschossen zu werden, erschien dessen Vater im Fernsehen in Begleitung von Saddam. Saddam verlieh ihm zu Ehren eine Auszeichnung und nannte ihn ‚den wahrhaftigsten und rechtschaffensten irakischen Bürger.‘ (S. 112)

Die Einblicke in seine Herkunftskultur und seine irakische Familie, die Al Shahmani uns gestattet, helfen uns ebenfalls, ein wenig besser zu verstehen. Sehr vielsagend dabei die zwei Familienfotos, die Usama mit seinen Eltern einmal in den Siebzigerjahren und einmal 1998 zeigen. Ein kompletter gesellschaftlicher Wandel, illustriert mit nur zwei Bildern.

Dennoch strahlt auch dieses Buch eine zarte Hoffnung aus, ist es doch von einem geschrieben, der seine persönliche Antworten auf das Grauen in der Flucht, der Sprache und der Literatur gefunden hat. Er hat einen Weg gefunden, fremd und doch heimisch zu sein und seine Fremdheit als neuen Raum zu begreifen, den es zu gestalten gilt. Und der nun als ehrenamtlicher Flüchtlingshelfer seine Erfahrungen an andere Geflüchtete weitergibt.

Al Shahmani erzählt uns das so, als säße er bei uns in der Küche, er nimmt einen quasi an die Hand und schafft etwas ganz Seltenes: Er erweitert meine mentale Landkarte um ein Land namens Irak, dessen Leid ich mir bisher gut auf Abstand halten konnte. Ein Land, für das keine Hoffnung auf Besserung besteht, solange es unter der Fuchtel religiöser Hardliner bleibt.

Dass jeder Geflüchtete eine Geschichte mitbringt, ist eine Binsenweisheit, sollte aber dennoch nachdenklich machen, auch wenn sie kaum jemand so wie Al Shahmani wird erzählen können.

Für mich ist die Sprache die einzige Sache, die ich als meine absolute Heimat bezeichne. Ich habe meine Heimat nicht verloren, weil ich meine Muttersprache behielt. (S. 37)

Ich selbst habe mich erst dann willkommen gefühlt, als ich die Sprache konnte. Diese Tür muss man selbst öffnen. (S. 150)

Fundstück von Leïla Slimani

Das, was wir nicht sagen, gehört uns für immer. Schreiben heißt, mit dem Schweigen spielen, auf Umwegen Geheimnisse aussprechen, die im wahren Leben unaussprechlich sind. Die Literatur ist eine Kunst der Zurückhaltung. (S. 29)

Das Zitat stammt aus Der Duft der Blumen bei Nacht von Leïla Slimani, das 2022 bei Luchterhand erschienen ist. Schon lange kein Buch mehr gelesen, dessen Inhalt, wenn auch nicht unsympathisch vorgetragen, so wenig Nachhall erzeugte.

Rückblick aufs Lesejahr 2022

Wie schon in den vergangenen Jahren möchte ich auch am Ende dieses Jahres einen kurzen Blick auf meine persönliche Bestenliste werfen, bevor ich mir dann die immer neue Frage stelle, was ich als nächstes aus den diversen Bücherstapeln hier im Haus fische. Auf gute Vorsätze, was das Lesen oder gar das (Nicht-)Kaufen von Büchern angeht, werde ich diesmal bescheiden verzichten. Vielleicht klappt es ja dann …

Wiedergelesen 

Prima bis großartige Krimi-Entdeckungen

Bücher, die ihren Ursprung im Krieg und mir etwas zu sagen haben

Freundliche Bücher

Romane, die mir ganz sicher im Gedächtnis bleiben

Biografien und Erinnerungen

Allen Leser*innen an dieser Stelle ein kräftiges Dankeschön für eure Besuche und Kommentare und auch für die (leider) vielen Tipps und Anregungen auf euren eigenen Blogs, denen ich oft leider kein bisschen widerstehen konnte.

Kommt alle wohlbehalten ins neue Jahr, bleibt oder werdet gesund, übt euch in heiterer Gelassenheit und habt immer genügend Bücher anbei.

Usama Al Shahmani: In der Fremde sprechen die Bäume arabisch (2018)

Usama Al Shahmani ist mir erst seit dem Literaturclub vom 31. Mai 2022 ein Begriff. Der 1971 in Bagdad geborene Literaturwissenschaftler, Schriftsteller und Übersetzer flüchtete 2002 in die Schweiz, lebte fast zwei Jahre in Flüchtlingsheimen, brachte sich selbst Deutsch bei und lebt heute mit seiner Familie in Frauenfels. Und jetzt möchte ich jedes seiner Bücher lesen.

Doch zunächst zu dem nur 189 Seiten umfassenden zweiten Buch, das Al Shahmani auf Deutsch veröffentlicht hat, das zuerst im Limmat Verlag erschien, später auch im Unionsverlag.

Es ist ein leises, sehnsüchtiges, ein widerständiges, trauriges und hoffnungsvolles Buch über Flucht, Verlust, Bäume und Heimat von einem, der lernen musste, die aberwitzigsten Gegensätze, die ein Menschenleben ausmachen können, auszubalancieren. Dass man sich während und nach der Lektüre mit Schrecken die Eckdaten der neueren irakischen Geschichte in Erinnerung ruft, wird wohl nicht ausbleiben.

Al Shahmani erzählt schlicht, ohne die große Geste, ohne den Leser*innen eine Bewertung oder Beurteilung aufzuzwingen, vielleicht ist das einer der Gründe, weshalb sein Buch so eindrücklich ist.

In der Fremde sprechen die Bäume arabisch beginnt mit einer im Nachhinein witzigen Szene kurz nach seiner Ankunft in der Schweiz. Die schon seit Jahrzehnten in der Schweiz lebende Tante seines ebenfalls im Flüchtlingsheim untergebrachten Freundes fragt die beiden Männer, ob sie Lust haben, mit ihr einmal wandern zu gehen. Die beiden sind entsetzt. Wandern ist allenfalls noch als Bestandteil einer Pilgerreise vorstellbar, ansonsten fährt man lieber mit dem Auto oder bleibt daheim.

Es war für mich unbegreiflich zu hören, dass die Leute in der Schweiz einfach so zu Fuß gehen – in den Wäldern, Bergen, Tälern, auf schwierigen Wegen, um einfach nur zu wandern. Ich dachte, sie erzählt uns einen Witz, als sie uns berichtete, dass sie mit ihrem Mann fast jedes Wochenende wandern gehe. (S. 7, Taschenbuchausgabe des Unionsverlages)

Nun, bei dieser reflexhaften Ablehnung wird es nicht bleiben. Al Shahmani probiert es dann doch irgendwann aus und findet, was er vermutlich nicht erwartet hat. Das Wandern, genauer gesagt die Natur und vor allem die Bäume, trösten ihn. Ihnen kann er auf Arabisch erzählen, was ihn bedrückt, besorgt, beglückt und ängstigt. Seine große Freude, als er unvoreingenommenen SchweizerInnen begegnet, die ihm vertrauen und versuchen, ihm zu helfen und Mut zu machen, aber auch die Erfahrung, fremd zu sein, ausgebeutet zu werden, seine Verzweiflung, die Probleme beim innerlichen Ankommen in einem fremden Land und vor allem sein Heimweh.

Wenn ich das Wort ‚Heimat‘ ausspreche, steht vor meinem inneren Auge eine Dattelpalme. […] Dass die Dattelpalme aus meinem Leben verschwunden ist, seit ich in der Schweiz lebe, hat bei mir eine Lücke hinterlassen. (S. 124)

Seine ersten Arbeitserfahrungen als Hilfsarbeiter in verschiedensten Jobs bis hin zu der Tätigkeit in einem Beschäftigungsprogramm, bei dem forstwirtschaftliche Arbeiten im Wald erledigt werden müssen.

Ein Tauchgang in den Wald hilft mir immer wieder, die Vergangenheit ruhen zu lassen und an einen neuen Anfang zu denken. Neige dich und schwanke, sei wie die Bäume im Wind, verhalte dich wie ein Baum und lass alles fließen, denn alles wird vergehen. Auch das, womit du dich jetzt beschäftigst, ist vergänglich, sagte ich mir und betrachtete die Knospen an den Zweigen. (S. 80)

Dann die Erinnerungen an seine Kindheit und seine Geschwister. Besonders an seinen Bruder Ali, der sich weigert, Bagdad zu verlassen, wo er Französisch studiert und seine Freunde hat. Unter anderem deshalb will er nicht zu seiner Familie zurück in den Südirak, auch wenn es dort weniger gefährlich ist. Niemand in der Familie hat das notwendige Geld, um Ali ebenfalls zur Flucht ins Ausland zu verhelfen. Doch dann erfährt Al Shahmani im April 2006 von Naser, seinem zweiten Bruder, dass Ali verschwunden ist. Wie so viele im Irak, vermutlich direkt von der Straße weg verhaftet, verschleppt. Ein Trauma, mit dem nun die Familie im Irak und Al Shahmani in der Schweiz umgehen müssen.

Auf einem meiner Fotos steht der junge Ali in einer unermesslichen Wüste namens hemade. Der weite Horizont verleiht dem Bild eine große Tiefe, und der Horizont zwischen dem Blau des Himmels und der hemade sieht aus wie eine Linie zwischen Traum und Wahrheit. Er war im ersten Jahr seines Studiums. Sein ganzes Wesen strahlte eine bedingungslose Liebe zum Leben aus. Er freute sich, die französische Sprache und Literatur zu studieren. Einmal im Leben wollte er nach Paris reisen. (S. 176)

Alle Versuche, das Schicksal Alis in diesem vom Bürgerkrieg zerrissenen und korrupten Land aufzuklären, scheitern. Egal, wie häufig Naser die Gefängnisse, Krankenhäuser, Polizei, den Geheimdienst oder die Leichenhäuser aufsucht, in denen Menschen nach ihren zu Tode gefolterten Angehörigen suchen. Egal, ob man wertvolles Land verkauft, um Geld für einen Scharlatan zu haben, der sich brüstet, mit seinen guten Kontakten vielleicht doch etwas über den Verbleib des Verschwundenen herauszufinden. Die Mutter Alis wird über dem ungeklärten Schicksal ihres Sohnes fast verrückt.

Nicht nur der Regen, der Schnee und die Sonne, auch die Zeit hat im Wald eine andere Dimension. Den Regen im Wald zu erleben, hat meine Seele erfüllt, ich kam wie neugeboren heraus und fühlte mich erleichtert. Viele Schichten meines Leidens hat dieser Regen weggewaschen. (S. 110)

Die vernünftige Erkenntnis, dass man als Exiliraker nicht mehr davon träumen kann, irgendwann zurück in die Heimat zu gehen, da das Land so tiefgreifend zerstört ist. Dennoch sehne sich die Seele nach der Heimat. In den Worten eines irakischen Künstlers:

Meine Beziehung zum Irak habe ich für immer beendet – wie wenn man ein Grab zuschüttet. Frag mich nicht wieso, du musst selbst dorthin gehen. Die Diktatur lebt weiter in der Politik wie im sozialen Gewebe, und der Krieg hat die Menschen bis einem Grad verstümmelt, dass selbst der Gedanke, eine Reform zu versuchen, eine Art Verrücktheit geworden ist. (S. 106)

Weder hat Al Shahmani die Angst vor dem irakischen Sicherheitsdienst oder  den schwarzen Regen vergessen, der 1991 fiel, als Saddams Truppen beim Rückzug aus Kuweit die Ölquellen in Brand stecken ließ, noch den Fundamentalismus im Irak. Sein guter Freund Meran musste seine Geige immer bei den Nachbarn verstecken, da dessen Vater so religiös war, dass er weder Musik noch Instrumente duldete. Aber es geht auch um die Dankbarkeit und Hoffnung, mit der er sein Leben in der Schweiz gestaltet.

Ich bin der Fremde.
Ich habe Hoffnung
und einen Koffer voller Geheimnisse.
Beides trage ich und gehe,
wie ein Sufi, der geduldig
zu blühen versucht, wo immer
der Herr ihn hingepflanzt hat.
(S. 17)
Hier lang zu einem Interview mit Usama Al Shahmani.

Tom Hiney: Raymond Chandler. A Biography (1997)

Nachdem ich Farewell, my Lovely (1940), den zweiten Roman um den einsamen, trinkfesten und zynischen Privatdetektiv Philip Marlowe von Raymond Chandler (1888 – 1959) gelesen hatte, war klar, dass ich in den nächsten Wochen auch die anderen Marlowe-Krimis wiederlesen muss. Doch heute soll es um Tom Hineys Biografie zu diesem großen Kriminalschriftsteller gehen. 

Hiney liefert mit den ca. 300 Seiten seiner Chandler-Biografie einen knackigen und informativen Abriss, bei dem sich der Biograph nicht in den Vordergrund drängelt, bietet doch schon das Leben Chandlers genügend Stoff für mehrere Romane:

Chandler wird 1888 in Amerika geboren, sein Vater ist Alkoholiker, der die Familie früh verlässt. Als Siebenjähriger kehrt er mit seiner mittellosen Mutter zurück in deren Heimat nach Ireland. Verwandte unterstützen sie und ein Onkel finanziert, wenn auch nur mäßig begeistert, schließlich den Besuch der Privatschule Dulwich College in London, deren Direktor A. H. Gilkes einen unauslöschlichen Eindruck auf seine Schüler hinterlässt.

Gilkes‘ relentless sense of integrity could at times be excessive. P. G. Wodehouse, who left Dulwich in the year of Chandler‘s arrival, remembered the Master as the sort of man who would approach him after a good cricket performance and say ‚Fine innings, Wodehouse, but remember we all die in the end.‘ (S. 14)

Ein Studium mag der Onkel dem begabten Neffen dann doch nicht finanzieren. Allerdings unterstützt er längere Auslandsaufenthalte in Deutschland und Frankreich, sodass Raymond beide Sprachen lernt. Das wiederum hilft ihm, neben der Tatsache, dass er die britische Staatsangehörigkeit angenommen hat, 1907 den Einstellungstest für den öffentlichen Dienst als Drittbester von mehreren hundert Kandidaten zu bestehen. Doch in seiner ersten Stelle im Marineministerium hält Chandler es nur ein paar Monate aus; statt solider Tätigkeit im Staatsdienst folgt eine Phase verschiedenster Jobs, z. B. als Journalist, er mag sich nicht unterordnen und langweilt sich schnell. Vergeblich hofft er, als Dichter Anerkennung zu finden. 

Chandler‘s early poetry, with few exceptions, is most remarkable for the fact that he managed to have it published – for payment – in reputable magazines. (S. 25)

Sein Onkel, der ihm unmissverständlich klargemacht hat, dass es nun Chandlers Aufgabe sei, sich auch finanziell um seine Mutter Florence zu kümmern, borgt ihm ein letztes Mal Geld und so reist der 24-jährige Chandler 1912 nach Amerika. Während der Schiffsreise lernt er eine der reichsten Familien Los Angeles kennen, was ihm zu weiteren Kontakten und einer kulturellen Anlaufstelle für seine Freizeit verhelfen sollte. Schließlich lässt er seine Mutter nach San Francisco nachkommen, jobbt in allen möglichen Bereichen, belegt erfolgreich einen Kurs in Buchhaltung und arbeitet längere Zeit in der Buchhaltung einer Molkerei. 1913 dann der Umzug nach Los Angeles.

1917 meldet er sich zur Armee und kämpft während des Ersten Weltkrieges auf kanadischer Seite in Europa. Er erlebt, wie er als einziger aus seiner Einheit einen Angriff der Deutschen überlebt. Später wird er sich nur ganz selten zu seinen Kriegserinnerungen äußern. Nach Kriegsende beginnt er eine Affäre mit der 18 Jahre älteren Pearl Eugenie Pascal, die er immer nur Cissy nannte und die sich ihm gegenüber lange 10 Jahre jünger ausgegeben hat, als sie tatsächlich war. Cissy lässt sich für ihn von ihrem zweiten Ehemann scheiden, doch erst als Chandlers Mutter gestorben ist, ist der Weg für die Eheschließung 1924 frei. Die beiden bleiben bis zu Cissys Tod zusammen, sie war sein Halt, sein Idol, selbst seine Affären und sein Alkoholismus, dem Chandler immer nur phasenweise abschwor, änderten daran nichts. 

Ab 1922 arbeitet er sich in der rasch florierenden Ölfirma Dabney Oil Syndicate hoch und fängt an, richtig viel Geld zu verdienen. Ab den späten zwanziger Jahren läuft seine Trinkerei völlig aus dem Ruder. Er zieht in ein Hotel, da Cissy seine Affären und seine Sauferei nicht mehr erträgt. Wiederholt droht er mit Selbstmord oder verschwindet mit einer der Sekretärinnen von Dabney‘s übers Wochenende. Danach sind die beiden so durch den Wind, dass schließlich keiner von ihnen vor Mittwoch an der Arbeit erscheint. Er hat die ersten Blackouts und Gedächtnisausfälle.

Though Chandler made scant direct record of, or reference to, these lost years, it was a period in his life on which, in his later books, he would draw more heavily than any other. The age and circumstances of his fictional character, Philip Marlowe, would be very similar to those of Chandler during the last four years of his oil career. Both men were lonely drinkers working in Los Angeles. Both were good at jobs which they found distasteful and both, to some extent, were addicted to physical danger. The unique atmosphere of early 1930s Los Angeles would also figure more strongly in Chandler‘s fiction than that of any other period, for his own instability around 1930 was mirrored by the situation in which LA found itself following the Wall Street Crash of 1929. (S. 64)

Schließlich machen ihn sein ständiges Betrunkensein am Arbeitsplatz und seine daraus entstehenden Fehlzeiten für Dabney untragbar. 1932 wird er gefeuert. Mit seinen Ersparnissen kann er sich und Cissy eine Weile finanziell über Wasser halten, was hilfreich ist, denn ehemalige Freunde hat er mit seinem Verhalten längst vergrault und weder Verwandte noch eine Rückkehr nach Irland sind eine Option.

Nun kommt er – er ist inzwischen gründlich ausgenüchtert – auf die ja nicht unbedingt naheliegende Idee, sein Geld mit kurzen Geschichten verdienen zu wollen, die in preiswerten, auf raschen Konsum ausgerichteten sogenannten Pulp Magazinen veröffentlicht wurden. Das konnten Horror- und Abenteuergeschichten sein, Western oder eben auch Kriminalgeschichten. Diese erschienen ihm – trotz manche Plumpheiten – ehrlicher, aufrichtiger und besser zur Gegenwart passend als die traditionellen britischen Krimis. 

Chandler […] was also genuinely intrigued by detective fiction and the likes of Dashiell Hammett and Gardner. American crime fiction had, since the 1920s, been throwing off the polite shackles of the genre‘s English originators. The result was a tough, ‚hard-boiled‘ and instantly popular new sub-genre. It was also a sub-genre that had found, in Black Mask, both a new platform and a mass market. (S. 75)

Sein neues berufliches Ziel geht Chandler methodisch an; er besucht einen Kurs zum Schreiben von Kurzgeschichten, kauft Bücher dazu und analysiert die Geschichten, die in Pulp Magazinen veröffentlicht wurden, z. B. von Erle Stanley Gardner, dem Erfinder von Perry Mason. Doch Chandler feilt von Anfang an länger an seinen Texten, achtet mehr auf die Sprache als seine Kollegen, dafür weniger auf den Plot. 1933 wird seine erste Geschichte Blackmailers don‘t shoot in Black Mask veröffentlicht, an der er fünf Monate gearbeitet hat.

Dennoch ist das Ergebnis zunächst ernüchternd. 

It is possible to read the story half a dozen times without understanding what has taken place. This was partly arrogance on Chandler‘s part – his refusal to map out plots was largely because he considered them to be superfluous to the new realistic spirit of detective fiction. […] The plot proved to be a mess, and he was not yet sufficiently good a writer to create characters convincing enough to compensate for this. (S. 81)

Rückblickend sagt er über sein Schreiben, dass er am Anfang kaum in der Lage gewesen sei, einem Protagonisten glaubwürdig den Hut abzusetzen, ja, es habe zwei drei Jahre gedauert, bis er jemanden vernünftig einen Raum habe verlassen lassen können, und noch viel länger, bis er es geschafft habe, eine Szene mit mehreren Figuren im Griff zu behalten.

Writing was, none the less, a form of discipline that the reforming alcoholic enjoyed. Chandler grew fascinated by the mechanics of fiction, and even experimented with the physical process of typing… (S. 72)

Sein Leben lang wird er schmale, gelbe Papierstreifen in seine Schreibmaschine einsetzen, auf denen er nur 12 bis 15 Zeilen tippen kann. 

It was a trick, he discovered, which forced him to put ‚a bit of magic‘ on to each small sheet; be it an image, description or wisecrack. (S. 72)

Irgendwann ist er das Zugpferd des Black Mask Magazine, das sich immer stärker auf Detektiv- und Kriminalgeschichten konzentriert. Doch richtig viel Geld läßt sich für Chandler nicht damit verdienen. Seine finanziellen Umstände sind lange ausgesprochen drückend, weil er einfach nicht schnell genug Geschichten nachliefert. Er schreibt mehrere Monate an einem Text, während andere ihre Geschichten zum Teil in nur wenigen Tagen runterschreiben. Auch als er für mehrere Magazine schreibt, die zum Teil wesentlich besser als Black Mask bezahlen, verdient er nicht wirklich gut.

Doch 1938 wendet sich das Blatt. Ein New Yorker Literaturagent zeigt dem Verlagshaus Alfred Knopf einige Geschichten von Chandler. (Hier wird leider die Rolle von Blanche Knopf wieder völlig ignoriert). Jedenfalls teilt Knopf mit, dass er Interesse daran habe, einen Roman von Chandler zu lesen.

Und so erscheint 1939 sein erster Roman The Big Sleep. Wie bei fast allen seinen Kriminalromanen hat er darin mehrere seiner alten Geschichten aus dem Black Mask Magazine recycelt. Doch der Erfolg, auf den Knopf und Chandler gehofft hatten, stellt sich nicht ein. Erst kurz vor der Veröffentlichung des vierten Marlowe-Romans Lady in the Lake 1943 erlaubt Knopf eher resigniert auch Abdrucke in Pulp Magazinen und eine Taschenbuchausgabe. Doch nun passiert, womit keiner mehr gerechnet hat. Alle Marlowe-Bücher verkaufen sich wie geschnitten Brot, selbst die Hardcover-Ausgaben sind auf einmal erfolgreich. Das Problem dabei, Chandler fängt wieder an sich zu langweilen und weiß nicht recht, was er in Zukunft tun will. 

Da kommt im Mai 1943 ein Anruf der Paramount Studios. Sie bieten ihm an, zusammen mit Billy Wilder das Drehbuch für die Verfilmung von Double Indemnity nach der Romanvorlage von James M. Cain zu schreiben. Chandler sagt zu.

Just as he had done with the oil business in the 1920s, Chandler was about to enter a booming American industry at the optimum moment. The post-Depression, pre-television 1940s would turn out to be one of Holywood‘s greatest (and richest) decades. This had much to do with the continuing war, which was providing the American movie industry with a captive market, both at home and abroad. (S. 134)

Die enge Zusammenarbeit mit Wilder findet Chandler, nach den langen Jahren der sozialen Isolation, ausgesprochen schwierig. Er fängt wieder an zu trinken und glaubt, dass niemand das bemerkt. Dazu kommen die Probleme mit der Filmzensur, die sich die bekannteren Drehbuchschreiber bei der Romanvorlage von Cain nicht hatten antun wollen. Dennoch wird Double Indemnity ein Riesenerfolg. Chandler wird nun als fester Drehbuchschreiber engagiert und schwimmt in Geld.

Doch spätestens bei der Arbeit am Drehbuch zu The Blue Dahlia wird Chandler wieder zu einem alkoholischen Wrack. Er will die Arbeit zwischenzeitlich nicht mehr fortführen und erpresst von seinen Auftraggebern, die Angst hatten, dass ansonsten das ganze Projekt scheitern würde, schließlich Bedingungen, die noch keinem anderen Schreiber eingeräumt worden waren. Er setzt durch, dass er von zu Hause aus arbeiten kann, ständig zwei Cadillacs vor der Tür stehen, um Manuskripte zum Studio oder ihn oder Cissy zum Arzt zu bringen. Sechs Sekretärinnen würden sich jeweils in Zweierschichten bei der Arbeit ablösen. Auch ein Arzt solle bereitstehen, um ihm Vitaminspritzen zu verabreichen, da Chandler während seiner Trinkexzesse nichts aß. Chandler säuft also, schläft und schreibt. Das Drehbuch wird beendet und The Blue Dahlia wird 1946 zu einem der erfolgreichsten Kinofilme in Großbritannien. Chandler strickt dann eifrig an der Legende, dass er nur das Trinken wieder begonnen habe, um das Projekt zu einem rechtzeitigen Abschluss zu bringen. Die Zensoren bemängeln dann auch die übermäßige Erwähnung alkoholischer Getränke im Drehbuch. 

1946 wird er von Paramount gefeuert. Wieder wegen seines Alkoholmissbrauchs und der Tatsache, dass er schlicht nicht mehr zur Arbeit erscheint. Chandler und Cissy ziehen um nach La Jolla, wo sie die nächsten neun Jahre leben werden.

Ab Mitte der vierziger Jahre beginnen Kritiker zunehmend, sich ernsthaft mit den Kriminalromanen um Marlowe zu beschäftigen. Während einige befürchten, dass Chandler der ernsthaften Kultur erheblichen Schaden zufüge, weil er nun auch von intelligenten Leuten gelesen werde, sehen besonders britische Kritiker und Schriftstellerkollegen wie Stephen Spender, J. B. Priestley, William Somerset Maugham und W. H. Auden Chandler nicht länger als Vertreter billiger Unterhaltungsliteratur, sondern als ernstzunehmenden Schriftsteller an, dessen Romane als Kunstwerke gelesen werden müssten. Chandler interessiert das nur mäßig, er hält ohnehin die meisten Kritiker für Menschen, die  nicht schreiben können, keinen Kontakt zum Leben der Normalsterblichen hätten und sowieso schon halb tot seien. Und um ihre eigene Daseinsberechtigung nachzuweisen, würden sie ständig Interpretationen liefern, auf die außer ihnen kein vernünftiger Mensch komme. Aber es freut ihn natürlich, dass er anscheinend sein Ziel erreicht hat: aus einem heruntergewirtschafteten Genre etwas Neues geschaffen zu haben, über das sich die Intellektuellen in die Haare kriegen. Seine eigenen Ansichten zur Literatur veröffentlicht er ab Mitte der Vierziger immer wieder auch in Aufsätzen, die beispielsweise in The Atlantic erscheinen.

1949 erscheint Little Sister, sein fünfter Marlowe-Roman. 

1950 beginnt die Zusammenarbeit mit Alfred Hitchcock. Sie wollen Strangers on a Train nach dem Roman von Patricia Highsmith verfilmen. Doch Chandler überwirft sich mit Hitchcock, beschimpft ihn als „fetten Bastard“ und wird mal wieder gefeuert.

1953 erscheint The Long Goodbye, sein sechster Roman um Marlowe.

Dann, 1954, die große Katastrophe, von der sich Raymond Chandler nicht mehr erholen sollte. Nach jahrelangem Leiden an einer Lungenfibrose stirbt seine  geliebte Cissy im Alter von 84 Jahren, um die er sich in ihren letzten Monaten aufopfernd gekümmert hat.

For thirty years, ten months and four days, she was the light of my life, my whole ambition. Anything I did was just the fire for her to warm her hands at. That is all there is to say. (S. 214)

Mit Cissys Tod geht ihm der letzte Halt verloren. Er schafft es nicht einmal, ihre Asche zu bestatten. Er verkauft sein Haus und Alkoholabstürze, Sanatoriumsaufenthalte, diverse Umzüge, lange Englandaufenthalte und zweifelhafte Versuche, sich mit anderen Frauen und Heiratsanträgen zu trösten, sowie Selbstmordversuche folgen. Seine Freunde versuchen alles, um ihn zu stützen, abzulenken und unternehmen sogar Reisen mit ihm.  

Chandler‘s self-control continued to fall away in the loneliness into which he had plunged after Cissy‘s death. He made desperate midnight phone calls to people he had only ever known by letter. He was drinking constantly. (S. 217) 

Dennoch schafft es Chandler irgendwie, Playback, seinen letzten Marlowe-Roman fertigzustellen, der 1958, ein Jahr vor seinem Tod erscheint. 1959 stimmt Helga Greene, seine fast 30 Jahre jüngere britische Literaturagentin, seinem Heiratsantrag zu. Chandler besteht darauf, bei ihrem Vater formell um ihre Hand anzuhalten, was dieser ausgesprochen ungnädig aufnimmt. Beleidigt reist er nicht mit Helga zurück nach London, sondern verkriecht sich in La Jolla und trinkt und vernachlässigt sich so lange, bis er mit einer Lungenentzündung ins Krankenhaus eingeliefert wird, an der er drei Tage später stirbt. Greene wird damit – nach einem vor einem Gericht ausgetragenen Erbschaftskrieg – seine alleinige Erbin und Nachlassverwalterin.

Es war ein trister, anonymer Tod für einen Mann, der mit seinem Witz und seiner Klarsicht die Literatur so bereichert hatte. Die Zeitungen brachten lange, anerkennende Nachrufe. Die Londoner Times stellte fest: ‚Er gehört mit Sicherheit zu dem knappen Dutzend Kriminalschriftsteller, die zugleich auch Neuerer und Stilisten waren; die, in den gewöhnlichen Erzminen der Kriminalschriftstellererei arbeitend, das Gold der Literatur zutage förderten.‘ (MacShane in seiner Biografie von 1976, S. 428) 

Was die Biografie Hineys neben der Lebensgeschichte Chandlers so ansprechend vermittelt, ist der zeitgeschichtliche Hintergrund, der einen die Romane um Philip Marlowe noch einmal anders lesen lässt. Die Zeit der Prohibition (1920 – 1933), in der laut Chandler mehr getrunken wurde als je zuvor (siehe dazu auch die Seiten 66 ff), der Ölboom in Kalifornien, dann 1927 der große Korruptionsskandal um die Julian Petroleum Corporation, bei dem Tausende von Anlegern um ihre Ersparnisse gebracht wurden. 

Man versteht nach der Lektüre dieser Biografie besser, warum es in den Marlowe-Krimis von korrupten Polizisten wimmelt. Nicht nur das viel zu rasche Bevölkerungswachstum ist für die steigende Kriminalitätsrate in Los Angeles verantwortlich. Die Polizei ist für ihre Gewalttätigkeit berüchtigt und bei den rassistischen Ausschreitungen der Zoot Suit Riots von 1943 werden die Opfer bestraft, nicht aber die Täter. Das organisierte Verbrechen wird wohlwollend geduldet und gedeiht unter den Augen der Polizei ganz prächtig. 

In 1937, a federal grand jury investigation discovered that no less than 600 brothels and 18,000 unlicensed bars were operating under the noses of LAPD officers. It also confirmed in its report that ‚a portion of the underworld profits have been used in financing campaigns of city and county officials in important positions … The District Attorney‘s office, Sheriff‘s office, and the Los Angeles Police Department work in complete harmony and never interfere with … important figures in the underworld‘. (S. 89)

Selbst der oberste Polizeichef von Los Angeles, James Edgar Davis, steckte in der Tasche der einflussreichen Wirtschafts- und Unterweltbosse.

Besonders interessant fand ich die Ausführungen zur Rolle der Filmzensur in Hollywood.

Drehbücher mussten nämlich vorab eingereicht und genehmigt werden, um allen möglichen und unmöglichen Bedingungen zu genügen. Ständig mussten Szenen umgeschrieben und Details verändert werden. Unter dem Einfluss der katholischen Kirche und weiterer sittenstrenger Verbände war 1934 Schluss mit der künstlerischen Freiheit, was Gewaltszenen, nackte Haut und bestimmte Themenstellungen anging. Diese Periode in der amerikanischen Filmgeschichte bezeichnet man als Pre-Code.

Doch ab 1934 wurde der Production Code für alle amerikanischen Filmunternehmen verbindlich. Dessen Regelungen zielten darauf ab, auch Kriminalität, Sexualität und politische Inhalte moralisch einwandfrei darzustellen. Eine treibende Kraft bei der Durchsetzung des Production Code war die katholische Kirche, die andernfalls mit Boykottaufrufen drohte, was jeden Film zu einem wirtschaftlichen Reinfall gemacht hätte. So mussten die Studios nicht nur die Drehbücher vor Drehbeginn einreichen, sondern auch Fotos beilegen, die zeigen sollten, wie lang die Kostüme der Schauspielerinnen waren. Am liebsten wurde es gesehen, wenn die Filme die Möglichkeiten des Mediums nutzen, der charakterlichen Erbauung des Zuschauers zu dienen. Auch die Wortwahl wurde überwacht, möglichst keine Flüche und so wenig Slang wie möglich. Helden durften nicht zu feminin wirken und es durfte nichts Kriminelles gezeigt werden, was man als Zuschauer vielleicht hätte nachahmen können. So wurde beispielsweise beanstandet, dass ein Verbrecher, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen, im Film Handschuhe tragen sollte. Kein Wunder, dass sich da Chandlers Filme kaum werkgetreu verfilmen ließen… Erst 1967 wurde der Production Code abgeschafft.  

Das letzte Kapitel setzt sich mit Chandlers Rezeption nach seinem Tod und mit seinem angeblichen Antisemitismus und seinem Rassismus auseinander. 

Zum Abschluss meiner wieder völlig ausgeuferten Buchvorstellung ein Zitat des großen Kriminalschriftstellers:

I wish to God that Hollywood would stop trying to be significant […] because when art is significant, it is always a by-product and more or less unintentional on the part of the creator. (S. 166)

Als musikalischen Abschluss empfehle ich für diejenigen, die bis hierhin durchgehalten haben, Raymond Chandler Evening von Robyn Hitchcock and the Egyptians.

Anmerkung: Wer noch tiefer in die Materie einsteigen möchte, dem lege ich die über 400-seitige Biografie von Frank MacShane ans Herz, die im Original erstmals 1976 und in der deutschen Übersetzung 1984 im Diogenes Verlag erschienen ist. MacShane geht stärker als Hiney auf die literarische Entwicklung Chandlers ein und beschäftigt sich mit den Ansprüchen des Autors, die dieser grundsätzlich an Literatur, an sein eigenes Schreiben und seinen Stil gestellt hat. Auch die Beziehungen zu seinen Verlegern, die ganze geschäftliche Seite seines Schreibens wird genauer referiert. Dazu zitiert MacShane ausführlich aus den Briefen Chandlers.

Stefan Schwarz: Bis ins Mark – Wie ich Krebs bekam und mein Leben aufräumte (2022)

Ich bin kein Jürgen von der Lippe-Fan, aber sein Programm Lippes Leselust, das er zusammen mit Torsten Sträter auf die Bühne gebracht hat, war großes Kino (problemlos auf YouTube zu finden). Ich habe vor mich hin gekichert und – bitte nicht weitersagen – die Sendung am nächsten Tag gleich noch mal angeschaut. Im Anschluss habe ich unverzüglich eines der Bücher bestellt, die Sträter und von der Lippe vorgestellt haben, nämlich Bis ins Mark – Wie ich Krebs bekam und mein Leben aufräumte von Stefan Schwarz

Der Kolumnenautor Schwarz (*1965), Sohn eines Stasi-Generals, ehemaliger Mitarbeiter der TAZ, dann von dieser als ehemaliger Informeller Mitarbeiter enttarnt, erkrankte mit Mitte 50 unheilbar an Knochenmarkkrebs und hat darüber nun ein Buch geschrieben, von dem Schwarz in einem Interview selbst sagt:

Es ist keine fiktionale Geschichte, jedoch auch kein Tatsachenbericht. Knochenmarkkrebs ist nicht heilbar, aber am Horizont erscheinen Therapien, die eine sogenannte Chronifizierung ermöglichen, sodass man ein ordentliches Alter erreichen kann. Darüber schreiben wollte ich zunächst nicht, weil das mit einer Retraumatisierung einhergeht. Aber der Verlag hat mich ermutigt, ich könnte Humor und Verzweiflung an den richtigen Stellen einsetzen. Vielleicht wird es dadurch ja auch eine Handreichung für Menschen, die ebenfalls durch so was durch müssen. Man hat viel Zeit, über sein Leben nachzudenken, und mir tut es gut, mal draufzugucken, wie unentspannt ich durch mein Leben gegangen bin. Außerdem wollte ich, dass meine Kinder einen Vater haben, der da schließlich etwas buddhistischer rausgeht.

Ich finde, man wird diesem Buch nur gerecht, indem man es liest. Wie macht der Autor das bloß? Es ist so lebensvoll, lebendig. 

Ich bin ausgeschlossen aus dem Kreis der Gesunden, der nachlässig durch ihr Leben eilenden oder schlendernden Existenzen, die eine gefühlte Unendlichkeit vor sich herschieben. (S. 33)

Außerdem ist das Buch so allgemeingültig menschlich und ständig zog ich Querverbindungen zu meinem Leben, dabei haben unsere Lebenswege so gut wie nichts gemeinsam.

Das ist ja die schlimmste Nebenwirkung der Schriftstellerei, dass man sich beim Schreiben so unvermeidlich auf die Schliche kommt. […] Man schreibt sich auf und liest sich durch und lernt sich kennen, besser, als man sich je kennenlernen wollte. (S. 111)

Daneben ist es eine knallehrliche Bestandsaufnahme, ein Blick auf die Vergangenheit mit schmerzhaften Erinnerungen an Mutter und Vater, an Katastrophen, an den jahrelangen Sorgerechtsstreit mit seiner ehemaligen Frau und Fehler in der Kindererziehung. Es geht um das Auseinanderklaffen von Ideal und Wirklichkeit, um die Verluste, die das Älterwerden mit sich bringt. Und um unsere Endlichkeit.

Genauso erlaubt das Werk aber auch ein Blick auf unser großartiges und dann wieder ganz gruseliges Gesundheitssystem und auf die Torturen und die Schmerzen bei der Chemotherapie und Stammzellenbehandlung, die Ängste, die Begrenzung des Raums und des Horizonts und die Verlangsamung, die die Krankheit einem aufnötigt.

‘Ihr Krebs ist unheilbar‘, sagt der Arzt. ‚Sie werden folglich daran sterben.‘ Gesprächseröffnung nach Dr. Doom. (S. 182)

Und jetzt, in diesem Moment vor diesem Arzt, bemerke ich gerade, dass ich von einer gewaltigen Aggressionswelle geflutet werde. Dass ich ganz neutral in mir Aggressionswellen bemerke, erkennt man bei mir übrigens daran, dass ich lächle. Sie werden auch an irgendwas sterben, denke ich lächelnd. Und weder Sie noch ich wissen, woran und wann. (S. 183)

Schließlich die Dankbarkeit, als er nach den vielen harten Krankenhauswochen zum ersten Mal wieder draußen für ein paar Minuten einfach in der Sonne sitzen kann. Prioritäten, die sich völlig verschieben.

Und uns, den Leserinnen und Lesern, wird gehörig die Brille geputzt. 

Wenn man gesund ist, weiß man ja alles besser. […] Krebs stopft einem das große Maul. (S. 132)

Das ist doch der ganze Sinn von Krebs. Dass man aufhört, sich und anderen was vorzumachen, dass man innehält und sich die Augen reibt. (S. 201)

Und vielleicht das Erstaunlichste daran: Das Werk ist alles andere als ein „Doom and Gloom“-Buch. Es ist berührend, aber nicht larmoyant, es ist bissig, sarkastisch und wütend, ein Kampf um Würde und darum, nicht zu verzweifeln – auch nicht im Angesicht hilfloser und manchmal auch komplett empathiefreier Kommentare seiner Mitmenschen.

‘Was haben Sie eigentlich für einen Krebs?‘, fragt mich ein Gartenfreund über den Zaun, der schon vorab Nachricht von meiner Frau bekommen hatte.    ‚Knochenmarkkrebs!‘    ‚Ach, das hatte ein Freund von mir auch. Vor zwei Jahren. Ist aber schon tot.‘    ‚Na, das ging ja schnell‘, sage ich freundlich. Der Gartenfreund lebt auf. Offenbar konnte er mein Interesse an diesem Fall wecken. (S. 259)

Dann wieder liest es sich liebevoll und tröstlich und an anderen Stellen auch sehr, sehr komisch, mit einem Blick fürs Absonderliche, Schräge und Allzumenschliche. Und der Begriff „Raumteiler“ ist ab sofort nicht nur für x-beliebige Regale reserviert…

Das enge Herz der Welt wird einmal weit, und blumigere Naturen als ich fragen sich an dieser Stelle, warum wir uns nicht immer wie Todgeweihte (was wir sind, ist nur eine Zeitfrage) behandeln. (S. 151)

Hier gibt es ein Interview mit dem Autor auf SWR2.

Antti Tuomainen: Der Kaninchen-Faktor (OA 2020)

Bitte, wen würde dieser Einstieg nicht neugierig machen?

Ich sehe dem Hasen tief in die Augen, als das Licht ausgeht. In der linken Hand halte ich die Tube mit dem Industriekleber, in der rechten einen Schraubenzieher. Ich lausche. (S. 8)

Und schneller, als man den Namen des erfolgreichen finnischen Autors buchstabieren kann, muss der eigenbrötlerische Ich-Erzähler Henri Koskinen, von Hause aus Versicherungsmathematiker, aber seit kurzem Besitzer eines Abenteuerparks, einen Messerangriff durch einen Unbekannten abwehren. Der Angreifer hat sich eines Nachts im Abenteuerpark DeinMeinFun versteckt, auf Henri gelauert und versucht nun, ihn umzubringen. Doch das kaputte Ohr des Riesenhasen, bei dessen Reparatur Henri gestört worden war, leistet Henri bei der Verteidigung gute Dienste und der Angreifer liegt nach einer irren Verfolgungsjagd durch den nächtlichen Park auf einmal tot am Boden. Damit fangen die Probleme dann richtig an.

Nun muss Henri erst einmal einige Informationen nachreichen, damit sich die LeserInnen zurechtfinden. Henri, steif, stets formal gekleidet, stur und mathematisch beschlagen, hat kürzlich seinen Job als Mathematiker bei einer Versicherung verloren, da er auf die neuen Werte im Unternehmen wie Teambuilding, Emotionen zeigen und Kommunikation eher allergisch und beratungsresistent reagiert.

Doch Henri bleibt nicht lange arbeitslos, denn der Anwalt seines kürzlich verstorbenen Bruders Juhani erklärt ihm bei der Testamentseröffnung, dass Juhani ihm den Abenteuerpark DeinMeinFun vererbt habe.

Nach kurzer Zeit hat Henri das Chaos im ehemaligen Büro seines Bruders unter Kontrolle gebracht und herausgefunden, dass sich der Park in einer aberwitzigen finanziellen Schieflage befindet. Hohe Kredite bei kriminellen Gestalten wurden aufgenommen, nicht zurückgezahlt, große Summen versickerten, niemand weiß, wohin. Doch die Geldeintreiber wollen ihr Geld zurück und sind, siehe das nächtliche Abenteuer mit dem Hasenohr, nicht gerade zimperlich.

Henri mag sich den ebenfalls recht eigenwilligen Mitarbeitern des Parks nicht anvertrauen, er kennt die schließlich kaum und ist ohnehin eher misanthropisch unterwegs. Sein Motto: Je mehr Menschen, desto mehr Probleme. Es hilft auch nicht, dass auch diese Mitarbeiter ihre eigenen Vorstellungen von einem gut geführten Abenteuerpark umsetzen möchten.

Schlosser Kristian beispielsweise sieht sich schon auf dem Sessel des Geschäftsführers, den ihm der verstorbene Chef Juhani anscheinend in Aussicht gestellt hatte.

…. konnte es sein, dass ich die verborgenen Talente dieses Mannes übersah? Ich musterte ihn, ließ mir durch den Kopf gehen, was ich bisher über ihn wusste. Nein. Falls man bei diesem Mann Führungskompetenzen freilegen wollte, musste man bis zum Mittelpunkt der Erde vordringen. Oder so ähnlich. (S. 65)

Was bleibt Henri also anderes übrig, als sich auf eine gefährliche Ein-Mann-Rettungsmission zu begeben, was ihn, der normalerweise nur in Statistiken, Nützlichkeitsabwägungen und Wahrscheinlichkeiten denkt, doch weit außerhalb seiner Komfortzone führt. Dass er sich immer ganz seltsam fühlt, sobald die attraktive Malerin Laura, die ebenfalls im Park arbeitet, in der Nähe ist, bereitet dem Pedanten zusätzliches Kopfzerbrechen.

‚Ich hatte keine Karriere in einem Abenteuerpark vor Augen, eigentlich bin ich Künstlerin. Ich male. Aber na ja … Dinge passieren. Sie kennen das.‘ ‚Da bin ich mir gar nicht so sicher, ehrlich gesagt‘, entgegnete ich. ‚Meiner Erfahrung nach führen pauschale Annahmen oft in die Irre.‘ (S. 49)

Seine Überlegungen, wie er sich auf einen gemeinsamen Besuch einer Kunstausstellung vorbereiten möchte, sind großes Kino. Doch die Kunstwerke entziehen  sich seiner mathematischen Planung und Betrachtungsweise, was ihn schwer irritiert. Auch seine Liebeserklärungen haben ihren ganz eigenen Charme. Als Laura sich darüber wundert, dass er bereits beim ersten Date so ehrlich von sich erzählt, meint er nur:

Ach so. Damit kenne ich mich nicht so aus. Ich bin selten in einer Situation wie dieser hier. Ich finde Menschen eigentlich nicht so interessant. Aber dich finde ich interessant. (S. 162)

Dieser Krimi des preisgekrönten und international erfolgreichen Autors Tuomainen (*1971), übersetzt von Niina Katariina Wagner und Jan Costin Wagner, macht wirklich Laune. Er ist spannend und mit einer kauzigen Hauptfigur, die man in ihrer Geradlinigkeit und spießigen Korrektheit doch sehr mag.

Henri scheint nur darauf gewartet zu haben, dass statistisch ausgesprochen unwahrscheinliche Vorgänge wie Mordanschläge, finstere Gestalten und ein schauerlicher Abenteuerpark mit lauter lärmigen Kindern die wahren Stärken eines Versicherungsmathematikers zum Vorschein bringen. Witzig, schräg und mit einer immer wieder Haken schlagenden Handlung.

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Fundstück von Chimamanda Ngozi Adichie über das Trauern

Trauer ist ein grausamer Unterricht. Man lernt, wie hart Trauern sein kann, wie viel Wut darin steckt. Man lernt, wie nichtssagend Beileidsbekundungen sein können. Man lernt, wie sehr es bei Trauer um Sprache geht, um das Versagen der Sprache und die Suche nach den richtigen Worten. Warum sind meine Flanken so empfindlich und tun weh? Das kommt vom Weinen, wird mir erklärt. Ich wusste nicht, dass wir mit unseren Muskeln weinen. Der Schmerz ist keine Überraschung, aber seine Körperlichkeit ist es. […] Es ist ein Leiden nicht nur der Seele, sondern des Körpers. Fleisch, Muskeln, Organe, alles ist in Mitleidenschaft gezogen. Keine Körperhaltung ist bequem…

aus: Chimamanda Ngozi Adichie: Trauer ist das Glück, geliebt zu haben, Fischer Verlag, 2021, S. 11

Kazuo Ishiguro: The Remains of the Day (1989)

The Remains of the Day – ein Buch, über das sich ein Blogeintrag eigentlich gleich aus zwei Gründen verbietet: Zum einen wünschte ich mir vor dem Schreiben einer Besprechung dringend, mich zumindest kurzzeitig zurück ins Studium zu beamen zu können, um mich einige Wochen lang nur mit diesem Buch zu befassen. Zum anderen werden die meisten ohnehin den Roman oder zumindest die kongeniale Verfilmung mit Anthony Hopkins und Emma Thompson (1993) kennen. Hilft aber alles nichts, wenn der Blog u. a. auch eine Gedächtnisstütze meiner gelesenen Bücher sein soll, müsst ihr da jetzt mit mir durch.

Kazuo Ishiguro (*1954), der als fünfjähriger Junge mit seinen Eltern von Japan nach Großbritannien zog und Japan erst ca. 30 Jahre später wieder besuchte, ist einer der ganz großen Namen der britischen Literatur im 20. Jahrhundert. Für The Remains of the Day – auf Deutsch erschienen unter dem Titel Was vom Tage übrigblieb – bekam er den Booker Prize und 2017 dann – er hielt die Nachricht zunächst für einen Scherz – die größte denkbare Ehrung:

The Nobel Prize in Literature for 2017 is awarded to the English author Kazuo Ishiguro “who, in novels of great emotional force, has uncovered the abyss beneath our illusory sense of connection with the world”.

Doch zurück zum Buch: Stevens, der Jahrzehnte als Butler für den inzwischen verstorbenen Lord Darlington gearbeitet hat, steht nun – Mitte der fünfziger Jahre – in Diensten des reichen Amerikaners Mr Farraday, der Darlington Hall gekauft hat. Dieser schlägt ihm eines Tages vor, einen kurzen Urlaub zu nehmen. Zögernd nimmt Stevens das Angebot an und während seiner kleinen Reise, auf der er sogar die ehemalige Haushälterin Miss Kenton besuchen will, hat er einige aufschlussreiche Begegnungen mit zufälligen Reisebekanntschaften. Doch es ist auch eine Zeit der intensiven Erinnerungen an seine Arbeit auf Darlington Hall während der zwanziger und dreißiger Jahre. 

Er entsinnt sich der Scharmützel mit der aufgeweckten Miss Kenton, die vergebens versucht, Stevens, der sich völlig hinter dem Panzer seiner Berufstätigkeit verkrochen hat, zu einem wärmeren, individuelleren und mutigeren Ausdruck seiner Persönlichkeit zu animieren.

Stevens denkt auch an seinen stocksteifen Vater zurück, der nach dem Ende seiner eigenen Butlerkarriere seine letzten Jahre auf Darlington Hall verbringt.  Geradezu zärtlich beschreibt Miss Kenton in einem Brief an Stevens ihre Erinnerung an den Moment, als der alte Mann wenige Tage nach einem Sturz vor dem Gartenhaus, der im Grunde das Ende seines Arbeitslebens bedeutet hat, im Garten hin und her wandert:

If this is a painful memory, forgive me. But I will never forget that time we both watched your father walking back and forth in front of the summerhouse, looking down at the ground as though he hoped to find some precious jewel he had dropped there. (S. 50)

Vor allem aber erinnert sich Stevens an seine Arbeit, er macht sich ausführliche Gedanken darüber, wer sich ein herausragender Butler nennen dürfe, welche Charakteristika ein solcher aufweisen müsse. Dabei spielt der Begriff der dignity, der Würde, eine Schlüsselrolle. Würde wird von Stevens als ein berufliches Ethos definiert, das einem keinerlei persönliche Meinungen erlaubt. Man habe so vollständig in Loyalität, exzellenter Dienstausübung und Vertrauen zu seinem verehrten Arbeitgeber aufzugehen, dass Gefühle, eigene Sorgen oder Ansichten gänzlich unterdrückt werden – und vielleicht irgendwann gar nicht mehr wahrgenommen werden können. Privatheit dürfe sich ein guter Butler grundsätzlich nur erlauben, wenn er ganz allein sei.

The great butlers are great by virtue of their ability to inhabit their professional role and inhabit it to the utmost; they will not be shaken out by external events, however surprising, alarming or vexing. They wear their professionalism as a decent gentleman will wear his suit: he will not let ruffians or circumstances tear it off him in the public gaze; he will discard it when, and only when, he wills to do so, and this will invariably be when he is entirely alone. (S. 43)

Das Problem, das Stevens erst allmählich und zögerlich auf seiner Reise bewusst wird, ist, dass ihn seine Ansprüche und Verblendungen vermutlich um sein Lebens- und Liebesglück gebracht haben. Entsprechend sagt Ishiguro in einem Interview über seine Hauptfigur:

He’s articulate and intelligent enough to do quite a good self-deception job.

Auch in Bezug auf seinen Dienstherrn Lord Darlington, der sich den Nazis angedient und immer wieder Darlington Hall für konspirative Treffen zur Verfügung gestellt hat, hat Stevens die Wahrheit nicht sehen und wahrhaben wollen. Selbst die von Lord Darlington angeordnete Entlassung zweier jüdischer Hausmädchen wird von Stevens vielleicht nicht gutgeheißen, aber keinesfalls offen in Frage gestellt.

Warum nun liest sich das nun so aufregend? So faszinierend?

Weil man Stevens so nahe kommt. Ishiguro schreibt so überzeugend, als könne er sich in dem Kopf seines Ich-Erzählers umschauen. Man mag kaum glauben, dass es nicht irgendwo einen Stevens gibt, gegeben hat, einfach weil wir förmlich in seine verschrobenen, rührenden und auch liebenswürdigen Gedanken hineinschauen können. Und wer wäre nicht konsterniert, wenn er liest, dass Stevens nie einen Tag frei genommen und abends stundenlang in der Halle gestanden hat, um zu warten, ob Lord Darlington oder seine Gäste noch Wünsche haben. Und dann gar der Moment, als Stevens bei einer wichtigen Gesellschaft die Tränen beim Portwein-Einschenken übers Gesicht laufen. Ich verrate hier nicht, warum er weint. Selbst diese Tränen leugnet er noch ab.

Ishiguro schafft es – keine Ahnung, wie er das macht – Stevens dabei nicht lächerlich zu machen. Im Gegenteil: Stevens Überlegungen, mit denen er in seiner Tätigkeit als Butler einen größeren Sinn geben wollte, und sein Anspruch, seine Arbeit bestmöglich zu verrichten, die Größe seiner Verblendung und seines Selbstbetruges haben auch etwas Tragisches. Genauso wie sein Bestehen darauf, dass er nur dort privat sein wolle, wo er ganz allein ist. Was für ein Gegensatz zu dem gegenwärtigen gesellschaftlichen Trend, per Social Media möglichst viele Grenzen zwischen ‚privat’ und ‚öffentlich’ einzureißen. Wozu natürlich auch das Bloggen über die von uns gelesenen Bücher gehört … 

Gleichzeitig wird neben den Klassenschranken der britischen Gesellschaft die Gefahr der blinden Loyalität, des Nicht-selbst-denken-Wollens und des Verantwortung-Abgebens verhandelt. Doch wie in einem Spiegelkabinett vermeidet Ishiguro alle platten Eindeutigkeiten, wozu sein unzuverlässiger Ich-Erzähler beiträgt, der uns zwar vieles wahrheitsgemäß berichtet, sich aber zum Schutz seines Selbstbildes sehr eigenwillige Interpretationen der Geschehnisse zurechtlegt.

Zwischendurch ist das Buch aber auch witzig, berührend und dann wieder zum Haareraufen und sprachlich natürlich sowieso ein Genuss und am Ende ist man froh, dass Mr Farraday seinen Butler Stevens, der sicherlich eine der einsamsten literarischen Figuren ist, wenigstens auf diese Reise geschickt hat, an deren Ende Stevens vermutlich abgeklärter, mit weniger Verdrängtem und Unterdrücktem und mit einer neuen, ehrlicheren „Würde“ zurückkehrt.

Peter Beech verneigt sich vor diesem Roman mit dem Fazit:

We get a picture of a man trying desperately to keep a lid on his emotions – and what a complete picture it is. The Remains of the Day does that most wonderful thing a work of literature can do: it makes you feel you hold a human life in your hands. When you reach the end, it really does seem as if you’ve lost a friend – a laughably pompous, party-hat-refusing, stick-in-the-mud friend, but a good friend nonetheless. You want to give him a hug, except he’d be outraged.

Hier noch eine Würdigung des Werks von Salman Rushdie.

Des Weiteren ist ein Interview mit Graham Swift im BOMB Magazine erhellend; darin erläutert Ishiguro u. a., warum er einen Butler, diesen quasi englischen Mythos, zu seiner Hauptfigur gemacht hat. Der Autor erklärt außerdem, was ihm thematisch am Herzen liegt:

I’m interested in this business of values and ideals being tested, and people having to face up to the notion that their ideals weren’t quite what they thought they were before the test came.

Zum Weiterstöbern: Hier geht es lang zur Besprechung seines vierten Romans The Unconsoled (1995). Ganz anders und doch genauso faszinierend.

Nachtrag: Ich schmökere mich gerade durch den schmalen Band Imagining Mr Stevens: Approaches to Ishiguro‘s The Remains of the Day (2022) von Peter Freienstein und Paul W. Maloney. In neun knackigen Aufsätzen auf insgesamt 115 Seiten wird der Roman unter verschiedenen inhaltlichen und stilistischen Gesichtspunkten interpretiert und analysiert. Man entdeckt dabei definitiv weitere Feinheiten des Romans und weiß die Kunstfertigkeit des Autors noch mehr zu schätzen. Gefällt mir sehr.

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Mariana Leky: Kummer aller Art (2022)

Da mich die Drolligkeit samt Okapi in Mariana Lekys Bestseller Was man von hier aus sehen kann (2017) eher verschreckt hatte, war ich zunächst skeptisch ob all der begeisterten Stimmen zu ihrem neuesten Buch.

Doch was soll ich sagen: Nachdem ich Lekys gesammelte und bearbeitete Kolumnen aus Psychologie Heute, die jetzt unter dem Titel Kummer aller Art erschienen sind, gelesen habe, gelobe ich, auch alle eventuellen Folgebände unverzüglich anzuschaffen und zu lesen.

Hier werden unsere alltäglichen Kümmernisse und Freuden in kurzen Geschichten liebevoll aufgefächert, wir haben Flugangst, der Nachbar ist ein Scheusal, der geliebte Onkel wird irgendwann sterben. Aber – selten genug –  kann es auch passieren, dass wir plötzlich jemanden treffen, von dem wir gar nicht wussten, dass wir schon immer nach ihm gesucht haben, und dann denken wir:

‚Da bist du ja wieder‘ (S. 157)

Weitere Kümmernisse, die mit Lekys Buch ein wenig kleiner werden: Wir haben eine mittelprächtige Phobie, der Teenager hat den ersten weltgroßen Liebeskummer oder wir fragen uns, was wohl ein verpasstes Leben sein könnte. Manchmal können wir auch einfach nicht einschlafen und die richtigen Antworten auf Grobheiten und Unhöflichkeit fallen uns natürlich erst Stunden oder Tage später ein.

Die unangenehmste Phase [der schlaflosen Nächte], auch da sind sich Frau Wiese und ich einig, ist die, in der die Sorgen zuschlagen. Sorgen haben in durchwachten Nächten bekanntlich sehr, sehr leichtes Spiel, wie Halbstarke, die auf dem Schulhof einen Erstklässler vermöbeln. Bei Übermüdung kommt einem die Verhältnismäßigkeit abhanden: Alles ist plötzlich gleich furchtbar, die Weltlage genauso wie die unbeglichene Rechnung der GEZ. (S. 17)

In den Texten begegnen uns Menschen, die uns lieb und wert werden, wie Onkel Ulrich, ehemals Psychoanalytiker und Onkel der Ich-Erzählerin. Die reizenden Nachbarn Frau Wiese oder Herr Pohl mit seiner ständig zitternden Zwergpinschermischung Lori. Überhaupt tummeln sich im Familienkreis der Erzählerin so einige Psychologen und Therapeut*innen.

Als ich ein Kind war, sind wir oft mit dem Auto in den Urlaub gefahren. Wenn mein Bruder und ich auf dem Rücksitz zu quengeln anfingen und meine Eltern die ewigen Benjamin-Blümchen-Kassetten nicht mehr hören konnten, sagte mein Vater oft: ‚Macht einfach die Augen zu und unterhaltet euch mit Bruder Innerlich.‘ Wir hatten keine Ahnung, wer Bruder Innerlich war, aber wir hatten sehr guten Kontakt zu ihm. (S. 19)

Der ein oder die andere Leserin mag die Geschichten möglicherweise als zu harmlos und betulich empfunden haben; Themen wie Gewalt, Krieg, Armut oder Menschenfeindlichkeit spielen hier allesamt keine Rolle. Doch es darf auch mal eine Nummer kleiner sein. Denn Leky schreibt so wunderbar emphatisch, freundlich, witzig, liebevoll, tröstlich und mit wunderschön schrägen Bildern, dass ich drohe, komplett im Kitsch zu versinken, wenn ich hier auch nur einen Satz mehr schreibe.

In der Ruhe liegt die Kraft, da liegt sie momentan nicht besonders günstig, denn die Ruhe habe ich offenbar zu Hause gelassen, deshalb habe ich auf die darin befindliche Kraft keinen Zugriff. (S. 69)

Aus aktuellem Anlass hier ein letztes Zitat:

Er [Onkel Ulrich] erzählt, dass früher, als er noch Psychoanalytiker war, die Friseurbesuche seiner Patientinnen oft mindestens eine Therapiesitzung in Anspruch nahmen. […] Für Frauen, erzählte Ulrich, spiele sich beim Friseur mitunter das Drama ihres Lebens nach. Man hat dem Friseur genau gesagt, wie man sein Haar haben möchte, aber er hat nicht zugehört oder einen nicht verstanden und hat einem etwas ganz anderes  an den Kopf geschnitten, und dann läuft man unverstanden und entstellt und wie mit Pech begossen nach Hause. (S. 59)

Das Fazit von Annemarie Stoltenberg auf NDR:

Das alles ohne Kitsch, liebenswürdig, fragil. Mariana Leky hat die Gabe, uns zu vermitteln, wie es gelingen kann, jeden Menschen so wahrzunehmen, wie er ist, ohne Besserwisserei, ohne „Ich würde doch nie“-Gemurmel. Das ist schön.

Stephen Grosz: The Examined Life – How We Lose and Find Ourselves (2013)

Ich mag das, wenn sich für mich Fäden zwischen Büchern entwickeln, die auf den ersten Blick überhaupt nichts miteinander zu tun haben. Das ging mir so mit der Novelle Leutnant Burda (1887) von Ferdinand von Saar aus der Sammlung Requiem der Liebe und andere Novellen und den modernen Fallgeschichten des amerikanischen Psychoanalytikers Stephen Grosz, der schon lange in London lebt und arbeitet.

Leutnant Burda war eine der Erzählungen von Ferdinand von Saar, die mir besonders gefallen hatten. Ihr Inhalt sei hier kurz umrissen:

Der fast 30-jährige, gut aussehende, korrekte und beliebte Offizier Joseph Burda hält sehr auf seine äußere Erscheinung und sich, was seine Wirkung auf die Damenwelt angeht, für unwiderstehlich.

Für ihn und seine Heiratspläne beginnt das „weibliche Geschlecht erst bei der Baronesse“ (S. 282), das ist – abgesehen von der Arroganz dieser Haltung – auch insofern ein Problem, da er selbst aus sehr einfachen Verhältnissen kommt. Burda lässt allerdings Nachforschungen anstellen, um nachzuweisen, der Nachfahre eines altes Adelshauses zu sein. Doch diese Hoffnungen werden sich als Luftgespinste erweisen.

Das alles hindert ihn nicht, sein Augenmerk auf eine Tochter eines der wichtigsten Fürsten am Wiener Hof zu richten. Er schickt ihr Gedichte, Blumen und beobachtet sie im Theater, interpretiert die Wahl ihrer Kleiderfarbe in seinem Sinn und deutet überhaupt alles, was er aus der Ferne von ihr sieht, hört und erfährt, als Zeichen ihrer Neigung. Ein zufälliges Vorbeifahren ihrer Kutsche ist damit quasi schon ein Versprechen auf ihre unverbrüchliche Treue.

Es war erstaunlich, wie Burda sich alles und jedes zurechtlegte. Und in der Tat, wenn er sich hinsichtlich der Gefühle, die er der Prinzessin zumutete, nicht einer vollständigen Täuschung hingab, so erschienen seine Hoffnungen, so abenteuerlich sich diese ausnahmen, nicht ohne einen gewissen Haltpunkt. (S. 303)

Weder seine Freunde noch Abgesandte des Fürsten, die ihn auffordern, sein unziemliches und lästiges Betragen einzustellen, können ihn von seiner Wahnvorstellung, dass die Prinzessin ihm gewogen sei, heilen.

Und nun zu The Examined Life – How We Lose and Find Ourselves des Psychoanalytikers Stephen Grosz (*1952), der immer wieder auch literarische Figuren zur Illustration heranzieht: Seine 31 verdichteten Fallgeschichten aus seiner über 25-jährigen Arbeit als Therapeut wurden zu einem Bestseller und inzwischen in zahlreiche Sprachen übersetzt. Die deutsche Übertragung von Bernhard Robben erschien unter dem dämlichen Titel Die Frau, die nicht lieben wollte. 

Es geht um die Horrorszenarien, die wir uns so lebhaft ausmalen, um Ehefrauen, die sich die Untreue ihres Mannes nicht eingestehen können, um Rache, traurige Kinder und die Verdrängung nicht eingestandener Persönlichkeitsanteile, die wir dann umso rabiater bei anderen bekämpfen. Aber auch ein spätes Coming-Out sowie die langen Schatten, die unsere Kindheit auf unser erwachsenes Leben werfen kann, kommen zur Sprache oder eben – wie bei Joseph Burda – eine Form des Liebeswahns.

Grosz bezeichnet ein solches Verhalten in seinem Buch als lovesickness. Er meint damit eine auf eine andere Person gerichtete irreale Wunschvorstellung, die beispielsweise eine Frau jahrelang trotz aller anderslautenden Beweise hoffen lässt, dass sich ihr verheirateter Geliebter für sie von seiner Ehefrau trennen wird.

Dieses Kapitel How lovesickness keeps us from love zeigt exemplarisch, wie der Autor vorgeht. Er stellt sich nie über seine Klient*innen, gesteht eigenes berufliches Scheitern ein, ist unglaublich interessiert an seinen Mitmenschen und hilft geduldig, mit freundlicher Empathie und entsprechendem Sachverstand den Ursachen der jeweiligen Verhaltensweise auf den Grund zu kommen. Hier zeigt er auf, welche Konsequenzen solch eine lovesickness mit sich bringt und welche Erkenntnisschritte, welcher Schmerz ausgehalten werden müssen, damit Heilung geschehen kann.

Most of us have come down with a case of lovesickness at one time or another, suffering its fever to a greater or lesser degree. […] When we are lovesick, we feel that our emotional boundaries, the walls between us and the object of our desire, have fallen away. We feel a weighty physical longing, an ache. We believe that we are in love. (S. 110)

Doch auch das Kapitel um unsere Unwilligkeit, einen kleinen Verlust zu akzeptieren, um einer größeren Gefahr zu entgehen, illustriert anhand der Erfahrungen von Marissa Panigrosso, einer der Überlebenden des Anschlags am 11. September 2001, fand ich sehr eindrücklich. Panigrosso flüchtete sofort, nachdem klar war, dass etwas passiert war, mit dem (vorletzten) und ansonsten menschenleeren Fahrstuhl in einem der Twin Tower nach unten und brachte sich damit in Sicherheit. Andere folgten den Lautsprecheransagen, stiegen aufs Dach oder rannten zurück, um noch etwas aus ihrem Schreibtisch zu holen oder taten – gar nichts.

We don‘t want an exit if we don‘t know exactly where it is going to take us, even – or perhaps especially – in an emergency. (S. 123)

In verschiedenen Interviews erklärt Grosz, was ihn zu diesem Buch motiviert hat. Zum einen sei er erst sehr spät Vater geworden und möchte seinen Kindern etwas von seiner Sicht auf die Welt mitgeben, da man nie wissen könne, wie lange er noch Zeit mit ihnen verbringen kann. Zweitens hält er Geschichten für eine viel sinnvollere Art, Erfahrungen und Einsichten aus seiner Arbeit weiterzugeben, als rein wissenschaftliche Berichte oder gar statistische Angaben. Außerdem ist ihm bewusst:

Also, psychoanalysis requires time and money, and many people won’t be able to afford it. I wanted to set down some of the important things I’ve learned in a way that may be helpful to those who are unable to have psychoanalysis or therapy.

Was könnte die Leserin, der Leser also von diesem Buch lernen?

The first […] is that change involves loss. In fact, all change involves loss, and yet life itself is change – we are always giving up something for something else. And the point is that we lose ourselves when we try to deny those changes, when we deny that life entails loss. […]

Thereafter we mend ourselves, Grosz believes, „by repairing our relationship with the lost, by acknowledging that these were losses. We can find ourselves by facing truths about our lives and about these losses, by facing the truth about how our relationships with people really are, not how we’d like them to be.“ In other words, by truly telling our stories.

Hier geht es lang zu einem Interview mit Stephen Grosz.

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Ferdinand von Saar: Requiem der Liebe und andere Novellen (1958)

Wie das so ist, da laufen einem Bücher zu und Jahre später weiß man nicht mehr, wie, woher, wann und wozu. So ging es mir auch mit der antiquarischen Ausgabe der Novellensammlung Requiem der Liebe und andere Novellen des österreichischen Dichters Ferdinand von Saar, die ich jetzt endlich mal aus dem Regal gefischt habe. Die dreizehn Erzählungen dieses Bandes erschienen ursprünglich zwischen 1865 und 1905. 

Hatte ich zunächst einfach Lust auf „alte“ Literatur und eine entsprechende Sprache, war ich zunehmend gefesselt von der Frage, welches Ehe- und Frauenbild eigentlich in diesen Novellen vermittelt wird, die oft aus der Sicht eines männlichen Ich-Erzählers überliefert werden. So viel vorweg: Glücklich wird hier kaum jemand. Es wird entsagt, gemordet, geeifert, gesehnt und  fröhlich den eigenen Illusionen hinterhergerannt. Auch die Gesellschaft selbst ist dem Glück des einzelnen nicht gewogen. Ganz im Gegenteil.

Als ich um die Kirche bog, die gleichfalls geschlossen war, hatte ich den Friedhof voll schattender Weiden und Lebensbäume zur Seite. […] Ein einsamer Falter flatterte mir still über den Blumen voran, während ich hier und dort die Inschriften und Namen auf den schlichten Kreuzen las. Unter den Monumenten, deren es hier nur wenige gab, zog mich eines durch edle und ergreifende Einfachheit besonders an. Es war ein kleiner Obelisk aus weißem Marmor und stand, etwas abseits von den übrigen, unter einer breitästigen Tränenweide. Die Inschrift war in römischen Lettern, deren Vergoldung schon etwas gelitten hatte, eingehauen und lautete: Friederike Friedheim, geb. 16ten Januar 1829, gest. 30ten Mai 1846. Vor diesem Grabe stand ich lange. Wer war dieses Mädchen, das der Tod so früh gebrochen, das man vor mehr als einem Jahrzehnt hier bestattet hatte? Lebte ihr Angedenken fort im Herzen trauernder Eltern, im Geiste eines Mannes, dessen Jünglingsideal sie gewesen? Oder war sie verweht wie ein Duft, ein Klang im Gewühl und im Lärm des rastlos vorwärts drängenden Lebens, und nannte nurmehr der Marmor ihren Namen? (aus: Innocens, S. 67/68)

Immer dann, wenn ich schon mit den Augen rollen wollte angesichts scheinbar nicht hinterfragtem Chauvinismus und einengenden Frauenbildern, schafft es von Saar mit einer kleinen, aber wichtigen Wendung, manchmal sogar nur wenigen Worten der Geschichte eine ganz neue Bedeutungs- und Deutungsebene zu geben, die plötzlich Brücken in unsere Gegenwart schlägt und männliche Überheblichkeit und Illusionen entlarvt. Und Männer, die glauben, dass die Ehefrauen ihnen „gehören“ und keinen anderen „anzuschauen“ haben, gibt es schließlich heute wie damals.

Also, sehr gern gelesen; hier bekommt man nichts fertig serviert, sondern wird vermutlich auch beim zweiten Lesen noch Neues entdecken. Zumal die Erzählungen oft in die zeitgeschichtlichen Bedingungen eingebettet sind. Eine Novelle spielt beispielsweise unter den Steineklopfern, die das Material für eine neue Straße brechen, und unwillkürlich ist man bei Brechts Fragen eines lesenden Arbeiters.

Sowohl Werkinterpretationen als auch die biografischen Angaben, die man im Internet zu dem Wiener Offizier Ferdinand von Saar (1833-1906) findet, sind erstaunlich dürftig; eine Biografie aus dem Jahr 1947 stammt von Marianne Lukas und Ein Poet aus Österreich. Ferdinand von Saar. Leben und Werk von Herbert Klauser erschien 1990. Und das, obwohl nicht nur Wien Geschichte Wiki, sondern auch die deutschsprachige Wikipedia seinen Rang als Erzähler betont, ja, ihn in seiner Bedeutung mit Ebner-Eschenbach vergleicht:

Er war einer der namhaftesten realistischen Erzähler an der Wende zum 20. Jahrhundert, ein Poet von feinster Stimmung und ein Meister novellistischer Technik. Er schilderte die k. u. k. Armee, die Wiener Gesellschaft und die Verfallserscheinungen der alten Monarchie mit psychologischem Scharfsinn. Seine von tiefer Menschlichkeit zeugenden Erzählungen sind meist autobiographisch getönt und stehen dem Stil des Wiener Impressionismus nahe.

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Krimi-Tüte mit Cozy Mysteries

In der letzten Zeit habe ich einige Cozy Mysteries gelesen, also Krimis, die mit wenig Gewalt und blutigen Details auskommen und stattdessen möglichst unterhaltsam, aber dennoch spannend daherkommen, vielleicht sogar ein bisschen Screwball Comedy enthalten und die geneigte Leserschaft dabei nicht mit schlechtem Stil oder lieblos zusammengestöppelter Handlung verärgern.

Christianna Brand: Heads you lose (1988) 

Heads you lose von Christianna Brand spielt während des Zweiten Weltkrieges und ist der erste Band um Inspector Cockrill.

Die 38-jährige Grace Morland macht sich illusorische Hoffnungen auf einen Heiratsantrag ihres Nachbarn, den attraktiven und wohlhabenden Stephen Pendock und seines Zeichens Herrenhausbesitzer. Doch der wird sich gerade seiner Zuneigung zu der jüngeren und hübschen Francesa Hart bewusst, die er seit deren Kindheit kennt. Als an einem Dezemberabend Francesca in geradezu kindlicher Freude vor allen ein neues Hütchen präsentiert, kann Grace ihre Eifersucht nicht länger zügeln und lässt sich zu der Bemerkung hinreißen, dass sie mit einem solch liederlichen Fetzen nicht mal tot im Graben liegen möchte. Ein paar Stunden später ist Grace tot, sie liegt im Graben und trägt sogar den Hut Francescas.

Der Kreis der Tatverdächtigen ist klein, sind doch nur Francesca, ihre Schwester Venetia und deren Mann Henry Gold und die Großmutter der beiden jungen Frauen sowie James Nicholl, ein gerade zu Wohlstand gekommener Bekannter, über die Feiertage zu Besuch bei Stephen.

Alles ein bisschen düsterer als bei Agatha Christie, die unangenehmen Seiten und blinden Flecken der Beteiligten werden schärfer akzentuiert, wodurch das Erzählen moderner wirkt. Ein gelungener Auftakt, auf dessen Fortsetzung ich gespannt bin.

Lawrence Block: Burglars can‘t be Choosers (1977)

Lawrence Blocks (*1938) Krimis um den hauptberuflichen Einbrecher und Dieb Bernard G. Rodenbarr, der sich darauf versteht, unbemerkt in Wohnungen und Villen einzudringen und jedes noch so sichere Schloss zu knacken, machen Spaß, auch wenn der Aufbau der Bücher sich immer wieder ähnelt. Denn jedes Mal gerät Bernie bei seinen Beutezügen vom Regen in die Traufe und er hat auch schon einige Zeit hinter Gittern verbracht, eine Erfahrung, die er ungern wiederholen möchte.

Oft wird er von jemandem „gebucht“, in dessen Auftrag er wertvolle Gegenstände und Preziosen erbeuten soll.

I turned the knob, eased the heavy door inward half an inch or so. My blood was really up now. You never know for certain what‘s going to be on the other side of the door. That‘s one of the things that makes it exciting, but is also makes it scary, and it‘s still scary no matter how many times you‘ve done it. Once the lock‘s open, though, you can‘t do it an inch at a time like an old lady slipping into a swimming pool. So I pushed the door open and went inside. (S. 4)

Diesmal geht es um eine blaues Behältnis, nur zigarrenkistchengroß, in blaues Leder eingeschlagen, das sich im Apartment eines Mr. Flaxford, und zwar in dessen Schreibtisch, befinden soll. Dieser scheinbar kleine Auftrag soll ihm 5000 Dollar einbringen. Doch so gründlich Bernie den ganzen Schreibtisch durchsucht, es ist kein blaues Kästchen zu finden. Just als er die Wohnung unauffällig und bedauerlicherweise unverrichteter Dinge verlassen will, hört er einen Schlüssel in der Tür. Und ehe er sich versieht, stehen zwei Polizisten in der Wohnung, die von Nachbarn alarmiert worden sind, die seltsame Geräusche gehört hätten. Doch damit nicht genug des Schlamassels, als die Polizisten die Wohnung kontrollieren, entdeckt der jüngere der beiden eine Leiche im Schlafzimmer und fällt vor Schreck in Ohnmacht. In Sekundenbruchteilen entschließt sich Bernie, den zweiten Polizisten niederzuschlagen, zu flüchten und auf eigene Faust auf Mördersuche zu gehen. Was nicht unwesentlich dadurch erschwert wird, dass die ganze New Yorker Polizei nach ihm sucht und sein Konterfei am nächsten Tag die Titelseiten sämtlicher Zeitungen ziert.

Spritzige Dialoge, spannend und eine ordentliche Auflösung. Kann man mehr von lesen. Inzwischen gibt es bereits zwölf Bücher und einige Erzählungen um Bernie und seine illegalen Aktivitäten.

2020 ist eine deutsche Neuauflage der Übersetzung von Sepp Leeb unter dem Titel Ein Einbrecher zum Verlieben erschienen, bei der mir allerdings nach dem Vergleich der ersten Absätze schon nicht wohl war. Ich kann es nicht ausstehen, wenn ganze Sätze und Satzteile in der Übersetzung einfach unter den Tisch fallen, Bedeutungen verändert werden oder die gehobene Ausdrucksweise Bernies sehr reduziert, ja plump wiedergegeben wird.

Richard Coles: Murder before Evensong (2022)

Der umtriebige und inzwischen pensionierte Kirchenmann Richard Coles legt hier den ersten Band um Pfarrer Daniel Clement vor, der seit acht Jahren seinen Dienst in Champton versieht. Der Mittvierziger lebt mit seiner verwitweten, aber durchsetzungsfreudigen Mutter und zwei mäßig erzogenen Dackeln im Pfarrhaus und ab und an kommt sein jüngerer Bruder, ein Schauspieler, zu Besuch, meist dann, wenn es gar nicht passt.

Die Geschichte spielt 1988 und Coles nimmt sich viel Zeit und noch mehr Seiten, das Dorf, seine BewohnerInnen, deren Tratschereien, den Standesdünkel des örtlichen Adligen Bernard de Floures und den Streit zu schildern, den die Idee des Pfarrers, im Kirchengebäude endlich eine Toilette einzubauen, im Dorf auslöst.

Doch eines Abends wird der Cousin Bernards mit eingeschlagenem Schädel in der Kirche aufgefunden. Niemand kann sich vorstellen, wer ein Interesse daran gehabt haben könnte, diesen friedfertigen, wenn auch sehr dem Alkohol zugeneigten Heimatforscher den Garaus zu machen. Als ein weiterer Toter zu beklagen ist, steht das Dorf Kopf.

Gefielen mir zunächst der ruhige Erzählton, das Verweilen bei Details und den zahlreichen Dorfbewohnern, die alle irgendwann ihren kleinen oder größeren Auftritt haben, so fehlte mir doch irgendwann etwas Entscheidendes. Hier wird quasi gar nicht oder eher im Vorbeigehen ermittelt. Nur zaghaft werden falsche Fährten gelegt und gegen Ende fällt die Auflösung des Falls dem Pfarrer arg unvermittelt wie Schuppen von den Augen. Ein bisschen mehr Plot, ein bisschen mehr Entwicklung bei den Handlungsfäden hätte dem Buch doch sehr gut getan. Und die Verankerung des Geistlichen in seinem Glauben und der daraus resultierenden Weltsicht fand ich in den Kriminalgeschichten James Runcies um Sidney Chambers wesentlich tiefgründiger.

Fiona Veitch Smith: The Jazz Files (2015)

War Murder before Evensong mir oft zu statisch und fiel die Lösung am Ende etwas hilflos vom Himmel, begibt sich Fiona Veitch Smith mit The Jazz Files ans andere Ende des Spektrums. Handlung und Tempo satt, was wiederum etwas auf Kosten der Charakterisierung geht. Aber der erste Band um die junge Poppy Denby, die 1920 aus ihrem methodistischen Elternhaus irgendwo auf dem Lande nach London kommt, ist dafür sehr hübsch ins Zeitgeschehen eingebettet.

Poppy, die davon ausgegangen ist, dass sie ihre auf den Rollstuhl angewiesene Tante Dot im Haushalt unterstützen soll, erfährt bei ihrer Ankunft in London, dass das nur ein Vorwand war, um Poppys Eltern zu beruhigen. Tante Dot, eine ehemalige Schauspielerin, und ihre Freundin Grace Wilson, die vor dem Krieg zu einem Kreis streitbarer Suffragetten gehörten, ermuntern Poppy stattdessen, sich nach einer beruflichen Tätigkeit umzusehen und auf eigenen Füßen zu stehen. Und siehe da, sie bekommt die Stelle als Assistentin des kleinwüchsigen Chefredakteurs der Globe Mail.

Eigentlich soll Poppy das Büro des Redakteurs entrümpeln und dort endlich mal für Ordnung sorgen. Stattdessen findet sie sich, schneller als sie Hatschi sagen kann, in rasante und nicht ungefährliche Ermittlungen verwickelt, die sich um Skandale in höchsten Kreisen drehen, um korrupte Polizisten und eine adlige Tochter, die zu Unrecht in einem „mental asylum“ weggesperrt wurde.

Ist die Charakterzeichnung auch nicht gerade subtil, so machen dies Tempo und vor allem Zeitkolorit wieder wett. In einem aufregenden Jazzclub trinkt Poppy das erste Mal Champagner. Eine aufstrebende Schauspielerin am Old Vic wird bald zu Poppys bester Freundin. Und der Fotoreporter Daniel ist – wie könnte es anders sein – schon von der ersten Begegnung an ganz reizend und immer, wenn Not am Mann ist, zur Stelle.

Doch vor allem habe ich viel gelernt und nebenbei noch weiter recherchiert, was die britische Frauenbewegung Anfang des letzten Jahrhunderts anging. Allein dafür lohnt es sich schon, diesen Krimi zu lesen. Flotte Unterhaltung mit Mehrwert. Ob man nun auch die fünf Folgebände lesen muss, steht vielleicht auf einem anderen Blatt.

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Fabio Andina: Tage mit Felice (OA 2018)

Nein, hier wird keine „Hymne auf das einfache Leben“ gesungen, auch wenn der Klappentext das behauptet. Ändert allerdings nichts daran, dass der Roman des Tessiners Fabio Andina – von Karin Diemerling ins Deutsche übersetzt – unbedingt lesenswert ist und Ein ganzes Leben von Seethaler um Lichtjahre hinter sich lässt.

2019 war Andina (*1972) mit diesem Buch einer der Preisträger des Terra-Nova-Preises der Schweizerischen Schillerstiftung und Theres Roth-Hunkeler hat den Roman gar eine „Komposition der Stille genannt“. Doch um was geht es überhaupt?

Der Ich-Erzähler, ein jüngerer Mann, hat in Lenontica, einem Bergdorf im Tessiner Bleniotal, als Kind immer die Ferien verbracht und ist nun nach längerem Stadtaufenthalt ins Dorf zurückgekehrt, wo er im ehemaligen Ferienhaus seiner Eltern wohnt.

Er hat den 90-jährigen Felice gebeten, ihn einige Zeit bei seinen alltäglichen Verrichtungen begleiten zu dürfen. Und genau das tut er nun acht Tage lang. Er isst und schweigt mit ihm, geht mit ihm in die Dorfbar und Pizzeria, stromert mit ihm durchs Dorf oder fährt mit dem alten Mann in dessen Suzuki hinab ins Tal. Meist müssen sie das Auto aber erst anschieben, denn die Batterie ist defekt.

Der alte Felice, der früher als Maurer gearbeitet hat, wohnt immer noch in dem Haus, in dem er geboren wurde. Jeder Morgen beginnt damit, dass der jüngere Mann irgendwann zwischen fünf und halb sechs hinüber zu Felices Haus geht.

Ich betrete den Garten, und da taucht er auf. Eingerahmt vom offenen Fenster steht er da, ein Brustbild, das Hemd offen, zwei Gläser Joghurt in der Hand und weitere auf dem Fenstersims. Ich sehe ihn an. Er sieht mich an. Es ist ein Augenblick, der sich mir wie ein Gemälde einprägt. (S. 45)

Sie frühstücken und anschließend steigen sie eine Stunde den Berg hoch, denn schon seit Jahrzehnten, seit seiner Rückkehr aus dem Zweiten Weltkrieg, in dem es ihn bis nach Moskau verschlagen hatte, nimmt Felice ein kurzes Bad in einer Gumpe. Ein Ritual sommers wie winters, auch bei minus 6 Grad. Da bleibt dem jungen Mann nichts anderes übrig als mitzutun.

Jeder und jede im Dorf kennt alle anderen; man weiß, wer mit wem verwandt ist und wo und wie das Schicksal schon zugeschlagen hat. Der unausstehliche Wilderer Brenno beispielsweise, der viel zu viel säuft, hat seine Seele verloren, als vor zehn Jahren seine zwei kleinen Töchter an einer Lungenentzündung gestorben sind.

Im Dorf kennt man sich, hilft einander, wenn es darauf ankommt, und geht sich auch mal kräftig auf die Nerven, akzeptiert aber auch, dass nicht jeder sein Leben nach gängigen Vorstellungen „optimieren“ kann oder will.

Hinten in der Gasse, bei der Kurve vor meinem Haus, taucht Floro auf. Fast ein Meter neunzig, Bart und Haare blond, lang und ungepflegt. Spindeldürr und ganz in Schwarz gekleidet, wie immer alles zwei oder drei Nummern zu klein. […] Gelegenheitsarbeiter, wenn es ihm passt, denn mir reicht das bisschen, was ich zum Essen und für meine Zigaretten brauche, erwidert er denen, die ihn einen Faulpelz nennen. […] Einzelkind und mit zehn Jahren Waise geworden. Seine Eltern sind bei einem Autounfall zwei Serpentinen unterhalb des Dorfes gestorben, im späten November von der vereisten Straße abgekommen. Er ist von den Großeltern und seinen Onkeln und Tanten aufgezogen worden. Junggeselle, vielseitiger Musiker, blind wie ein Maulwurf. Trägt aber keine Brille, weil er sowieso nicht gern Bücher liest, wie er sagt. (S. 35)

Ein anderes wiederkehrendes Element der Tage ist der Tauschhandel, der im Dorf betrieben wird. Man bringt der Nachbarin Pilze, tauscht ihre Gasflasche aus und bekommt dafür von ihr frische Eier. Jeder hat etwas, das einem anderen von Nutzen sein kann. Man schaut, dass man der alten Frau nebenan den Schnee schippt und Salz für sie streut, damit sie sich nicht noch einmal das Handgelenk bricht.

Das Ganze passiert oft still, manchmal bringt man etwas vorbei, isst sogar zusammen und hat hinterher kaum drei Worte miteinander gewechselt. Lauter und redseliger wird es nur in der Bar, wo auch reichlich dem Alkohol zugesprochen wird. Über die Wirtin Candida, 27, heißt es:

Eine attraktive, natürliche junge Frau mit kurz angebundener Art. Tolle Kurven und standfest wie ein Nussbaum. Anschauen aber nicht anfassen, denn sie kann mit einem Fausthieb mal eben ein Kalb niederstrecken. (S. 66)

Die Moderne mit Handys, Fitnessstudios und Einkaufsrummel liegt weiter unten im Tal oder meldet sich höchstens schon mal in Iron Maiden-Sweatshirts, die die Jugendlichen tragen, damit hat der alte Felice nichts zu schaffen. Er benötigt weder Telefon, Radio noch Fernsehgerät.

Er hat noch nicht einmal einen Briefkasten. Die Postbotin Alfonsa bringt ihm seine wenigen Briefe persönlich oder legt sie mit einem Stein beschwert auf die Bank oder bei Regen drinnen auf den Tisch, denn die Tür ist immer offen. (S. 40)

Doch auch hier ändern sich die Zeiten, hatten früher fast alle Familien Landwirtschaft, gibt es heute nur noch einen Milchbauern im Dorf. Die Gletscher schmelzen, Arbeit für die jungen Leute gibt es eher unten im Tal.

Mit der Kirche hat Felice nichts am Hut, hat Gott doch seine kindlichen Gebete nicht erhört, als sein Vater von einem tollwütigen Hund gebissen wurde und daran zugrunde ging. Als der kleine Felice das dem Priester vorgehalten hat, wurde er für seine Unbotmäßigkeit noch geohrfeigt. Seine Moral ist einfach:

Die Leute achten und akzeptieren wie sie sind und basta. (S. 56)

Die Zurückgenommenheit, mit der die Geschichte erzählt wird, ist wunderbar. Kein Kitsch, keine Verklärung eines kargen und arbeitsamen Lebens, zu dem wir nicht einfach so zurückkehren könnten – und so ein Keller voller Spinnen wie in Felices Haus wäre mein Alptraum -, aber gerade in der Schlichtheit und Nüchternheit der Schilderung ist der Roman sehr eindrücklich. Selbst der fremdländische Brief, den er bekommt und der ihn zu merkwürdigen Anschaffungen veranlasst, bringt keinerlei Unruhe in Felices Alltag.

Felice ist mit sich im Reinen. Er ist so unzersplittert, genügsam und ganz bei sich, weiß, was jeweils zu tun ist, beruhigt den kläffenden Hund, der angeleint vor einem Kaufhaus wartet, und wird dafür von der Hundebesitzerin als potenzieller Hundedieb beschimpft. Sich da auf Erwiderungen einzulassen wären verschwendete Worte. Und mit denen ist er ohnehin sparsam.

Er vergeudet nichts und erntet die Feigen in einem Garten, um den sich niemand kümmert. Selbst die Apfelreste von einem Restaurantbesuch nimmt er mit nach Hause, um sie auf den Kompost zu tun. In seinem Haus gibt es nur die allernotwendigsten Möbel, keinerlei Zierrat, keine Decke auf dem Tisch und von der Decke hängen Glühlampen und doch hat er alles, was er braucht.

Felice, sagt Duska. Warum ist immer nie was in deinem Haus hier? Felice hört auf, die Pasta umzurühren, legt die  Gabel ab, denkt kurz nach und sagt dann, wisst ihr, warum? Weil ich schon so viele Jahre hier wohne. (S. 168)

Aber aus seinem wohlbestellten Garten und seiner Speisekammer kann Felice immer eine Tüte füllen, um sie jemandem mitzubringen.

Die Besprechung im Deutschlandfunk entlässt ihre Leser*innen mit den Fragen:

Was haben die Tage mit dem Erzähler gemacht? Wir erfahren es nicht. Und was mit uns? Was ist das Wesentliche? Genug zu essen, eine warme Stube, ein wenig Gesellschaft, ein Buch?

Hier gibt es einen Artikel über den für Touristen extra angelegten Wanderweg zu Felices Gumpe und hier den Spiegel-Artikel zu Autor und Dorf.

 

Jörg Magenau: Christa Wolf – Eine Biografie (2013)

Diese Biografie von Magenau zu Christa Wolf ist ganz großartig, und zwar unabhängig davon, wie gut man sich im Gesamtwerk der Schriftstellerin auskennt. Manche Biografien und Autobiografien verdanken ihren Reiz zumindest u. a. den Anekdoten, den Kleinigkeiten, dem Ausleuchten der Beziehungen, die die Hauptperson mit anderen Menschen hat.

Doch Magenau hat hier einen anderen Ansatz gewählt und Wolfs Leben (1929 – 2011) konsequent im Hinblick auf ihre politische und schriftstellerische Entwicklung in der DDR und später nach dem Mauerfall beleuchtet. Es ist gleichermaßen spannend und aufschlussreich, diesen Weg zu verfolgen, der von der geradezu verblendet-unkritischen Anhängerin des Sozialismus und kurzzeitigen Tätigkeit als IM bis hin zu ihrer politischen Ernüchterung führt, dem Selbst-Bespitzelt- und Zensiertwerden und letztlich ihrer enttäuschten Hoffnung, nach dem Fall der Mauer doch noch einen menschenfreundlichen Sozialismus auf dem Boden der DDR aufzubauen.

Man erfährt nicht nur viel über die Funktionsweise der DDR, die komplizierten Zensurregelungen und das geradezu familiäre Ausloten dessen, was gerade noch öffentlich gesagt und geschrieben werden durfte, sondern auch bezüglich der sich allmählich verändernden poetischen Haltung der Autorin. Genauso wird das Geflecht an Freundschaften zu anderen Künstlern und SchriftstellerInnen aufgedröselt. Und natürlich ihre vielen, vielen Auslandsreisen, ein Privileg, das die Wolfs weidlich genutzt haben.

‘Prosa schafft Menschen, im doppelten Sinn. Sie baut tödliche Vereinfachungen ab, indem sie die Möglichkeiten vorführt, auf menschliche Weise zu existieren. (…) Prosa kann die Grenzen unseres Wissens über uns selbst weiter hinausschieben. Sie hält die Erinnerung an eine Zukunft in uns wach, von der wir uns bei Strafe unseres Untergangs nicht lossagen dürfen. Sie unterstützt die Subjektwerdung des Menschen….‘

Aus: Christa Wolf: Lesen und Schreiben, 1968; zitiert nach: Jörg Magenau: Christa Wolf: Eine Biografie, Rowohlt, überarbeitete und erweiterte Neuausgabe 2013, S. 220

Der Wandel in der Rezeption der Autorin, die zunächst im Westen umjubelt wurde und sich nach der Wende plötzlich als angepasster DDR-Schreiberling beschimpfen lassen musste, wird ebenfalls gründlich und mit vielerlei Quellenmaterial untersucht und belegt. Mir gefiel, dass Magenau dabei auch zu eigenen Einschätzungen gekommen ist und sich nicht hinter einer Pseudo-Objektivität versteckt.

Das einzige, was ich vielleicht doch ein ganz klein wenig vermisst habe, war das Ausleuchten der jahrzehntelangen Ehe der Wolfs, das Familienleben, dessen nicht zu unterschätzende Bedeutung zwar konstatiert wird, dem aber nicht näher nachgegangen wird. Da bleibt die Biografie diskret.

Ende vom Lied: Ich habe mir – Magenaus Biografie ist schuld – vier weitere Bücher von und zu Christa Wolf bestellt.

‚… Die reine Werkkritik ist oft eine Fehlentwicklung: die Kritiker nehmen ein Buch her wie ein Objekt – so wie die Naturwissenschaftler irgendein zu untersuchendes Objekt. Aber gerade dieser Wissenschaftsbegriff ist auf Literatur ganz sicher nicht anzuwenden. Wenn also die Kritiker sich nicht entschließen können, die Subjektivität, die in dem Buch sich ausdrückt, mit in ihre Betrachtungen einzubeziehen, und sich selbst dazu in irgendein Verhältnis setzen, und zwar offen, dann wird das immer eine verklemmte Sache sein.‘

Aus: Ein Gespräch mit Christa und Gerhard Wolf, 1983, Gesammelte Werke VIII, S. 307 ff; zitiert nach: Jörg Magenau: Christa Wolf: Eine Biografie, Rowohlt, überarbeitete und erweiterte Neuausgabe 2013, S. 70

Elizabeth Bowen: The Hotel (1923)

She frowned at her own reflection: Was this what all these people really saw when they looked at her? She was accustomed to stare at people as from a point of vantage, forgetting she too had a face. They had thoughts, too (with these she often forgot to credit them); did they also think as they looked at oneself? (S. 23)

Bei The Hotel handelt es sich um den ein wenig spröden Debütroman der irischen Schriftstellerin Elizabeth Bowen (1899-1973), die u. a. mit Virginia Woolf befreundet war.

In einem Hotel an der italienischen Riviera verbringen einige britische Touristen zum Teil mehrere Wochen, wobei wir sie bei ihren Versuchen begleiten, die Zeit gepflegt und oft genug auch gelangweilt herumzubringen. Sie spielen Tennis, zeichnen ein wenig, beobachten einander, picknicken, gehen in die nächstgelegenen Cafés, tratschen, sind auf Brautschau und pflegen ihre Illusionen, wobei der kurzzeitige Ausfall des Hotelaufzugs für einige ein Ärgernis von unfasslicher Tragweite darstellt.

Einzelne halten sich für etwas Besseres und blicken auf die italienischen Angestellten des Hotels herab, als befände man sich höchstpersönlich im Dienste des Empires. Ältere verheiratete Männer träumen davon, noch einmal mit einer ganz jungen Frau ein Glück zu erleben. Und die zwei adligen Mrs und Miss Pinkerton sind einer Ohnmacht nahe, als ein Neuankömmling, Pfarrer Milton, in Unkenntnis der hotelinternen Absprachen, es wagt, ihr Bad und sogar ihre Badeschwämme zu benutzen.

Sleep, the uneasy sleep of daylight, had today been the refuge of many, for cold rain fell ceaselessly past the windows. It was a transparent rain without mist, like summer rain in England, through which trees and buildings for a great distance could be seen distinctly in a Japanese conventionality and flatness. Leaves and long palm-fonds shone and trickled. Curtailed in this pale gloom, the Hotel seemed permeated by a sense of the rain‘s despairing persistency, against which the reasonable conviction of visitors that the sun, bound by contract with the locality, must soon appear again put up cold walls around around the inward emptiness. In many rooms the tick of the travelling clocks, the stutter of rain along the balconies, were being listened to attentively. (S. 54)

Meine ursprüngliche Hoffnung, dass gerade das Gespinst an Verbindungen, zu denen so ein längerer Hotelaufenthalt doch führen könnte, sich als interessant erweist, erfüllt sich nicht. Stattdessen geht es immer ausschließlicher um Sydney, eine kluge junge Frau, die – sicherlich im Gegensatz zu den Gepflogenheiten der damaligen Zeit – studiert und nun der Einladung gefolgt ist, ihre ältere Cousine Tessa an die Riviera zu begleiten.

Sydney verbringt viel Zeit mit der von ihr verehrten, weltgewandten, ca. 40-jährigen Mrs Kerr, die sich im Laufe der Handlung als ausgesprochen manipulativ erweist. Die Freundschaft der beiden wird von den anderen Hotelgästen kritisch beäugt und als problematisch, ja als „unhealthy“ wahrgenommen. Doch als ihr 20-jähriger Sohn überraschend zu Besuch kommt, lässt Mrs Kerr Sydney schnöde fallen, vielleicht auch, weil sie sich ihrer Macht über Sydney zu sicher ist. Sydney ist daraufhin tief verletzt und desorientiert, was wiederum gravierende Folgen auch für weitere Hotelgäste hat.

Das Ganze wirkt klug beobachtet und wird nun nüchtern, distanziert und in langen Sätzen erzählt, ein wenig so, als ob man Insekten seziert. An keiner der Figuren habe ich wirklich Anteil genommen, was aber neben der Erzählweise auch daran liegen könnte, dass sich die meisten der ProtagonistInnen schon lange selbst abhanden gekommen sind, geht es doch vor allem um das Aufrechterhalten der Fassaden und darum, der Einsamkeit zu entfliehen.

As winter comes on with those long evenings one begins to feel hardly human, sitting evening after evening in an empty room. One can‘t always be going out or visiting people or inviting people to come to one. If I shut my drawing-room door, I begin to feel restless at once; it feels so unnatural shutting oneself in with nobody. If I open it, one hears the servants laughing, or something to worry one. I am fond of reading, but I always begin to feel that books are so bad; then of course I realize, well, it‘s not fair, is it, to expect a book to take the place of human society? […] Once I sat with the door open and, believe me, I could hear four different clocks ticking – I counted them – in different parts of the flat. It‘s not, of course, that I‘m nervous, but I really begin to feel – if you‘ll understand my saying anything so extraordinary – as if I didn‘t exist. If somebody does come to the door or the telephone does ring, I‘m almost surprised to find I‘m still there. One would go mad if one were not able to get abroad. (S. 63)

Die englische Wikipedia schreibt:

Bowen was greatly interested in „life with the lid on and what happens when the lid comes off“, in the innocence of orderly life, and in the eventual, irrepressible forces that transform experience.

Hier noch ein interessanter Blog-Eintrag zum Roman und Elizabeth Bowen.

L. M. Montgomery: Anne of Green Gables (1908)

‚I‘m so sorry for people who live in lands where there are no Mayflowers,‘ said Anne. ‚Diane says perhaps they have something better, but there couldn‘t be anything better than Mayflowers, could there, Marilla? And Diana says if they don‘t know what they are like they don‘t miss them. But I think that is the saddest thing of all. …‘ (S. 132)

Die Erstausgabe dieses kanadischen (Jugendbuch-)Klassikers von Lucy Maud Montgomery (1874 – 1942) erschien 1908.

Montgomery, deren eigenes Leben leider keineswegs so sonnig verlief wie das ihrer berühmten Protagonistin, hatte schon als ungefähr Zwanzigjährige die Grundidee zu  Anne of Green Gables:

Elderly couple apply to orphan  asylum for a boy. By mistake a girl is sent them. (Montgomery in einem Tagebucheintrag vom 16. August 1907, S. 284)

1906 war der Roman fertig, doch kein Verlag wollte ihn veröffentlichen. Es hagelte Absagen von vier wichtigen amerikanischen Verlagen und das Buch verschwand zunächst in der Schublade. Erst Page Co. nahm das Manuskript an und knebelte die unerfahrene Montgomery mit unrechtmäßigen Verträgen und verkaufte sogar Rechte, die ihnen die Autorin nie überlassen hatte. Die Keimzelle für spätere, lange Rechtsstreitigkeiten vor Gericht.

Zurück zum Roman: Im Mittelpunkt steht die liebenswerte, elfjährige Vollwaise Anne Shirley, die von einem älteren Geschwisterpaar, der herben Marilla und dem schüchternen und stillen Matthew Cuthbert, adoptiert wird, das auf dem Bauernhof Green Gables. Eigentlich hatten sie einen Jungen aus dem Waisenhaus haben wollen, der später dann auch auf dem Hof ordentlich hätte mit anpacken können.

Stattdessen landet aufgrund eines Missverständnisses Anne Shirley bei ihnen, ein zerstreuter Wildfang, naturverbunden, klug, lerneifrig und zur Freundschaft begabt. Aufgrund ihrer Verträumtheit und Impulsivität gerät Anne immer wieder in arge Schwierigkeiten und die arme Marilla weiß sich angesichts Annes quasi nie versiegenden Redeflusses manchmal nicht anders zu helfen, als ihr ein strenges Redeverbot zu erteilen. Nebenbei bemerkt: Die Figur der Marilla macht für Margaret Atwood das Buch gerade auch für erwachsene LeserInnen interessant.

I cast ‚moral‘ and ‚Sunday school‘ ideals to the winds and made my ‚Anne‘ a real human girl. Many of my own childhood experiences and dreams were worked up into its chapters. […] There is plenty of incident in it but after all it must stand or fall by ‚Anne‘. She is the book. (Montgomery in einem Tagebucheintrag vom 16. August 1907, S. 284)

Und es ist Montgomery wirklich wunderbar gelungen, „a real human girl“ zu schildern. Nichts Süßliches, kein didaktischer Zeigefinger, stattdessen sagt Anne ehrlich, was sie denkt und empfindet, und ihr kindliches Leiden an peinlicher oder altmodischer Kleidung, ihre Loyalität, die Aufregungen in der Schule, ihr Sinn für Natur und für Schönheit, alles wird mit einem so unverstellten Blick auf das Empfinden eines sensiblen Mädchens erzählt, dass das Buch auch nach über 100 Jahren unglaublich frisch wirkt.

I did not write Green Gables for children. (S. 293)

Das Buch machte Montgomery auf einen Schlag bekannt. Es dauerte nicht lange, bis Folgebände und erste Übersetzungen erschienen. Verfilmt wurde das Buch natürlich auch. Die Schauplätze ihrer Romane auf P.E.I (Prince Edward Island), der kleinsten der kanadischen Provinzen, wurden zu literarischen (und touristisch ausgeschlachteten) Pilgerstätten, die besonders bei japanischen Touristen beliebt sind.

‘… I wouldn‘t want to be [a Christian] like Mr. Superintendent Bell.‘ ‚It‘s very naughty of you to speak so about Mr. Bell,‘ said Marilla severely. ‚Mr. Bell is a real good man.‘ ‚Oh, of course he‘s good,‘ agreed Anne, ‚but he doesn‘t seem to get any comfort out of it….‘ (S. 140)

Fußnote: Die ausgezeichnete und umfangreiche Norton Critical Edition gibt nicht nur einen guten Überblick zu diversen Aspekten der Entstehung, Wirkung und Rezeption, sondern bietet auch reichhaltiges Quellenmaterial, zum Beispiel Ausschnitte aus L. M. Montgomerys Tagebüchern, in denen sie beispielsweise einander komplett widersprüchliche Kritiken auflistet, was doch sehr hübsch zeigt, dass eben auch professionelle Kritiker oftmals nicht viel mehr als Geschmacksurteile abgeben.

One of the most charming girls in modern fiction.

Anne is overdrawn and something of a bore. (S. 293)

Halten wir uns also an Mark Twain, der Montgomery’s Anne als „the dearest and most moving and delightful child since the immortal Alice“ bezeichnet haben soll.

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Christa Wolf: Sommerstück (1989)

Doch, doch auf buchpost wird auch noch gelesen.

Heute geht es um das 1989 erschienene Sommerstück von Christa Wolf (1929-2011). Ende der Siebziger hatte sie an der Arbeit zu diesem Buch begonnen, doch erst 1989 gab sie den Text – nach Überarbeitung – zur Veröffentlichung frei.

Es geht um einen Jahrhundertsommer Mitte der siebziger Jahre, bei dem sich nach und nach immer weitere befreundete Künstler und SchriftstellerInnen in und um ein Dorf in Mecklenburg ansiedeln, gemeinsam streiten, einander besuchen, ihre Häuser instandsetzen, nach alten Möbeln in den umliegenden Dörfern suchen und die Abende und Nächte wieder gemeinsam bei Wein und gutem Essen beschließen.

Damals, so reden wir heute, haben wir gelebt. Wenn wir uns fragen, warum der Sommer in der Erinnerung einmalig erscheint und endlos, fällt es uns schwer, den nüchternen Ton zu treffen, der allein den seltenen Erscheinungen angemessen ist, denen das Leben uns aussetzt. (.…] Heute, da die Endlichkeit der Wunder feststeht, der Zauber sich verflüchtigt hat, der uns beieinander und am Leben hielt – ein Satz, eine Formel, ein Glauben, die uns banden, deren Schwinden uns in vereinzelte Wesen verwandelte, denen es freisteht, zu bleiben oder zu gehen: Heute scheinen wir keine stärkere, schmerzlichere Sehnsucht zu kennen als die, die Tage und Nächte jenes Sommers in uns lebendig zu erhalten. (S. 9/10)

Hinter der Ich-Erzählerin Ellen und ihrem Mann Jan verbergen sich Christa und Gerhard Wolf und auch andere wichtige Personen wie Helga Schubert, die an Krebs erkrankte Maxie Wander oder Sarah Kirsch mit ihrem Sohn Moritz tauchen unter Pseudonym auf.

Der Freundeskreis schwelgt in der ländlichen Idylle, erfreut sich an blühenden Obstbäumen, am Säen und Ernten, an den Wegen in der Landschaft und seinen unzähligen Streitgesprächen und den Vorbereitungen des Essens. Gleichzeitig lässt Wolf keinen Zweifel daran, dass es – trotz des ausgekosteten Inselgefühls – keine vollkommene Rückkehr in eine unschuldige Zeit geben kann.

Höfe verfallen und ihr Freund Antonis schwatzt (und kauft) den Bauern alte, wertvolle Möbel ab. Der Dorfpolizist nutzt seine Macht als Vertreter der „Staatsmacht“ aus. Es gibt Tierquäler, die bewusst eine Katze verhungern lassen, oder Vandalen, die in leerstehende Häuser eindringen und aus Spaß die alten Kachelöfen zerstören. Und auf den Dorffesten, bei denen sie als Städter und Akademiker doch nie wirklich dazu gehören, ist für die Männer des Dorfes nichts wichtiger, als sich hemmungslos zu besaufen.

Es fehlt nicht an Hinweisen, dass dieser Sommer der Vergangenheit angehört.

Etwas würde sich verändern, heute sagen wir alle, wir hätten gewußt, daß es so nicht bleiben konnte. Die Häuser sind abgebrannt. Die Freundschaften sind lockerer geworden, als hätten sie auf ein Signal gewartet. Der Schrei, der uns in der Kehle saß, ist nicht ausgestoßen worden. (S. 135)

Außerdem bringt das Wissen, dass ihnen in der DDR doch Grenzen gesetzt sind, dass sie vielleicht gar nicht gebraucht werden, ihre Meinung nicht gehört, ja totgeschwiegen wird, und die Befürchtung,  sich möglicherweise nicht deutlich genug positionieren, einen melancholischen, manchmal auch selbstkritischen Ton in das Ganze.

Die Freunde diskutieren, ob man sich vielleicht gar nur deshalb in eine ländliche Umgebung zurückgezogen habe, da diese

einem nicht mehr melden konnte, wieweit man sich durch Selbstaufgabe verfehlte (S. 105)

Sei man so unbemerkt – in der Unfähigkeit zu handeln, im Zurücknehmen der eigenen Pläne und Entwürfe – schuldig geworden?

Plötzlich rührte sie [eine Trompetenmelodie] die Vergangenheit in ihr auf, ein Heimweh fast bis zu Tränen. Was ist mit mir los, fragte sie sich. Ein Gefühl, das sie vergessen hatte. Was schmerzt mich eigentlich. Daß ich mich gewöhnt habe, wie alle, niemals genau das zu tun, was ich tun will. Niemals genau das zu sagen, was ich sagen will. So daß ich wahrscheinlich, ohne es zu bemerken, auch nicht mehr denke, was ich denken will. Oder denken sollte. (S. 109)

Schließlich wird sich die SED 1976 weigern, die Resolution von diversen DDR-SchriftstellerInnen wie Stephan Hermlin, Sarah Kirsch, Christa Wolf, Gerhard Wolf, Volker Braun, Jurek Becker u.a. zu veröffentlichen, in der sie an die DDR-Führung appellierten, die Ausbürgerung Wolf Biermanns zu „überdenken“.

Sommerstück hat es mir zunächst nicht einfach gemacht. Die Verschlüsselung durch Pseudonyme, die aber wohl für Kenner der damaligen Freundes- und Literaturszene rasch zu entwirren sind, und vor allem das an ein Tagebuch angelehnte Schreiben, bei dem man keinerlei Hinweise oder Einordnungshilfen zu Namen, Orten und Gegebenheiten bekommt, gaben mir das Gefühl, unfreiwillig ein Puzzle legen zu sollen.

Gleichzeitig werden immer wieder die FreundInnen von damals angesprochen, ja geradezu beschworen: „Erinnert ihr euch?“ Das erweckt durchaus den Eindruck, ein persönliches, ein exklusives Buch zu lesen, das eigentlich gar nicht für Außenstehende bestimmt ist.

Aus irgendeinem Zusammenhang, der mir verlorenging, drang das Wort ‚Bewährung’ in mich ein. Ich habe keine Bewährung mehr. Was ich mache oder nicht mache, gilt. Solche Sätze denkt man, wenn der Schreck über sie nicht mehr unerträglich ist. (S. 218)

Dennoch, und es ist ein großes Dennoch: Nachdem ich mich erst einmal eingelesen, keinen Plot oder Handlungsfaden mehr gesucht und mich auf die Zeitsprünge und Andeutungen in der Erinnerung der Erzählerin eingelassen habe, haben das Werk und die Sprache, in der es erzählt wird, einen unwiderstehlichen Sog ausgeübt, nimmt Sommerstück doch das ganze Menschsein in den Blick, sei es unser Sich-Einrichten in zerstobenen Illusionen, die Erinnerungen an einen besonderen Sommer, das Eingestehen des Schuldigwerdens als Eltern, das Leben auf dem Land oder die kleinen und großen Nadelstiche der Freundschaft und schließlich unsere Endlichkeit.

Und allein für Stellen wie diese hat sich für mich die Lektüre schon gelohnt:

Auch die Zeit lief anders. Allmählich erst, wenn wir lange genug geblieben waren, erfuhren wir das neue Zeitmaß am eigenen Leib, nicht ohne ihm Widerstand entgegenzusetzen, denn die Befürchtung, etwas Wichtiges, das Wichtigste zu versäumen, an Tagen, an denen niemand auf uns einstürzt, nichts geschieht, nur die Färbung des Himmels sich ändert und die Stille zum Abend hin zunimmt – diese Angst ist uns tief eingeprägt. (S. 81)

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Fundstück von Harriet Köhler

Wer in die Fremde fährt, findet sich dort nicht, sondern hat sich selbst im Gepäck – das hätten wir eigentlich wissen müssen. […] Wir entkommen uns nicht, egal wie weit wir wegfahren. Warum nur erhoffen wir uns genau das dann doch immer wieder? Warum bleiben wir nicht einfach zu Hause und machen das Beste aus dem, was wir sind?

aus: Harriet Köhler: Gebrauchsanweisung fürs Daheimbleiben, Piper, München 2019, S. 27

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Leoni Hellmayr: Der Mann, der Troja erfand – Das abenteuerliche Leben des Heinrich Schliemann (2021)

2021 erschien die Biografie Der Mann, der Troja erfand von Leonie Hellmayr. Der Untertitel Das abenteuerliche Leben des Heinrich Schliemann ist wahrlich mehr als passend. Mir selbst waren die Stationen des späteren Troja-Entdeckers bis dahin unbekannt: Schliemann (1822-1890) stammte aus eher zerrütteten Verhältnissen; sein Vater, ein Pfarrer, verlor seine Stelle, da er mit Vorliebe Affären mit den Dienstbotinnen hatte, woraufhin nach dem Tod der Mutter der kleine Heinrich und seine Geschwister auf verschiedene Verwandte aufgeteilt wurden.

Es folgten Schulbesuch, Kaufmannsausbildung, Aufstieg zum märchenhaft reichen Kaufmann in Petersburg, erste Ehe mit einer Russin, zwei Kinder, Weltreisen, Vermehrung des Reichtums in Amerika, Vertiefung seiner Fremdsprachenkenntnisse, weitere Reisen, ergaunerte Scheidung und schließlich die Eheschließung mit ca. 47 Jahren mit der 17-jährigen schönen Griechin Sophia, die vermutlich von ihrer Familie gedrängt wurde, nach nur drei Wochen Bekanntschaft diesen steinreichen Mann zu ehelichen. Mit ihr zwei weitere Kinder, Agamemnon und Andromache. Auch alle Hausbediensteten bekamen von Schliemann Namen aus den Homerischen Epen verpasst.

Dann jahrzehntelange Arbeit als Archäologe und Ausgrabung von Troja (siehe  dazu den Artikel zur Troja-Debatte), bei der auch schon mal die ein oder andere alte Vase zu Bruch ging, feines und behutsames Arbeiten war zunächst nicht so seins. Arbeit als Autor. Die illegale Ausfuhr von antiken Kunstschätzen (der sogenannte Schatz des Priamos) 1873 an den osmanischen Behörden vorbei, Grabungen in Mykene, Auseinandersetzungen mit Kollegen, Anfeindungen und Verehrung gleichermaßen, schließlich seine Jahre in Griechenland als geiziger und herrschsüchtiger Ehemann. Seine Eitelkeit und Größenwahn, als er – da ist er schon eine Berühmtheit – in Ankershagen, dem Dorf seiner Kindheit, einen Monat lang ausspannen will. Er sorgt im Vorfeld dafür, dass in den regionalen Zeitungen folgende Notiz erscheint:

Herr Dr. H. Schliemann-Athen gedenkt am 20. Juni in Ankershagen einzutreffen und im dortigen Pfarrhause einen vierwöchentlichen Aufenthalt zu nehmen, um in stiller ländlicher Zurückgezogenheit von angestrengter Arbeit auszuruhen und Erholung zu suchen. Verwandte, Freunde und Bekannte werden dringend gebeten, auf allen und jeglichen Besuch verzichten zu wollen. (S. 244)

Keine Frage, das ist ein spannendes Leben, das Hellmayr hier auf nur 283 Seiten ausbreitet, das sich stellenweise eher wie ein Roman liest.

An einigen Stellen störte allerdings, dass die Autorin sich zurechtlegt, wie es gewesen sein könnte, was er gedacht oder gesagt haben mag. Doch vor allem hätte mir die Biografie kritischer sein dürfen. Was dachten seine Frau, seine Kinder, seine Freunde und Kollegen über ihn, der sich sogar mit langjährigen Freunden überwarf, nur weil die Tischordnung bei einem offiziellen Essen nicht so war, wie sie angeblich seiner Bedeutung zukam? Wie stümperhaft waren seine Grabungsmethoden? Wie sah er die Einheimischen?

Das schimmert nur sehr dezent ab und an durch, doch der Selbsteinschätzung Schliemanns wird – auch perspektivisch – der größte Raum eingeräumt. Diese zwei Schwachstellen kann man beispielsweise an folgendem Zitat sehen, in dem es um Schliemanns Sicht auf seine Frau Sophia geht. Kein Wort davon, ob ihr „Kränkeln“ vielleicht psychosomatische Gründe hatte, und das Wort „Unfolgsamkeit“ lässt mich auch eher an einen Dackel denken:

Aber in vermutlich ebenso vielen Momenten hat er sich über ihre anderen Wesensmerkmale – ihr Kränkeln, ihre Trägheit, vor allem aber ihre Unfolgsamkeit – in höchstem Maße geärgert. (S. 270)

Fundstück von Christina Hardyment

Christina Hardyment war schon einmal mit ihrem Buch Heidi’s Alp Thema hier auf buchpost. Und nun schmökere mich gerade durch ihr Buch Behind the Scenes – Domestic Arrangements in Historic Houses, in dem sie mit ansteckender Begeisterung und Neugier den architektonischen und haushälterischen Gegebenheiten in Landhäusern der britischen Oberklasse nachforscht.

Auf Seite 23 bin ich auf einen Absatz gestoßen, den ich äußerst denkwürdig finde:

According to Robert Kerr, author of the influential The Gentleman‘s House (1864), ‚Every servant, every occupation, every utensil, every fixture should have a right place and no right place but one.‘ Perhaps the ultimate in specialisation was reached at the Scottish House of Kinmel, where one room was set aside entirely for ironing newspapers.

Christina Hardyment: Behind the Scenes – Domestic Arrangements in Historic Houses, The National Trust 1997, S, 23

Eine gute Ergänzung aus der Perspektive einer „kitchen maid“ bietet das Buch Below Stairs (1968) von Margaret Powell.

Elin Wägner: Die Sekretärinnen (OA 1908)

Die Straßenbahn war voller morgendlich blasser und fröstelnder Arbeiter. Als ich sie sah, versuchte ich meine Stimmung durch ein ‚Denk an die ganzen Leute, denen es schlechter geht als dir‘ zu heben. Da ich nicht vor neun Uhr im Büro sein muss, hätte es unglaublich guttun müssen, an die zu denken, die schon um sieben in die Tretmühle müssen, aber das ist wohl nur eine Legende, die sich alte Leute ausgedacht haben, denn der Gedanke an die Sieben-Uhr-Menschen hob meine Stimmung nur unwesentlich. (S. 8)

Das Buch Norrtullsligan der schwedischen Journalistin, Schriftstellerin und Feministin Elin Wägner erschien 1908. Bereits 1910 wurde die erste deutsche Übersetzung von Julia Koppel unter dem Titel Die Liga der Kontorfräulein: eine Erzählung aus Stockholm veröffentlicht. Nun erschien im Ecco Verlag eine Neuübersetzung von Wibke Kuhn.

In sachlichem, kessem Understatement erzählt die 25-jährige Elisabeth von den Nöten und Freuden junger Frauen, die zu Beginn des letzten Jahrhunderts nach Stockholm kamen, um dort beispielsweise als Sekretärinnen sich und manchmal auch noch jüngere Geschwister finanziell durchzubringen. Elisabeth lebt mit drei weiteren Frauen gemeinsam zur Untermiete, doch die Löhne sind karg, sie werden grundsätzlich schlechter als die Männer bezahlt und müssen sich zudem mit sexuellen Belästigungen durch ihre Kollegen und Chefs herumärgern. Dass man sich manchmal sogar in seinen Chef verliebt, macht die Sache nur noch schlimmer, denn der will zwar ein bisschen Spaß haben, aber keinesfalls seine Sekretärin ehelichen.

Und so zerplatzen die Träume wie Seifenblasen, derweil die Frauen sich gegenseitig unterstützen und zusammen feiern, bis politische Fragen (soll man streiken oder nicht) die ein oder andere Freundschaft auf die Probe stellen.

Auch wenn Elisabeth und ihre Freundinnen den Großstadttrubel genießen; viel an kulturellen Möglichkeiten oder Unterhaltung können sie nicht wahrnehmen, dafür haben sie gar kein Geld. 

Ich mochte den Einblick in eine Welt, in der das Recht auf die Berufstätigkeit der Frau erst noch erkämpft werden musste, und den ironisch-saloppen Stil. Dennoch: Lange nachgehallt hat das Buch leider nicht bei mir, dafür waren die Charaktere dann doch nicht nuanciert genug.

Eine weitere Besprechung findet ihr auf Kulturbowle.

Die hübsche neue Hardcover-Ausgabe Die Sekretärinnen aus dem Ecco Verlag mit einem Bild von Hilma af Klint auf dem Cover enthält bedauerlicherweise keinerlei Vor- oder Nachwort, was bei der Bedeutung und dem Lebenslauf dieser Autorin doch etwas verwundert. 

Weitere Bücher auf dem Blog, die sich mit der Thematik ‚Frauen und Berufstätigkeit’ beschäftigen: 

Fundstücke von Patrick Taylor und Betsy Hanson

Jack, always the consummate mimic, declared in the tone of one of the upper classes, ‚Old boy, in this life there will always be a certain amount of shit to be shovelled. I really would urge you to buy a long-handled spade and simply get on with it.‘

Aus: Patrick Taylor: An Irish Country Doctor, 2004, S. 109

When it came right down to it, what other option was there in life? You have to deal. Everyone does. I have my widowhood and my worries about Hans with his failed marriage and delayed music career. Laurel has her string of adjunct jobs. Frieda has her unrequited love for Arnold Wiggins. […] All human beings deal, in one way or another, until they die.

Aus: Betsy Hanson: Always Gardenia, 2018, S. 223

Ilse Helbich: Das Haus (2009)

Nach dem hinreißenden Ein Haus für einen Sommer von Axel Hacke schien mir  Das Haus von Ilse Helbich, der 1923 in Wien geborenen Publizistin, eine passende Folgelektüre.

Helbich kaufte 1985 nach ihrer Scheidung im österreichischen Schönberg auf Kamp die mehrere hundert Jahre alte, ehemalige Poststation und ließ sie nach und nach renovieren, wobei versucht wurde, den ursprünglichen Zustand behutsam wieder herzustellen.

Diesen Umbau und den Prozess des Sich-allmählich-daheim-Fühlens verarbeitet sie in dem autobiografisch gefärbten Buch Das Haus, das 2009 im Droschl Verlag erschienen ist.

Was sie sich wünscht, als sie jung war: Wäre ich ein Tischler, würde es mich reizen, die Anfertigung eines Tisches in allen Schritten zu beschreiben. Es würde sich um einen gewöhnlichen Esstisch handeln, einen soliden, mit einer Hartholzplatte, vielleicht aus Nussbaum, die Messerschnitte, Speck- und Rotweinflecke verträgt, natürlich mit einer Brotlade, und mit festen, ein wenig ausgestellten Tischbeinen, und vielleicht mit einer Querleiste für die müden Füße. Ein gewöhnlicher Esstisch für alle Tage, von dem ich hoffe, dass er noch Kindern und Kindeskindern dienen kann, wenn dann auch verbannt in ein Kellerstübchen oder eine Werkstatt. (S. 5)

Der schmale Band (140 Seiten) ließ mich allerdings insgesamt eher unbefriedigt zurück. Die einzelnen handwerklichen Schritte und Abschnitte bei der Renovierung des heruntergekommenen Gebäudekomplexes interessierten mich nur am Rande, zumal es im ganzen Buch keinerlei Fotos gibt.

Dazu kommt, dass die Erzählerin immer nur von sich in der Sie-Perspektive spricht, was zu einer Distanz führt, die ich oft als arg trocken empfunden habe. Persönliches, wie die Beziehungen zu Kindern und Enkeln, wird weitgehend ausgespart. Stattdessen werden eher die allmählichen Annäherungen an ihre neuen Nachbarn oder die Handwerker in den Blick genommen.

Was mich letztendlich bis zum Schluss bei der Stange gehalten hat, sind einzelne Sätze und Abschnitte gewesen, in der die Erzählerin etwas von ihrem Innenleben preisgibt, die schön und geerdet waren und eine Gelassenheit des Alters ausstrahlten, die mich sehr angesprochen hat.

Die Stunden rinnen, Minuten wie Tage. Die Ewigkeit eine Minute vorm Tod. Alle Schicksale, auch das ihre, nur eingeritzt in die Außenhaut eines Schweigeraumes. Was ist so anders geworden? Sie weiß es nicht. Sie weiß nur, dass die alte Hoffnungslosigkeit zergangen ist, die früher, wenn sie ein Herbstblatt zu Boden taumeln sah, sich eisern in ihr Herz grub und flüsterte: ‚Ende, Ende.‘ – Auch wenn dieses Sterben schön war.
Heute sieht sie lächelnd den Blättern zu, die vogelleicht dahinschweben in heiterem Lassen, und unter der neuen Spärlichkeit des Laubwerks der Himmel immer sichtbarer. (S. 136)

Hier gibt es ein lesenswertes Interview mit der Autorin (ab Seite 2).

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Axel Hacke: Ein Haus für viele Sommer (2022)

Ohne die begeisterte Besprechung auf Kulturbowle wäre Ein Haus für viele Sommer von Axel Hacke vermutlich unbemerkt an mir vorbeigezogen und das wäre jammerschade gewesen.

Obwohl ich nicht einmal zu dem Kreis enthusiastischer Italien-Fans gehöre, ist dieses liebenswürdige und rundherum menschenfreundliche Buch wie ein kleiner Urlaub im Geiste, entschleunigend, sonnig, aber auch berührend, poetisch, informativ, respektvoll dem Gastort gegenüber und dabei herrlich selbstironisch und wunderbar reich an Menschen mit ihren Geschichten. Worum geht‘s?

Der Schwiegervater Axel Hackes (*1956) hat vor 50 Jahren einen alten, schiefen und ständig pflegebedürftigen ehemaligen Wehrturm, den torre, auf der italienischen Insel Elba gekauft und eigenhändig renoviert. Seit ca. 30 Jahren verbringt nun Familie Hacke dort mehrmals im Jahr kürzere und längere Urlaube.

Die Insel ist nicht groß, aber sie hat alles, was eine Insel braucht. (S. 16)

Und wir verfolgen nun, wie das ist, wenn der Ich-Erzähler lernen möchte, nichts zu tun, oder bestimmte Mentalitätsunterschiede navigieren muss, Handwerker braucht oder einem Ziegenhalter klarmachen will, dass dessen Ziegen nicht noch einmal den kompletten Hackeschen Garten kahlfressen dürfen, und ihm gerade noch rechtzeitig einfällt, dass man das Gespräch vielleicht nicht auf konfrontativ-deutsche Art angehen sollte.

Ein paar Tage, nachdem Ziegenhalter Dante tatsächlich bereit gewesen war, den Zaun höher zu machen – wenn auch immer noch nicht hoch genug für Ziegen – steht Hacke dem Ziegenbock gegenüber.

Zwei Tage später bin ich wieder oben und krame in der Hütte herum. Als ich herauskomme, steht auf einmal der Ziegenbock vor mir (…) Ein Ziegenbock ist eine imposante Erscheinung. Große Hörner. Ich bin Städter, ich bin Ziegenböcke nicht so gewöhnt. Ich bin also angemessen beeindruckt und trete den geordneten Rückzug an. Ab in die Hütte, Tür zu. Ja, nun, aber so kann das nicht bleiben. Ich muss etwas unternehmen. Ich schnappe mir den Schrubber, der an der Wand lehnt, öffne die Tür wieder und gehe mit dem erhobenen Putzgerät auf die versammelten Tiere zu. (…) der Bock glotzt mich ungerührt an, als hätte er noch nie einen Deutschen mit einem Schrubber in der Hand gesehen. (S. 93)

Hacke möchte sich aber auch ein Beispiel an den stets hilfsbereiten Nachbarn nehmen, die immer Zeit für ein Schwätzchen haben, egal, ob der Deutsche gerade meint, zu ach so wichtigen Besorgungen unterwegs zu sein.

Dieser Raum ist ein Lager für alte, unverbrauchte Zeit. Und von dieser alten, unverbrauchten Zeit verbrauche ich jetzt ein Viertelstündchen mit Pietro. Wenn dir dieser kleine, überaus freundliche Mann auf die Nerven geht, dann stimmt was mit deinen Nerven nicht, denke ich. (S. 10)

Die Idylle wird geerdet durch alltägliche Widrigkeiten. Wildschweine plündern den Schrebergarten der Familie. Das Haus hat immer mal wieder einen Wasserschaden und die Familie muss ins nächste Hotel flüchten, während die Handwerker dem Problem auf den Grund gehen.

Die Straßen im Dorf sind schmal, die Garage liegt in einem arg ungünstigen Winkel, der einem keinen Platz zum Rangieren lässt, und ist ohnehin nur 8 cm breiter als der Fiat 500. Die Möwen hingegen scheinen die Schutzhülle des Schlauchboots zu lieben und dementsprechend vollgekleckert ist sie am nächsten Morgen. Was aber der Freude an den vielen auf dem Wasser verbrachten Tagen keinen Abbruch tut.

Hier, in diesem kleinen Dorf, lässt sich trefflich nachdenken über das Leben.

Aber mir gefällt der Gedanke, dass alles noch da ist, was hier mal war, und dass nur keiner genau weiß, wo. Auch die Zeit des wuchernden Tourismus wird bestimmt eines Tages vorbei sein. Und was dann? (…) Tausende von Jahren. Und jetzt ist das unser Moment hier: die vielen Geschichten, die überall beginnen, vor meinen Augen, aber sie gehen irgendwohin, und ich habe keine Ahnung, wohin. (S. 123)

Genauso lernen wir aber auch etwas über die Geschichte der Insel, über Hippies und Künstler, Dichter, Forscher und Einzelgänger, über Erzabbau und die Entwicklung des Tourismus. Selbst auf die nervtötend lange Autofahrt von Deutschland nach Elba nimmt Hacke uns mit und wir freuen uns mit ihm, wenn alles wieder gut gegangen ist und er wie stets am ersten Urlaubsmorgen übermüdet mit einem Glas Wein am Küchentisch im Torre sitzt.

Was hat mich von anderen Reisen abgehalten? Bequemlichkeit? Lust an der Gewohnheit? Sparsamkeit? Angst vor dem Unbekannten? Vor der Welt? Provinzialität? Spießigkeit? (S. 33)

Am Ende hat sich für mich die Frage geklärt, warum er in den 30 Jahren, in denen er doch auch die Welt hätte bereisen können, immer wieder „nur“ zu seinem Torre in einem Dorf auf Elba gefahren ist.  

Die Antwort hat nichts oder nur sehr wenig mit Gewohnheit oder gar Spießigkeit zu tun. Wir alle kehrten gern in so ein Dorf zurück, wo man ein – hoffentlich – wohlgelittener Gast ist, der zwar das Stadium des Touristen hinter sich gelassen hat, aber dennoch weiß, was er dem Gastgeber schuldig ist. An einen hellen und warmen Ort, an dem man weder fremdbestimmt ist noch irgendwelchen Zielen hinterherrennt, sondern einfach den lieben langen Tag das tut, was man mag. Ein Ort, der dabei genügend Raum für Alleinsein, Familie, Alltag, Begegnungen, Geschichten und Ausgedachtes bietet.

Vorausgesetzt, man hört sich und den Menschen und ihren Geschichten so aufmerksam zu, wie Axel Hacke das hier getan hat. 

So mache ich es jetzt. Ich lege mich aus. Lasse anbeißen, was immer zum Anbeißen vorbeikommt. Vergeude ein paar Stunden. (S. 146)

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Mark Hodkinson: No one round here reads Tolstoy (2022)

Der Schriftsteller Mark Hodkinson, der Jahrzehnte für die Times und andere Zeitungen und Bücher zu Fußball(mannschaften) und Musik geschrieben hat, gründete den Pomona Verlag, in dem er nicht nur seinen eigenen Debütroman The Last Mad Surge of Youth (2009), sondern auch eine sehr gelobte Salinger-Biografie herausgebracht hat. Doch damit nicht genug, seit diesem Jahr liegt auch seine spannende Autobiografie mit dem vielsagenden Titel No one round here reads Tolstoy vor. 

The walls are closing in. They used to be over there, a few metres away. Now, if I lean over I can touch them. This is what happens when you collect books and store them on big shelves in a small house. The process occurs imperceptibly, similar to the passing of time, where you think little has changed but then see a picture of yourself from a decade ago and sigh, ‘Bloody Hell!‘ I had no idea that 3,500 books (and ever rising) was an especially large number. The same as I thought having one book in my childhood home wasn‘t particularly unusual either. (Vorwort)

Geboren Mitte der sechziger Jahre, wuchs Mark in Rochdale auf, einer Stadt ca. 16 Kilometer nordöstlich von Manchester, in einem Arbeiterhaushalt, in dem es genau ein Buch gab. Die Wahrscheinlichkeit, eines Tages Vielleser, Schriftsteller, Verleger und Besitzer von über 3500 Büchern zu sein, war also gering.

I had succumbed to what Americans call BABLE: Book Accumulation Beyond Life Expectancy. How did I get here? Asked this on a Friday night after a few pints and I‘m looking for a chair to stand on. Appealing for quiet, please. Amid the chest thuds, quiver in my voice, I‘m telling everyone (two pals and the barmaid) that it‘s because I‘m ambitious and hopeful and ever seeking and each new book bears witness to a restless desire, of wanting, needing more, always more. And, and if I were to divest myself of these books would I not be conceding that my time on earth is finite and that I‘m going to die without everything I own? Who of us can defer so meekly to mortality? (S. 13)

Diesen Weg vom Arbeiterkind aus einem Ein-Buch-Haushalt zum stolzen und manchmal trotzigen Besitzer Tausender von Büchern zeichnet Hodkinson nun in 351 Seiten nach. Am Rande sei erwähnt, dass er sicherheitshalber sogar psychologische Beratung in Anspruch nimmt, um herauszufinden, ob und was mit ihm angesichts seiner Sammelwut möglicherweise nicht stimmt. Lisa erklärt ihm:

On one hand, by having such a collection and planning to read all these books, you are making a fantastic statement of hope and revealing an investment in future self, […] Even if you recognise you probably won‘t have time to read them all, you are already forming a relationship with mortality which we all must do at some point in our lives. The snag is the frustration you say you feel that comes with this realisation. This is something you need to deal with and accept. (S. 313)

Marks Elternhaus ist ganz anders als das in Streulicht von Deniz Ohde, obwohl beide aus einem Arbeiterhaushalt kommen. Der Familienzusammenhalt bei den Hodkinsons ist stark, eher bodenständig mit klar verteilten Geschlechterrollen; Tante, Onkel, Großeltern wohnen um die Ecke.

Parenting wasn‘t a complex issue in the 1970s. They didn‘t fret or read self-help books. The definition of a good parent was feeding and clothing your children, keeping them warm, loving them – what more was there to worry about? (S. 19)

An seiner Gesamtschule gilt er manchen Mitschülern als feiner Pinkel, weil seine Eltern nicht getrennt sind. Niemand aus seinem Bekanntenkreis kommt aus einem Akademikerhaushalt oder arbeitet in einem Büro. Seine Eltern

seldom showed tactile affection but their love and loyalty  to me and my sister was constant, absolute. No one I knew owned or played a musical instrument. […] Outside of visiting cafés while on holiday, we never ate out as a family. At home, we had the same meals depending on the day of the week. […] The television was always on. No original artwork was on the walls. […] Dad went to the pub every night. Mum accompanied him to the pub at least once a week. (S. 17-18)

Our house was noisy, busy, messy, neighbours and family passing through (my uncle and aunty lived next door), doors banging, the dog barking, budgie whistling, Mum and Dad bickering, the telly blaring and Elvis crooning everlasting love (S. 27)

Schon als Kind sammelt er Fußballkarten, Kastanien, Bierdeckel, Briefmarken, eben alles, was er in die Hände bekommen kann.

… to this day, I cannot pass a conker (Kastanie) without picking it up and putting it in my pocket. Sunlight reflected in the deep reddish brown of a fresh-from-shell conker is a handful of heaven. (S. 22)

Seine Freunde am Lesen entwickelt Mark vermutlich, als er mehrere Wochen wegen beginnenden Asthmas die Schule versäumt. Seine Schulerfahrungen sind ohnehin eher trübe, Wissensdurst und die Freude am Lernen müssen getarnt werden, damit man nicht in eine Außenseiterrolle gemobbt wird. Die Lehrkräfte desillusioniert, wenig engagiert und wie selbstverständlich davon ausgehend, dass die Kinder allesamt in die Fußstapfen der Eltern treten werden.

Im Elternhaus wird Mark zunächst nicht unterstützt. Den Vater treibt massiv die Sorge um, dass ein Junge, der auch gern mal allein ist und dann noch ständig liest, vermutlich irgendwann schwul wird und folglich keine Freundin findet. Der Vater sieht Lesen vor allem als eine weibliche Beschäftigung an. Männer arbeiten mit den Händen, bauen ein Haus, reparieren Autos, gehen in die Kneipe, sind gesellig und heiraten jung und seine Mutter will ihm tatsächlich lange nicht glauben, dass er eine Brille braucht.

Besonders die Liebe Marks zu seinem Grandad – damit kriegt man mich immer – ist innig und auch deshalb etwas Besonderes, weil der Großvater zeitlebens zum Teil gravierende psychische Probleme hat. Die Spaziergänge mit ihm durch die öden Industrielandschaften gehören für den Enkel zu den wichtigsten Erinnerungen, wird er hier doch von seinem Großvater auf Augenhöhe angesprochen und erhält wichtige Lektionen fürs Leben. Leider kommt Gran, die Großmutter, in diesem Buch viel zu kurz. Die wenigen Szenen mit ihr machen Lust auf nähere Bekanntschaft mit dieser tapferen und loyalen Frau.

Allerdings haben trostlose Schule und sein bildungsfernes Elternhaus den unerwarteten Vorteil, dass Bücher und Musik (Sex Pistols, The Smiths) für den Teenager etwas Cooles und Erstrebenswertes werden, mit denen man – auch bei Gleichgesinnten – seine eigene Identität findet und definiert, eben weil man sie für sich selbst entdeckt, sich unbedarft, aber voller Neugier seine eigenen Pfade anlegen kann.

Nothing was handed down, from either pupils or teachers; I had to find it myself. Maybe, in a world where books, for example, were shared, recommended, deconstructed, they might have become an easy currency and soon felt ordinary, nothing special. Instead, books became crucial in reinforcing my outsider stance, getting me through and forming my personality. (S. 59)

So lehnt er, während er gerade den Punk für sich entdeckt, The Hobbit von Tolkien aus tiefstem Herzen ab, während  Catcher in the Rye von J. D. Salinger und A Kestrel for a Knave von Barry Hines zwei seiner Lebensbücher werden. 

I opened it [Catcher in the Rye] and read the first page. No book has had the same impact since. I was breathless; within the first few paragraphs it felt like reading a letter sent exclusively to me. I flicked through more pages, unable to believe that a novel could be so consistently truthful and personal. I was unsure at first whether I had enough money to buy it. I decided there and then: if I have to, I will steal this book. (S.81)

Hodkinson entdeckt als Jugendlicher Second-Hand-Läden, den Penguin Verlag, Somerset Maugham, D. H. Lawrence und die Leihbücherei. Von da an ist kein Halten mehr. Und irgendwann verblüfft er seinen Berufsberater mit seinem Wunsch, Schriftsteller zu werden. Und seine zweite große Liebe, die Musik, wird ebenfalls immer wichtiger, vor allem, wenn sie auch noch mit filmischen oder literarischen Verweisen gespickt ist. Besonders Morrissey, ebenfalls aus einem Arbeiterhaushalt, wird sein Idol.

Selbst Familienurlaube, die man als Teenager ja nicht unbedingt immer begrüßt, sind für ihn eine Wonne, vorausgesetzt, es regnet.

I could think of nothing more blissful than seven days in a caravan, rain lashing on all sides and a pile of thirty-one books. (S. 125)

Hodkinson verschweigt nicht, dass eine solche Entwicklung auch bei ihm notgedrungen eine Distanzierung zu seinem Elternhaus bedeutete. Schon als Kind wusste er, dass er ein bisschen anders als seine übrige Familie tickt, doch als er als Siebzehnjähriger für seine Journalisten-Ausbildung am College von zu Hause wegziehen muss, ist das für die ganze Familie, ihn eingeschlossen, ein großer und schmerzhafter Schritt.

An Beziehungen gewinnen vor allem die zu seinem Großvater und zu seinem guten Freund Pete an Farbe. Man bekommt darüberhinaus einen Einblick in die massiven Veränderungen der britischen Gesellschaft unter Margaret Thatcher. Dazu gibt es manchmal etwas wahllos eingestreute Informationen und Meinungen zu den unterschiedlichsten Themen, wie zu Klappentexten, dem Standesdünkel bei der Beurteilung von Literatur, zu Autorenfotos, zum Niedergang der Zeitungen, zur Rolle des Internets und zur Schließung zahlreicher Büchereien – in nur 10 Jahren wurden 20 % aller britischen Büchereien geschlossen. Die Entwicklung der verbleibenden Büchereien zu sogenannten „community hubs“, bei denen es um alles Mögliche geht, aber nicht ums Lesen, findet er übrigens grundfalsch.

Sehr schön fand ich seine Liste an Adjektiven auf S. 100, die ihm schon jeden Klappentext verleiden. Ich musste mich sehr zurückhalten, um die hier nicht auch noch zu zitieren. 

Seine Kindheits- und Jugenderinnerungen und seine Auseinandersetzung mit einzelnen Büchern sowie mit den Angry Young Men fand ich besonders prägnant und gelungen. Die weiteren Stationen auf dem Weg zum Journalisten und Schriftsteller waren dann – für mich – nicht mehr ganz so wichtig.

Natürlich erfahren wir, welche SchriftstellerInnen – meist Männer – seine Lesebiografie geprägt haben – nicht ungefährlich, weil man sich dann gleich wieder einige Bücher auf die eigene Leseliste setzen möchte – und eine Antwort auf seine Ausgangsfrage gibt es auch. 

I knew it as a child, as I do an adult – why I collect. I wanted to store up sufficient stuff, my stuff, so that tomorrow, next week or at some point in the future, near or distant, I could surround myself with it, submerge myself, become it. I am suspicious of anyone who doesn‘t feel the same way. How can they live so much in the now with no regard to a better, quieter, reflective, rainy day tomorrow – which is what a collection guarantees.  (S. 23)

Nachdem Hodkinson spaßeshalber ausgerechnet hat, dass er anscheinend seit seinem 13. Lebensjahr durchschnittlich 1,5 Bücher pro Woche gekauft hat, was ja dann doch gar nicht so viel sei, ist er mit sich und der Welt wieder im Reinen.

In fact, I am mystified how anyone can go through life and manage not to bring home 1.5 books per week. (S. 270)

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Rhododendronwald im Neuen Botanischen Garten Marburg

Die Gewächshäuser im Neuen Botanischen Garten (von den Toiletten ganz zu schweigen) auf den Lahnbergen in Marburg sind arg in die Jahre gekommen und der Garten – einer der größten botanischen Gärten Deutschlands – sucht händeringend Sponsoren, siehe auch diesen Artikel in der Oberhessischen Presse.

June Wright: Reservation for Murder (1952)

Es war mal wieder Zeit für ein Krimi-Schätzchen á la Agatha Christie. Und da kam die Neuauflage von Reservation for Murder, ursprünglich 1952 erschienen, der australischen Schriftstellerin June Wright (1919-2012) gerade recht.

Der Schauplatz des Romans ist Kilcomoden, ein Wohnheim für junge berufstätige Frauen, fünf Meilen von Melbournes Zentrum entfernt, das von Nonnen unter der Leitung von Mother Mary St. Paul of the Cross geführt wird.  (In Melbourne gab es damals mehrere dieser Wohnheime oder „hostels“ für junge Frauen vom Land, die zum ersten Mal weit entfernt von ihren Familien wohnten, weil sie studierten oder ihrer ersten Arbeit nachgingen.) Kilcomoden

was one of those fine old colonial-style houses built to weather the passing of years – but unfortunately not of domestic staff. Once the family home of a rich draper, and no doubt intended by him to be the home of his descendants, it now sheltered twenty-five business girls from shrewish landladies, malnutrition and week-end boredom. […] the waiting list for admission was long. (S. 21)

So muss sich die geneigte Leserin zwar zunächst einmal darum bemühen, den Überblick über die Namen der Bewohnerinnen zu behalten, doch die Ich-Erzählerin Mary Allen ist eine angenehme, schlagfertige und zuweilen scharfzüngige Begleiterin durch alle Krisen (ausgelöst durch anonyme Briefe, Eifersüchteleien und persönliche Befindlichkeiten) und Mördereien.

For eight years now I had been catching the eighty-twenty bus to the city […], where I was an unenterprising, but adequate, secretary to an even more unenterprising firm of solicitors, and returning home on the five-thirty. Over the weekend I played a little diffident golf or tennis, worked in a frustrated sort of way on two crossword puzzles, and enjoyed the mild courtship of a slightly balding young  man called Cyril. (S. 22)

Mary Allen ist es auch, die nachts am Eingangstor buchstäblich über die erste Leiche, einen unbekannten Mann, stolpert.

Die nach außen hin immer leicht abwesend wirkende, aber in Wirklichkeit natürlich scharf beobachtende Mother Paul – für viele Kritiker die heimliche Protagonistin – zieht derweil im Hintergrund ihre Fäden und sorgt u. a. dafür, dass Mary Allen den sympathischen Ermittler O‘Mara mit allen notwendigen Insider-Informationen aus dem Wohnheim versorgt.

Ich fand den ersten Band von dreien um Mother Paul ausgesprochen vergnüglich. Die jungen Frauen wirken in ihren Auseinandersetzungen und ihrer Lebensgestaltung (sie haben keinen eigenen Schlüssel für die Haustür und müssen spätabends von der jeweils dazu Beauftragten hereingelassen werden) manchmal zwar eher wie biestige Teenager, doch das hat die Spannung und den Unterhaltungsfaktor nur unwesentlich beeinträchtigt. Daneben erlaubt der Krimi kleine Einblicke in einen Alltag vor 70 Jahren.

Und die Frage, wie intelligente Frauen sich ihre Zukunft vorstellen, taucht auch hier auf. Fenella, eine berufstätige Freundin Marys, findet es ganz und gar deprimierend, als sie im Laufe der Ermittlungen eine gewisse Rhoda Baker besuchen. Diese wohnt in einem schäbigen Vorstadtviertel, ist verheiratet und hat zwei kleine Kinder.

‘Can you imagine anything more deadly, Mary? Born, bred and married all in the one place – and what a place! I bet she never ventures further than town and then only for the summer sales, and her husband potters in the garden all the week-end.‘ When she saw the few depressed-looking shrubs struggling for life in the Baker garden, and the sun-burnt couch-lawn, she added: ‚Or tinkers with the radio wearing a waistcoat and no collar.‘ (S. 132)

Im interessanten, elfseitigen Vorwort zu Reservation for Murder von Derham Groves erfahren wir nicht nur, woher die Inspiration für eine Nonne als Ermittlerin stammt, sondern auch, dass June in ihrer Ehe mit Stewart Wright nicht glücklich war. Sie hatten zwar sechs Kinder zusammen, aber Stewart wollte immer, dass sie aufhört zu schreiben, dabei waren ihre Romane sehr erfolgreich. Ihr Mann dürfte sich mit dieser Meinung nicht allein gewusst haben, selbst in den Kritiken von damals war es immer wieder ein Thema, wie man zugleich erfolgreiche Schriftstellerin und eine gute Mutter sein könne.

Ich freue mich über die Neuauflage der insgesamt sieben Krimis von June Wright bei Dark Passage, einem Imprint von Verse Chorus Press. Die übrigen müssen nun auch noch her.

Wrights Lieblingskrimi war übrigens Gaudy Night von Dorothy Sayers.

Hier geht‘s lang zum Nachruf im Sydney Morning Herald.

Deniz Ohde: Streulicht (2020)

Der Debütroman der 1988 in Sindlingen/Frankfurt geborenen Autorin Deniz Ohde wurde 2020 sowohl mit dem Aspekte-Literaturpreis als auch dem Literaturpreis der Jürgen Ponto-Stiftung ausgezeichnet.

Vermutlich ist vielen der Inhalt zumindest in groben Zügen bekannt: Eine namenlose Ich-Erzählerin, die man keinesfalls einfach mit der Autorin gleichsetzen darf, kehrt an den Ort ihrer Kindheit  in einem Frankfurter Industriegebiet zurück, um an der Hochzeit ihrer zwei Jugendfreunde Mikka und Sophia teilzunehmen. Sie besucht dort ihren inzwischen verwitweten Vater und erinnert sich an ihre maximal trostlose Kindheit in einem kaputten und spracharmen Elternhaus.

Der Vater hat 40 Jahre in einer Fabrik malocht, sich, seiner türkischen Frau und seiner Tochter jedes Wünschen und Streben nach mehr verboten. Er ist Kettenraucher, wird zum Trinker, geht allen menschlichen Kontakten aus dem Weg und müllt allmählich die ganze Wohnung zu. Er ist jähzornig und gewalttätig. Ständig fliegt Geschirr durch die Küche.

Die Mutter, die einst so mutig aus der Türkei aufgebrochen war, hat keine Ressourcen, ihre Tochter zu schützen oder ihr Möglichkeiten aufzuzeigen. Sie bringt ihr kein Türkisch bei, damit die Tochter ganz deutsch und so vor Rassismuserfahrungen geschützt sei. Das funktioniert natürlich nicht und die Tochter wird in der Schule von Lehrkräften und Mitschülern mal subtil, mal weniger subtil mit Vorurteilen, Ausgrenzung und der Haltung konfrontiert, dass man ihr als halber Türkin und Proletenkind keine guten Schulleistungen zutraut.

Dass der Vater genau das ungewollt stützt, indem er ihr schon früh davon abrät, freiwillige Zusatzaufgaben zu bearbeiten, da sich Anstrengung ja doch nicht lohne und sie eben einfache Leute seien, und indem er so viel raucht, dass ihre Kleidung ständig nach Rauch stinkt, macht den Aufenthalt in der Schule für seine Tochter nach und nach zur Qual. So geht sie irgendwann ohne Schulabschluss ab und schafft es erst Jahre später, doch noch das Abitur nachzuholen und dann sogar ein Studium zu beginnen.

Die Ich-Erzählerin nimmt so etwas wie eine Inventur ihrer Bildungsgeschichte und der äußeren und inneren Hindernisse, die ihr entgegenstehen, vor. Das passiert anschaulich und nachvollziehbar aufgrund ihrer Beobachtungsgabe, der Vergleiche mit dem Zuhause ihrer in bürgerlichen Verhältnissen aufwachsenden Freunde Sophia und Pikka und den vielen, zum Teil berührenden Szenen aus Schule und Freizeit.

Die Zerrissenheit des Kindes, das sich nie ganz sicher und geliebt fühlen darf, die daraus entstehenden Ängste, die Orientierungslosigkeit und Entfremdung werden geradezu schmerzhaft deutlich. In der Schule wird dem Mädchen vorgeworfen, zu still zu sein, sich nicht genügend zu engagieren, doch wie soll das funktionieren, wenn gefühlt das Überleben zu Hause davon abhängt, unsichtbar und unhörbar zu sein, um dem Vater keinen Anlass für einen seiner Ausbrüche zu geben?

Sie kann keine Freunde mit nach Hause bringen, die Wohnung wird gegen Außenstehende regelrecht bewacht und abgeschottet, die kaputte Jalousie nicht repariert, dann kann auch keiner reingucken.

Wie soll das Mädchen in ihr Frausein finden, wenn die Mutter ihr nicht glaubt, dass sie bereits menstruiert und sie sich zunächst mit kleinen Slipeinlagen behelfen muss, ohne zu wissen, dass es Tampons oder Binden gibt? Also muss sie in der Schule alle paar Minuten zur Toilette.

Das Buch ist nicht perfekt, an manchen Stellen schienen Szenen nur noch wahllos und repetitiv aneinander gereiht, es gab – wenn auch selten – platte Pauschalisierungen, und die Leser*innen können in dieser Traurigkeit kaum einmal aufatmen. Da rutscht das Buch dann schon mal in die Schublade der Misery Lit.

Mir fehlte das Austarieren der verschiedenen Zeitebenen: Blickt die junge Studentin, die nun zur Hochzeit ihrer alten Freunde kurzzeitig zurückkehrt, wirklich mit dem gleichen Blick auf ihre Umgebung und ihren Vater wie sie das als hilfloses Kind getan hat, das es nicht anders kannte?

Und vor allem, was waren – abgesehen von der enormen Beobachtungsgabe und dem Tagebuchschreiben – die Ressourcen der Erzählerin, ihre Kraftquellen, die sie letztendlich doch – wie mühsam auch immer – dazu befähigt haben, den Schulbesuch wieder aufzunehmen und ihr Abitur zu machen? Darüber schweigt sich das Buch leider aus, eine Leerstelle, die ich sehr bedauert habe.

Dennoch pulst eine Energie durch das Werk, die einen weiterlesen lässt, das stille Buch hallt noch Wochen später nach und seine schmerzliche Bestandsaufnahme ärgert mich, macht mich traurig und spricht mich an, spricht zu mir. Man kann etwas über unsere Gleichgültigkeit lernen, über Schulen, über eine verletzte Kinderseele und beschädigte Identitäten. Man schaut auf einmal ein wenig genauer hin. Eigentlich eine Pflichtlektüre für alle angehenden Lehrer und Lehrerinnen. Für BildungspolitikerInnen sowieso.

Der letzte Satz des Buches gehört übrigens dem Vater. Als seine Tochter nach ihrem Besuch bei ihm wieder aufbricht, sagt er ihr zum Abschied: „Wenn‘s nichts wird, kommst wieder heim.“ Seine Skepsis, dass es jemand aus seiner Familie tatsächlich „schaffen“ könne, und gleichzeitig die geradezu zärtliche Versicherung, dass sie jederzeit wieder zurückkommen dürfe und die Tür ihr offen steht.

Der Vorwurf der Humorlosigkeit und Larmoyanz, den Denis Scheck in der Sendung Lesenswert vom 17. Dezember 2020 erhob, ist absurd. Sein mit unfassbar arroganter Attitüde vorgetragener Verriss, in dem er auch gleich noch seine fundiert argumentierenden KollegInnen Ijoma Mangold, Sandra Kegel und Insa Wilke der Unfähigkeit bezichtigte, zeigt, dass Lesen eben nicht automatisch zu mehr Empathie, Lernbereitschaft oder Weltverständnis führt.

Nicole Seifert vermutet in dem Artikel Schweig, Autorin – Misogynie in der Literaturkritik auf 54 Books, dass sich bei Scheck eine frauenfeindliche Haltung gegenüber jungen und erfolgreichen Autorinnen austobe. Eine weitere Erklärung für seine wilden Behauptungen, die er an keiner Stelle begründet, könnte sein, dass Scheck einfach keine Menschen mag bzw. literarisch kennenlernen möchte, die in solchen Verhältnissen wie die Ich-Erzählerin aufwachsen.

Seine Überzeugung, dass jedem in Deutschland die gleichen Möglichkeiten des Aufstiegs offen stehen, geriete dann möglicherweise ins Wanken, denn wer’s nicht schafft, soll halt – egal, wie jung –  immer schön die Schuld nur bei sich selbst suchen. Mit Juli Zeh einen kleinen Reitausflug zu unternehmen oder Größen wie Peter Bichsel oder gar Margaret Atwood zu besuchen, sagt ihm da vielleicht eher zu. Die Begründung seiner Ablehnung ist und bleibt jedenfalls abenteuerlich:

Dieses Buch ist banal, oberflächlich und unglaublich larmoyant. Diese Autorin ist so humorfrei, so frei von einer Spur von Geist und Eigenständigkeit in der Intellektualität, dass ich ihr eine große Zukunft in der deutschen Gegenwartsliteratur prophezeien kann, solange es solche Kritiker gibt. […] Das ist reiner Sozialkitsch. […] Es ist wirklich unerträglich, dass die Ich-Erzählerin die Gründe für ihr soziales Scheitern, für ihr berufliches Scheitern als Schülerin sozusagen überall sucht, nur nie bei sich selbst. […] Diese Frau kann nicht denken. […] Wir leben hier in einer Gesellschaft, die eine große Möglichkeit des Aufstiegs einräumt. Das möchte ich doch in irgendeiner Weise von einer Figur auch mitreflektiert haben.

Hier noch eine treffliche Besprechung von Ingo Eisenbeiß auf der Seite des Deutschlandfunks und Claudia vom Grauen Sofa geht detailliert auf die unsichtbaren Wände ein, die ein unter solchen Umständen aufwachsendes Kind von der Umwelt trennen.

Zum Schluss, weil die Frage der Autorin immer wieder gestellt wird:

Was hat das traurige Mädchen im Zentrum des Buches mit der Biografie von Deniz Ohde zu tun? „Von mir steckt da vor allem der Blick drin, den ich auf meine Umgebung werfe.“ Doch so traurig wie ihre Hauptfigur sei sie keineswegs. Und sie fühle sich auch nicht „am Nullpunkt“ wie ihre Erzählerin. Und die Figuren der Eltern im Roman entsprächen auch nicht ihrem türkischen Vater und ihrer deutschen Mutter in der Wirklichkeit. Darauf lege gerade ihre Mutter Wert: „Die lebt nämlich noch.“ (Das Glück und das Pech der guten Erinnerung, Frankfurter Rundschau)

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Skulptur am Eingang der Stadtbibliothek in Creglingen

Stella Gibbons: The Swiss Summer (1951)

Das eskapistisch-lockerfluffige The Swiss Summer stand – wie auch die übrigen Werke von Stella Gibbons (1902 – 1989) – immer im Schatten ihres bekanntesten Buches The Cold Comfort Farm. Umso besser vielleicht, dass ich das noch gar nicht kenne. The Swiss Summer jedenfalls macht auch nach über 70 Jahren noch Spaß. Oder wie der Guardian schrieb:

For holiday reading it would be hard to find anything better.

Die 43-jährige Lucy Cottrell lernt zufällig die betagte Lady Dagleish kennen. Deren Gesellschafterin Freda Blandish soll im Auftrag der alten Dame in die Schweiz reisen, um sich dort vor Ort um ein Chalet ihres verstorbenen Mannes zu kümmern. Das hatte die Schweiz vor Jahrzehnten Sir Burton Dagleish in Anerkennung seiner Dienste um die Bergsteigerei geschenkt. Im Grunde soll alles vorbereitet werden, um das Berghaus verkaufen zu können, das nun schon seit Jahren kaum genutzt wird. Nur die alte Utta aus dem Dorf schaut einmal die Woche nach dem Rechten.

Freda wurden von Lady Dagleish Hoffnungen gemacht, dass sie Chalet und Grundstück eines Tages erben werde und sie somit ihren langgehegten Wunsch, dort eine Pension zu eröffnen und dann für immer finanziell unabhängig zu sein, in die Tat umsetzen kann.

Verständlich, dass Freda alles andere als entzückt ist, als Lady Dagleish aus einer Laune heraus und weil sie Lucy Cottrell sympathisch findet, Lucy anbietet, Freda zu begleiten. Lucy ist begeistert, dem schmutzigen und hässlichen London für drei Monate zu entkommen und Urlaub in der bezaubernden Schweizer Bergwelt machen zu dürfen. Auch ihr geliebter Mann gönnt ihr den Aufenthalt von Herzen. Als Gegenleistung soll sie Freda bei der Inventur ein wenig zur Hand gehen, doch diese wittert in ihr eine Nebenbuhlerin auf das erhoffte Erbe.

Die Situation wird nicht einfacher, als Fredas gesellschaftlich unbeholfene Tochter Astra und noch weitere Freunde von Freda im Schweizer Bergdomizil auftauchen und Lucy gebeten wird, in ihren Briefen an Lady Dagleish darüber Stillschweigen zu bewahren. Lucy möchte die alte Dame nicht hintergehen, gleichzeitig mag sie’s harmonisch und geht gern den Weg des geringsten Widerstandes.

Und so nehmen drei erlebnisreiche Monate ihren Lauf, in denen Lucy sich nicht nur mit den halbseidenen Bekannten von Freda herumärgern, sondern sich auch um ihren eigenen Neffen und dessen Freund kümmern muss, die ebenfalls für kurze Zeit auf dem Berghof zu Gast sind. Und über allem wacht Utta, die alte Haushälterin, die sich dem Erbe des verstorbenen Bergsteigers Dagleish verpflichtet fühlt und spürt, dass dort nicht alles mit rechten Dingen zugeht.

Doch Lucy wäre nicht Lucy, wenn sie trotz der Unbill diese Wochen nicht aus tiefstem Herzen – und die LeserInnen mit ihr – genießen würde. Sie ist in den Bergen am rechten Platz, genießt die Natur auf ihren Wanderungen in vollen Zügen, kann dem oberflächlichen Touristentreiben in den Städten wenig abgewinnen und ist immer froh, wenn es wieder zurück auf den Berg geht. Trotz ihrer scheinbaren Passivität geht Lucy ihren Weg und nutzt ihre Spielräume, selbst wenn die zunächst recht begrenzt erscheinen.

The Swiss Summer ist ohne Frage ein Wohlfühlbuch; bereits bei seiner Erstveröffentlichung konnten sich die britischen LeserInnen damit aus den oft noch schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen nach dem Zweiten Weltkrieg wegträumen. Am Ende ist man/frau mit der Auflösung aller Handlungsfäden einverstanden. Gleichzeitig sorgen Ironie, ein unbestechlicher Blick auf menschliche Eigenheiten – allein wie Utta geschildert wird, ist unvergesslich – und Empathie für die verschiedenen Charaktere dafür, dass das Buch nicht in den Kitsch abstürzt.

So muss sich beispielsweise Astra, gerade weil sie nicht hübsch ist, besonders mit der Frage auseinandersetzen, inwieweit sie den gesellschaftlichen Erwartungen und Rollenbildern überhaupt entsprechen will. Nach dem Blättern in den entsprechenden amerikanischen Frauen-Zeitschriften fragt sie sich, ob eine Frau überhaupt noch Zeit für sich habe:

The difficulty of Love: first, with lipstick and foundation cream, permanent wave and nail paint, exercises and hair-brushing, scent and perfectly chosen clothes, you must prepare your body. Next, with a gay, sweet, friendly manner, never showing jealousy or possessiveness, never intruding upon a man‘s private life yet never withdrawing yourself from him so far as to appear cold, and never, oh never, dreaming of hinting that you would welcome the opportunity to perform that task for which Nature had endowed you, you must prepare your personality. And finally, when you had secured a man of your own (but it was quite fatal to believe that you had secured him permanently) you must exercise infinite tolerance, charity, good sportsmanship, intelligence, submission, self-reliance (but not too much of the latter), and tender familiarity combined with wild sweetness in being his wife. It would also help if you could listen, sew, and cook. (S. 95)

Alle menschlichen Wirrungen und kleinen Intrigen sind eingebettet in die beeindruckende Landschaft des Berner Oberlands und nach der Lektüre möchte man – trotz des Kinderbuchcovers der Dean Street Press-Ausgabe – unverzüglich den Koffer packen.

Nachtrag

Bei allem Unterhaltungswert ihrer Werke sollte man nicht übersehen, dass Stella Gibbons in ihren Romanen gesellschaftliche Veränderungen in Großbritannien nachzeichnet und dabei Standesdünkel, Egoismus und Ressentiments, sei es gegen Ausländer oder Angehörige der „niederen Klassen“ mit Witz und Verve aufs Korn nimmt.

Vor allem aber werden Möglichkeiten weiblicher Selbstbestimmung erkundet. Manchmal „nur“ in der Schilderung interessanter Nebenfiguren wie Katy aus A Pink Front Door (1959), einer begabten Chemikerin, die aber nach ihrer Heirat rasch hintereinander drei Kinder bekommen hat und die sich nun wohl alles weitere wissenschaftliche Arbeiten abschminken kann. Als sie sich an ihre Studienzeit erinnert, heißt es:

How they had theorised! Every contemporary problem and every timeless one had been brought out, dissected and prescribed for by herself and the young men whom she had known. Yes, every problem except one – What does a young woman with brains do when she gets caught in a trap? […]

She drank some beer and tried to control this despairing desire for revenge on something or someone. […] she ought to be thankful. She was thankful … only, she didn‘t feel it. She only felt the unceasing aching in her limbs and the unending procession through her tired mind of minute domestic details, and she thirsted for solitude and the pleasures of the intellect. (S. 162)

Angela hingegen, eine Figur aus The Woods in Winter (1970), hat ihren Verlobten im Ersten Weltkrieg verloren und alle gehen wie selbstverständlich davon aus, dass sie ihr restliches Leben nun selbstlos ihrer dominanten Mutter widmen wird. Als ihr ein nicht „standesgemäßer“ Farmarbeiter den Hof macht, wird ihr klar:

It occurred to her that all her life she had been taught to be truthful, but never to be truthful to herself about what she felt and wanted. (S. 170)

In The Woods in Winter (1970), Gibbons letztem zu Lebzeiten veröffentlichten Roman, spielt Ivy Gover, eine fast fünfzigjährige Witwe, die Hauptrolle. Trotz diverser Anträge will sie nicht mehr heiraten und kommt nach der Erbschaft eines kleinen Häuschens auf dem Land so recht in ihr Element. Sie hat schwarze Augen und eine ungewöhnlich enge Beziehung zu Tieren, das wird auf einen Großvater zurückgeführt, der angeblich den Roma angehörte. Gleich zu Beginn des Buches erfahren wir, wie sie einen Collie stiehlt, der von seinen Besitzern nur an der Kette gehalten wurde.

Häusliche Sauberkeit, Smalltalk, regelmäßige Mahlzeiten und gute Manieren werden ihr zunehmend unwichtig und eigentlich will sie nur ihre Ruhe haben und wirkt doch immer wieder, vielleicht gerade deshalb, positiv auf ihre Nachbarn und Nachbarinnen ein.

for the first time in her life, she was living as she had always unknowingly wanted to live: in freedom and solitude, with an animal for close companion. (S. 72)

Fundstück von Sarah Moss

If she‘d known, she thinks, if she‘d known that she wasn‘t going to achieve financial comfort or even security as the years went by, if she‘d recognised the good times when she had them, she‘d have travelled more when she was young, she‘d have bought one of those train tickets, those passes, and gone everywhere, northern Norway to Sicily, Istanbul to County Clare. She‘d have taken a year out, several years out, before settling for Steve, worked her way round waitressing or whatever. If she‘d had the confidence then, if she‘d known how to apply for a passport and buy a ticket and board a plance when she was young enough to walk away. She should have gone to Paris and Vienna, to Venice. […] It probably doesn‘t matter, really.

aus: Sarah Moss: Summerwater, Picador, 2020, S. 4

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Charles Dickens: David Copperfield (1850)

Unruhige Zeiten, Bedrückung ob des Angriffskrieges und der unverhohlenen Propagandalügen, dazu viel zu tun, fehlende Konzentration, insgesamt also wenig Ruhe und Muße zum Bloggen. Doch damit mir nicht völlig aus dem Gedächtnis rutscht, was ich gelesen oder auch nur angelesen habe, hier wenigstens ein kurzer und deshalb sicherlich auch unausgewogener Blick auf den über 800 Seiten dicken  Schmöker David Copperfield von Charles Dickens, der 1850 das erste Mal in Buchform erschien und der den Lebensweg Copperfields von der Kindheit bis zu seinen ersten erfolgreichen Gehversuchen als Schriftsteller nachzeichnet. Ähnlichkeiten zu der Biografie des Autors sind dabei kein Zufall und Dickens hat diesen Roman immer das liebste seiner fiktiven Kinder genannt.

Was für ein berührender Anfang, Kinderfiguren sind wirklich eine Stärke des Autors. Die Leiden des jungen David, nachdem seine naive Mutter einen gar gräßlichen Stiefvater ins Haus geholt hat, sind fein beobachtet und erzürnen noch nach 170 Jahren die Leserin. Auch die zunächst fürchterlichen Internatserfahrungen Davids geben einen guten Einblick in mancherlei Untiefen des viktorianischen Schulsystems.

Doch dann wird der Ich-Erzähler immer blasser und nichtssagender, alle anderen Figuren in diesem gesellschaftlichen Panoptikum, die David bei seinem allmählichen sozialen Aufstieg begleiten, sind interessanter. Schließlich verliebt er sich in die süße, leider etwas unerwachsene, dafür aber sehr lebendige Dora. Hier finden sich tatsächlich einige wenige selbstironische Stellen:

If I may so express it, I was steeped in Dora. I was not merely over head and ears in love with her, but I was saturated through and through. Enough love might have been wrung out of me, metaphorically speaking, to drown anybody in; and yet there would have remained enough within in, and all over me, to pervade my entire existence. (S. 474 der Ausgabe der Everyman‘s Library)

Er heiratet Dora und muss nun schmerzhaft erkennen, dass sie niemals seine Seelengefährtin oder wenigstens eine tüchtige Hausfrau werden wird. So wird sie kurzerhand vom Erzähler zu einer tödlichen Krankheit verdonnert, damit David nach angemessener Frist die überirdisch langweilige und unrealistisch brave Agnes, die schon als Zehnjährige den Haushalt des Papas so entzückend im Griff hatte, zum Traualtar führen kann.

Und diese Doppelmoral: Dem schönen und charismatischen Jugendfreund Steerforth, der systematisch eine junge Frau verführt und anschließend an seinen Dienstboten verschachern wollte, trauert Copperfield hinterher, doch die junge Emily muss ihr Leben lang für ihren „Fehltritt“ büßen und emigriert, nachdem ihr Vater sie gerade noch rechtzeitig aus dem Moloch London retten konnte, zusammen mit ihrem Vater nach Australien. Die Frauengestalten bei Dickens sind wirklich nur zum Haareraufen, klischeehaft und von eindimensionalem Wunschdenken geprägt: die schöne Sünderin, die edle Gattin und Hausfrau, die Kindfrau, die treue Dienstbotin, die skurrile Tante.

Letztendlich gab es mir hier von allem ein bisschen zu viel: zu viel Melodramatik, zu viel Sentimentalität und Überzeichnung – man denke nur an Uriah Heep – und zu billige Lösungen: Nachdem Copperfield mit seiner Agnes glücklich der häuslichen Ruhe frönen kann, verschifft der Erzähler, das hat schon Chesterton zu Recht bemängelt, kurzerhand alle, die jetzt noch den ruhigen Lebensgang der Hauptfigur stören könnten, nach Australien.

Fundstück von Hildegard Knef

Liebeserklärung an einen Großvater

Meiner hieß Karl, er war mittelgroß und genauso kräftig, wie er aussah. Er trug den Kopf sehr gerade, die Wirbelsäule auch, und er hatte einen großen Mund mit vielen Zähnen; er hatte sie noch alle 32, als er mit 81 Jahren Selbstmord machte. Sein Jähzorn war das Schönste an ihm, erstens weil er sich nie gegen mich richtete und weil er so wild und rasch kam, wie er verging, und wenn vergangen, wurde sein Gesicht warm wie ein Dorfteich in der Sommersonne und seine Bewegungen verlegen und einem fischenden Bären gleich.

Mit diesen Sätzen beginnt Der geschenkte Gaul (1970) von Hildegard Knef.

Fundstück von Franz Werfel

Ich bin ein Buchstabe irgendwo in einem großen, dicken Roman. Meine eigene Bedeutung kenne ich nicht, noch auch die Bedeutung der wenigen benachbarten Buchstaben, die ich von meinem Platz aus erblicken kann. Ich weiß nicht, zu welcher Silbe wir gehören, aus der, mit anderen Silben, das unbekannte Wort sich zusammenfügt, das uns umfaßt und mit unzähligen andern unbekannten Worten die Zeilen des Buches bildet, die seine Seiten regelmäßig erfüllen. Da ich nicht einmal Sinn und Bedeutung des Buchstabens erkenne, der ich selbst bin, wie könnte ich etwas vom Sinn des ganzen, großen, dicken Romans wissen, von seiner Handlung, Einteilung, von seinem Aufbau, dem Anfang und Ende, den Verwicklungen und Lösungen, Haupt- und Nebenpersonen – und wie gar etwas von seinem Autor? Da ich aber immerhin ein Buchstabe des großen Ganzen bin, wie in einem geheimnisvollen Reigen meine mir unverständlichen Neben-Lettern an den Händen haltend, da ich mithin in einem Zusammenhang stehe, in dem ununterbrochenen Duktus der mir verborgenen Geschichte, der auch meine eigene Existenz durchweht, so erfüllt mich das feste Bewußtsein: ein sinnvolles Teilchen zu sein, das vom lesend-schreibenden Auge jenseits des Buches mühelos entziffert und verknüpft wird. Angestrahlt von diesem jenseitigen Auge, nährt der kleine Buchstabe die sichere Hoffnung, nein, die stolze Ahnung, daß er dem Ganzen nicht nur notwendig zur Ganzheit diene, sondern dessen unermeßlich unbekannten Sinn auch in seiner eigenen Winzigkeit enthalte.

Zitiert nach: Hans Jürgen Balmes (Hrsg.): Mein Erstes Buch – Autoren erzählen vom Lesen, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2002, S. 89 – 90

Aus: Leben heißt, sich mitteilen. Betrachtungen, Reden, Aphorismen, Fischer Verlag 1992

Fundstück von Andrej Kurkow

Selbst das Leben erschien ihm leicht und sorglos, ungeachtet der schwierigen Momente. Nur selten dachte er noch an seine eventuelle Mitwirkung bei irgendwelchen dunklen Geschichten. Was gibt es nicht alles auf der Welt? Es war lediglich ein kleiner Teil des unbekannten Bösen, das um ihn herum existierte, aber es betraf ihn und seine kleine Welt nicht persönlich. Und offensichtlich war die Unwissenheit über seinen eigenen Anteil an diesen dunklen Geschäften die Garantie für seine Ruhe, die Garantie dafür, daß seine Welt nicht angerührt wurde. 

Andrej Kurkow: Picknick auf dem Eis, Diogenes, Zürich 1999, S. 213

Andrej Kurkow: Graue Bienen (OA 2018)

Ich weiß nicht, wie ich Graue Bienen, dieses ruhige, zurückgenommene, unaufgeregte Werk des ukrainischen Schriftstellers Andrej Kurkow (*1961), vor einigen Wochen gelesen hätte; was ich aber nach der Lektüre sagen kann: Es ist ein ganz besonderes, ja aufregendes Buch und ich wünschte, es wäre nicht erst der unselige Angriffskrieg auf die Ukraine gewesen, der mich darauf aufmerksam gemacht hat. Aus dem Russischen von Johanna Marx und Sabine Grebing ins Deutsche übertragen, wurde es 2019 im Diogenes Verlag veröffentlicht.

Die Geschichte um den eigenbrötlerischen, aber gutherzigen Imker Sergej Sergejitsch spielt 2016/17 zum einen in der sogenannten grauen Zone, also dem Gebiet entlang, hinter und manchmal auch genau zwischen den verfeindeten Stellungen der Ukrainer und der Separatisten an der ostukrainischen Grenze zu Russland, und zum anderen auf der Krim, die bereits 2014 von Russland annektiert wurde.

Sergej ist Frührentner, hat er sich doch als Inspektor für Arbeitssicherheit in den notorisch unsicheren Bergwerksbetrieben die Lunge kaputtgemacht. Er und sein alter Feind Paschka sind die einzigen, die noch in ihrem Dorf im Donbass leben. Auch politisch stehen sie auf verschiedenen Seiten. Während Paschka die Separatisten unterstützt und von denen ab und zu Brot und andere Leckereien bezieht, fühlt sich Sergej als Ukrainer und will eigentlich nur seine Ruhe. Alle anderen Einwohner sind in den sichereren Westen der Ukraine geflohen. Auch Sergejs Ex-Frau und seine Tochter leben schon lange von ihm getrennt.

Das Leben in dem verlassenen Dorf Malaja Starogradowka ist karg, auf das Allernotwendigste reduziert.

Im Haus, was gab es da? Das Bett, Tisch und Stuhl. Tun konnte man im Grunde nichts. Nur nachdenken und sich erinnern. Sergejitsch hatte es schon satt, sich an Vergangenes, Fröhliches oder Trauriges, zu erinnern. (S. 134)

Wenn mal etwas dringend benötigt wird, wandert Sergej ein paar Kilometer ins nächste Dorf, wo ihm hilfsbereit eine warme Mahlzeit oder ein paar Eier angeboten werden. Der Strom fällt ständig aus, sodass er sein Handy nicht aufladen kann, und die Post wird nur ausgeliefert, wenn die kämpfenden Truppen einen Tag „Postfrieden“ vereinbart haben.

Sergejitsch dachte im selben Moment, dass er selbst überhaupt keine Post brauchte. Nur vielleicht eine Zeitung zum Lesen! Aber er hatte ja schon seit zehn Jahren nichts mehr abonniert. Früher hatte er die Nachrichten dem Fernseher entnommen. Dann verschwanden die Nachrichten zusammen mit dem Strom. Jetzt schienen ihm diese Nachrichten nicht mehr besonders nötig zu sein. Was änderten sie? Trotzdem war eine Zeitung etwas Angenehmes. Sie raschelte zwischen den Fingern und half, sich abzulenken. (S. 145)

Sergej ist vor allem auf das Wohlergehen seiner Bienen bedacht, die seiner Meinung nach wesentlich intelligenter handeln, als die Menschen das tun. In langen und ruhig dahinfließenden Passagen wird erzählt, wie Sergej seinen Kohleofen befeuert, sich Tee zubereitet, Schnee schippt oder einen toten Soldaten, der auf einem verschneiten Feld liegt, wenigstens mit Schnee bedeckt, wenn er ihn schon nicht beerdigen kann.

Drei Jahre mit Paschka in ihrem verlassenen Dorf hatten ihn gelehrt, dass es wenig, sehr wenig Menschen geben konnte und daran gar nichts Schlechtes war. Im Gegenteil, die Menschenleere half, sich und sein Leben besser zu verstehen. (S. 247)

Hin und wieder besuchen Paschka und Sergej einander, giften sich an und vertragen sich wieder. Trotz ihrer Antipathie merken sie – und die LeserInnen mit ihnen -, dass sie einander brauchen, dass der Mensch ohne einen anderen Menschen gar zu einsam wäre, sie besuchen sich alle paar Tage und essen und trinken miteinander. Zum Abschied, als Sergej zu seiner Reise aufbricht, um seinen Bienen einen Sommer ohne Schießereien und Detonationen zu ermöglichen, umarmten sie einander

auf Männerart, fest. Sie drückten sich und ließen sich gleich wieder los. (S. 188)

Der Abschied von seinem Heimatdorf fällt Sergej nicht leicht.

Während die Regentropfen auf ihn niederprasselten, betrachtete Sergejitsch die vertrauten Mauern, Bäume, Zäune, betrachtete seine kleine Welt, in der er bis jetzt seine Nöte und Probleme durchgestanden hatte, Tag für Tag, Nacht für Nacht. Das alles, die Bäume, die Tore, die Türen und Fenster, hatte ihn früher wie eine kugelsichere Weste geschützt. Dabei hatte er gedacht, es sei umgekehrt gewesen und er habe sein Haus, seinen Hof, seine Welt geschützt. Nein, er hatte sich geirrt. Erst jetzt, als er wegfahren musste, verstand er das. (S. 186)

Später, als er schon ein paar Monate unterwegs ist, bittet ihn Paschka am Handy sogar, doch recht bald zurückzukehren, möglichst mit einem guten Vorrat an Zigaretten.

Sergej redet nicht viel und braucht nicht ständig Menschen um sich herum. Er hat Angst wie alle anderen, wenn er mit den Menschen der Macht zusammenstößt, und versucht doch im Rahmen seiner Möglichkeiten, das Richtige zu tun. Er verfügt über einen inneren Kern, der noch nicht zerstört worden ist, seine Hingabe an die Bienen und ihr sinnvolles und geordnetes Tun.

Er brachte sie dorthin, wo es still war, wo die Luft sich langsam mit der Süße aufblühender Gräser füllte, die bald von blühenden Kirschbäumen, Aprikosenbäumen, Apfelbäumen und Akazien Verstärkung erhalten würden. (S. 200)

Während dieser Sommermonate eröffnet sich für Sergej die – etwas arg idyllisch geratene – Möglichkeit, dauerhaft bei einer patenten Frau Zuneigung und gutes Essen zu bekommen, doch Sergej reizt das nicht. Am Ende des Sommers möchte er wieder nach Hause, zu seinem Haus, seinem angestammten Platz in dieser Welt.

Vorher reist der dickköpfige Sergej aber erst noch weiter auf die Krim, in der Hoffnung, einen Imkerkollegen zu treffen, den er vor Jahrzehnten bei einem Kongress kennengelernt hatte. Dass Sergej Christ ist und der andere ein Muslim, ist für ihn nebensächlich, doch für die russischen Bewohner der Krim ist seine Freundschaft mit einer muslimischen Familie eine Provokation. Und so erfährt Sergej auch von der brutalen Unterdrückung der Krimtataren. Achtem, sein Imkerkollege, wurde schon vor zwei Jahren verschleppt und umgebracht und auch dessen Sohn wird nun unter den lächerlichsten Vorwänden verhaftet.

Die Welt ist aus den Fugen. Doch ausbaden müssen das meist die, die keine Macht haben, viel an der Situation zu ändern.

Kurkow ist in diesen 445 Seiten gelungen, die Verheerungen des Krieges zu zeigen, obwohl er nur ganz selten auf grausame Details zu sprechen kommt. Doch die vom Krieg ausgehende latente Bedrohung durch Waffen und das Machtgehabe an den verschiedenen Checkpoints, seine Sinnlosigkeit und seine Destruktivität, auch auf die Psyche der Betroffenen, und der geradezu religiöse Glaube an Putin bei manchen Russen sind wie ein Hintergrundrauschen immer präsent. Gleichzeitig gibt es Momente der einfachen Ruhe, des Friedens und der Schönheit. Es ist ein entschleunigtes, reduziertes Buch und ungemein reizvoll.

Die Hoffnung des Protagonisten, dass irgendwann auch die anderen in sein Dorf, in dem doch bis jetzt nur die Kirche zerschossen worden sei, zurückkommen und weiterleben können, ist von Putin 2022 jedoch erst einmal grausam widerlegt worden.

Er hatte seinen Becher noch nicht ausgetrunken, als irgendwo in der Nähe eine Explosion krachte. Die Fensterscheiben klirrten so laut, dass es in den Ohren schmerzte. ‚Ach, ihr Idioten‘, entfuhr es ihm verbittert. Hastig stellte er den Becher auf den Tisch, so dass der Tee herausspritzte, und lief ans nächste Fenster, überprüfte, ob keine Risse durchliefen. (S. 34)

Am Ende stellt sich die Frage, wie gleichgültig oder naiv der Westen war, wenn Kurkow schon in diesem Buch den betrunkenen Russen Wladlen, der extra aus Sibirien gekommen ist, um zusammen mit den Separatisten die Ukrainer zu „befreien“, sagen lässt:

‘Alles, was früher sowjetisch war, ist dann russisch geworden. […] Und das, was nicht russisch geworden ist, wird es später. Alles kehrt immer zum Anfang zurück, zum Ausgangspunkt…‘ (S. 110)

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Uwe Wittstock: Februar 1933 – Der Winter der Literatur (2021)

Ich weiß, ich weiß: I‘m late to the party. Das Buch über Februar und März des Jahres 1933 des Autors und Literaturkritikers Uwe Wittstock (*1955) wurde bereits überall besprochen und gepriesen.

Auch ich bin beeindruckt von der Verdichtung der geschichtlichen Zusammenhänge. Wittstock benötigt nicht mehr als 275 Seiten, um anschaulich zu machen, wie Hitler nach seiner Machtergreifung nur wenige Wochen – oder wie es im Nachwort heißt „nicht länger als die Dauer eines guten Jahresurlaubs“ –  benötigt, um alle notwendigen „rechtlichen“ Grundlagen für ein noch nie dagewesenes Unrechtsregime zu schaffen.

Diese politische und gesellschaftliche Zäsur wird mit dem Tagesgeschäft deutscher Autoren und Autorinnen, Reporter und Theaterschaffender verzahnt. Das Buch beginnt mit dem Kapitel zum 28. Januar 1933. An diesem Abend findet der Presseball in Berlin statt, „das bedeutendste gesellschaftliche Ereignis der Berliner Wintersaison, ein Schaulaufen der Reichen, Mächtigen und Schönen.“ (S. 11). Die Gästeliste ist illuster: Zuckmayer, Wilhelm Furtwängler, Gustaf Gründgens, Josef von Sternberg, Kadidja Wedekind, Erich Maria Remarque u. a. Viele der Gäste kennen sich privat oder beruflich. Ein kulturelles Netzwerk mit vielen feinen Verbindungen und Verästelungen.

Doch in den nächsten Wochen werden sich viele Wege trennen, Freundschaften zerbrechen. Manche werden sich nie wieder sehen. 1936 beschwört der ehemalige Jagdflieger Ernst Udet seinen Freund Zuckmayer, unbedingt Deutschland zu verlassen; Zuckmayer geht ins Exil, Udet bleibt, doch 1941 erschießt sich Udet, da er das Wohlwollen Görings verspielt hat.

Die Nazis geben [Ernst Udets Suizid] als Unfall aus, und Zuckmayer hört davon im Exil auf seiner Farm in Vermont. Die Nachricht beschäftigt ihn, wie er sich später erinnert, lange, bis er sich schließlich an den Schreibtisch setzt und in knapp drei Wochen den ersten Akt seines Stücks Des Teufels General schreibt. Es ist die Geschichte eines charismatischen Luftwaffengenerals, der Hitler verachtet, ihm aber dient aus falsch verstandener Liebe zu Deutschland und zur Fliegerei. Als der Krieg zu Ende ist, ist das Stück fertig. Es wird zu einem der größten Erfolge Zuckmayers. (S. 21)

Wittstock vermittelt in kurzen, aber anschaulichen Abrissen die Eckdaten der Künstler, ihre Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus sowie ihr weiteres Schicksal. Dabei begegnen wir u. a. Brecht, Helene Weigel, Alfred Kerr, Oskar Maria Graf, Alfred Döblin, Ricarda Huch, Carl von Ossietzky, Gabriele Tergit, Egon Erwin Kisch, Gottfried Benn oder den Mitgliedern der Familie Mann.

Wir sehen, wie schwierig es für den einzelnen sein kann, das Gesamtbild in den Blick zu bekommen. Viele können sich lange gar nicht vorstellen, dass ihre ehemals privilegierten Positionen, ihr Ruhm und ihr Erfolg, ihr Können und ihre gesellschaftliche Anerkennung innerhalb weniger Wochen völlig bedeutungslos geworden sind. Die Schauspielerin Therese Giehse, Freundin von Erika Mann, macht sich in einer Probenpause über Hitler lustig und wird prompt denunziert.

Doch Wittstock nimmt genauso den brutalen Straßenterror und die Opfer der Auseinandersetzungen zwischen SA, Kommunisten und SPD-Anhängern in den Blick.

Die Propagandaschlacht eskalierte, als die amerikanische Verfilmung von Im Westen nichts Neues in die deutschen Kinos kam. Am Tag nach der Premiere schickte Goebbels in Berlin und anderen Städten seine SA-Schläger in die Kinos, die Stinkbomben warfen, weiße Mäuse aussetzten, Zuschauer bedrohten oder verprügelten, bis die Vorstellungen abgebrochen werden mussten. Doch anstatt Film und Publikum zu schützen, knickten die Behörden ein und verboten nach fünf Tagen weitere Aufführungen ‚wegen Gefährdung des deutschen Ansehens.‘

Bedrückend auch die Szenen, in denen es um Heinrich Mann und Käthe Kollwitz geht, die aus der Preußischen Akademie der Künste rausgeworfen werden sollten, weil sie den Nazis unliebsame politische Aufrufe unterschrieben hatten. Kollwitz trat freiwillig aus. Mann entschloss sich ebenfalls zum Austritt, um das Fortbestehen der Akademie zu retten. Die Kapitel über das Verhalten der übrigen Mitglieder sowie den wenig subtilen Druck der Nazi-Bonzen lesen sich wie eine Lehrstunde in Demokratie-Demontage.

Die Hoffnungen, Hitler und seine Schergen unter Kontrolle halten und mit ihnen paktieren zu können, erweisen sich als naiv und gefährlich.

Ist der Tyrann samt seinen willfährigen Stiefelleckern erst einmal an der Macht, wird er genau das tun, was er seinen Anhängern versprochen hat (siehe auch die  Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz von Volk und Staat vom 28. Februar 1933). Das Unrecht wird zum Gesetz, es gibt keine Instanz mehr, die das Recht durchsetzt, der politische Gegner, der denkende Mensch, der Sündenbock ist vogelfrei, darf bestohlen, gejagt, eingesperrt, gefoltert und schließlich ermordet werden. Das Böse hat freie Bahn.

Bei einer Wahlkampfkundgebung kündigt der preußische Innenminister Hermann Göring an, wie er mit den Möglichkeiten umgehen wird, die ihm die neuen Notverordnungen einräumen: ‚Meine Maßnahmen werden nicht angekränkelt sein durch irgendwelche juristischen Bedenken. Meine Maßnahmen werden nicht angekränkelt sein durch irgendeine Bürokratie. Hier habe ich keine Gerechtigkeit zu üben, hier habe ich nur zu vernichten und auszurotten, weiter nichts!‘ (S. 218)

Wittstock hat hier ein verdichtetes, lehrreiches und auch spannendes Stück Zeitgeschichte mit zahllosen Querverbindungen vorgelegt, bei dem die denkbaren Parallelen zur Gegenwart schauderhaft beängstigend sind.

Und hier noch ein Werkstattbericht zur Entstehung des Buches.

Passend dazu wäre jetzt ein Besuch der Frankfurter Schirn. Dort läuft zurzeit die Ausstellung Kunst für keinen: DIE SCHIRN BELEUCH­TET MIT 140 WERKEN KÜNST­LE­RI­SCHE BIOGRA­FIEN ZWISCHEN 1933 UND 1945 ABSEITS DES NS-REGIMES.

Fundstück von Kafka

Auch wenn mir das Zitat von Franz Kafka (1883 – 1924) mit der Axt und dem Meer viel zu dramatisch, einseitig und apodiktisch ist, freue ich mich, den Brief gefunden zu haben, aus dem es stammt.

Kafka schrieb am 27. Januar 1904 an Oskar Pollak (1883 – 1915):

Lieber Oskar!

Du hast mir einen lieben Brief geschrieben, der entweder bald oder überhaupt nicht beantwortet werden wollte, und jetzt sind vierzehn Tage seitdem vorüber, ohne daß ich Dir geschrieben habe, das wäre an sich unverzeihlich, aber ich hatte Gründe. Fürs erste wollte ich nur gut Überlegtes Dir schreiben, weil mir die Antwort auf diesen Brief wichtiger schien als jeder andere frühere Brief an Dich – (geschah leider nicht); und fürs zweite habe ich Hebbels Tagebücher (an 1800 Seiten) in einem Zuge gelesen, während ich früher immer nur kleine Stückchen herausgebissen hatte, die mir ganz geschmacklos vorkamen. Dennoch fing ich es im Zusammenhange an, ganz spielerisch anfangs, bis mir aber endlich so zu Mute wurde wie einem Höhlenmenschen, der zuerst im Scherz und in langer Weile einen Block vor den Eingang seiner Höhle wälzt, dann aber, als der Block die Höhle dunkel macht und von der Luft absperrt, dumpf erschrickt und mit merkwürdigem Eifer den Stein wegzuschieben sucht. Der aber ist jetzt zehnmal schwerer geworden und der Mensch muß in Angst alle Kräfte spannen, ehe wieder Licht und Luft kommt. Ich konnte eben keine Feder in die Hand nehmen während dieser Tage, denn wenn man so ein Leben überblickt, das sich ohne Lücke wieder und wieder höher türmt, so hoch, daß man es kaum mit seinen Fernrohren erreicht, da kann das Gewissen nicht zur Ruhe kommen. Aber es tut gut, wenn das Gewissen breite Wunden bekommt, denn dadurch wird es empfindlicher für jeden Biß. Ich glaube, man sollte überhaupt nur solche Bücher lesen, die einen beißen und stechen. Wenn das Buch, das wir lesen, uns nicht mit einem Faustschlag auf den Schädel weckt, wozu lesen wir dann das Buch? Damit es uns glücklich macht, wie Du schreibst? Mein Gott, glücklich wären wir eben auch, wenn wir keine Bücher hätten, und solche Bücher, die uns glücklich machen, könnten wir zur Not selber schreiben. Wir brauchen aber die Bücher, die auf uns wirken wie ein Unglück, das uns sehr schmerzt, wie der Tod eines, den wir lieber hatten als uns, wie wenn wir in Wälder verstoßen würden, von allen Menschen weg, wie ein Selbstmord, ein Buch muß die Axt sein für das gefrorene Meer in uns. Das glaube ich.

Aber Du bist ja glücklich, Dein Brief glänzt förmlich, ich glaube, Du warst früher nur infolge des schlechten Umgangs unglücklich, es war ganz natürlich, im Schatten kann man sich nicht sonnen. Aber daß ich an Deinem Glück schuld bin, das glaubst Du nicht. Höchstens so: Ein Weiser, dessen Weisheit sich vor ihm selbst versteckte, kam mit einem Narren zusammen und redete ein Weilchen mit ihm, über scheinbar fernliegende Sachen. Als nun das Gespräch zu Ende war und der Narr nach Hause gehen wollte – er wohnte in einem Taubenschlag -, fällt ihm da der andere um den Hals, küßt ihn und schreit: danke, danke, danke. Warum? Die Narrheit des Narren war so groß gewesen, daß sich dem Weisen seine Weisheit zeigte.-

Es ist mir, als hätte ich Dir ein großes Unrecht getan und müßte Dich um Verzeihung bitten. Aber ich weiß von keinem Unrecht.

Dein Franz

Zitiert nach: Hans Jürgen Balmes (Hrsg.): Mein Erstes Buch – Autoren erzählen vom Lesen, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2002, S. 139 – 140

Aus: Franz Kafka: Briefe 1900 – 1912. Hg. Von H. G. Koch, Fischer Verlag 1999

Fundstück von Margrit Baur über das Nichtstun

Nichtstun bedeutet: eine Weile alles lassen, wie es ist. Mit Ärger und Wut im Bauch ist es nicht zu machen. Voraussetzung ist ein bißchen Nachsicht: gegenüber sich und der Welt. Eine unmerkliche Verschiebung der inneren Gewichte. Weil die Sonne scheint. Weil ich gut geschlafen habe. Weil mir ein Satz geglückt ist. Da wächst hinter der Vorsicht ein schüchternes Vertrauen auf, und ich kann die Hände öffnen, alle Pläne fahrenlassen, stillhalten. […] Ich finde Nichtstun eine wunderbare Sache. Ein wenig wie Kopfstehen: die Perspektiven werden durcheinandergerüttelt, und wenn man wieder auf die Füße kommt, sieht alles anders aus. Und außerdem (aber vielleicht wäre das eine Hauptsache) enthält es einen Keim zum Aufruhr, da es sich wirtschaftlich nicht verwerten läßt.

aus: Margrit Baur: Überleben, Suhrkamp, Frankfurt 1981, S. 152

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Fundstück von Reiner Kunze

Mir in der  Tat jedes Buch beschaffen zu können, das ich lesen will, gehört zu den Grundelementen des Gefühls, ein freier Mensch zu sein.

aus: Hans Jürgen Balmes (Hrsg.): Mein Erstes Buch – Autoren erzählen vom Lesen, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2002, S. 86

Margrit Baur: Überleben (1981)

Dieses spröde, strenge und doch so spannende Buch der Schweizer Schriftstellerin Margrit Baur (1937 – 2017) mit dem Untertitel Eine unsystematische Ermittlung gegen die Not aller Tage wäre mir ohne die Empfehlung von Magda Birkmann in ihrem Jahresrückblick nie untergekommen. 

Margrit Baur, zu der es im Netz nur dürftige Infos gibt, wird in diversen Literaturgeschichten erst gar nicht genannt. Ihre Werke sind nur noch antiquarisch zu bekommen.

Die Ich-Erzählerin hält quasi protokollarisch fest, wie sie dagegen anrennt, Lohnarbeit verrichten zu müssen, obwohl sie etwas ganz anderes tun möchte, nämlich schreiben. Schon auf der ersten Seite heißt es:

Nächstes Jahr werde ich vierzig. Das Behagen, das ich mir vom Älterwerden erhoffte, hat sich nicht eingestellt. Ich habe mich nicht gewöhnt: nicht an die Welt, nicht an mich in ihr. Ich habe versucht nachzuhelfen, mich einzurichten: fester Wohnsitz, festes Einkommen, fester Freund; ich habe mich mit all dem Festen zusammengerührt und gewartet, daß ein Behagen draus werde. Es wurde nicht. (S. 7)

Die unsystematische Ermittlung hangelt sich assoziativ an ihrem täglichen Ergehen entlang, da geht es immer wieder um die eintönige und verhasste Arbeit als Korrektor für Zeitungsanzeigen. Dieses Nebeneinander von Lohnarbeit und Schreiben kennzeichnete im Übrigen auch das Leben der Autorin.

Ich weiß: Ich und was mir passiert, das ist nichts Besonderes. Doch statt daß mich das tröstet, bringt es mich auf. Ich sehe: die Ohnmacht, die sich aus der Tatsache ihrer Alltäglichkeit und Allgemeinheit selbst sanktioniert. Was alle täglich leiden, kann kein Leiden sein. Das Nicht-Besondere ist nicht der Rede wert. Man kennt es und will es vergessen. (S. 107)

Aber auch der „echolose Raum“ der Einsamkeit wird zum Thema, die Unmöglichkeit, mit Hilfe der Sprache in Kontakt zu kommen, sich so auszudrücken, dass ein Missverstehen ausgeschlossen ist.  Gleichzeitig gibt sie zu: 

Aber es stimmt schon: Ich habe die Menschen nicht sehr gern. (S. 30)

Was mich täglich überrascht, ist die Unbefangenheit, mit der die Leute Gespräche führen. (S. 22)

Die Erzählerin beschreibt das Wetter oder macht sich ihre Gedanken zur Trennung zwischen privat und öffentlich und zur Distanz, die sie gegenüber ihren Kollegen empfindet. Sie versucht der Entfremdung zwischen ihr und ihrem Freund auf den Grund zu gehen, der ansonsten – so wie andere Bekannte oder Familienmitglieder – außen vor bleibt, und erwähnt die Bemühungen um eine andere Arbeitsstelle.

Hier will jemand seiner „Beklommenheit auf die Spur kommen“ (S. 13), und das scheint nur aus einer bestimmten Distanz heraus möglich zu sein. Das liest sich streckenweise spröde, sehr häufig in der „man“-Formulierung und manchmal sich selbst entfremdet, wenn die Ich-Erzählerin beispielsweise einen Kollegenausflug schildert, bei dem die Möglichkeit auf echte oder freundschaftliche Begegnung von vornherein kategorisch ausgeschlossen wird. Sie weiß sowohl um die Gefahr, zynisch zu werden, als auch um die Gefahr des Rückzugs.

Schon fange ich an, mich im Dämmer der verdunkelten Wohnung wohl zu fühlen. Eine Art Höhlengeborgenheit stellt sich ein. Abgeschieden vom Draußen und nun wirklich herausgelöst aus aller Umwelt, entdecke ich den gefährlichen Reiz des Rückzugs. Daß ich den Demütigungen und Verletzungen so gänzlich entzogen bin, scheint sogar den Verzicht auf mögliche Verständigung aufzuwiegen. (S. 43)

Meine freien Tage verbringe ich fast ausschließlich lesend – auch das eine Form der Betäubung und der Flucht. Ich mag mich nicht meinen eigenen Gedanken überlassen; denn am Ende aller Überlegungen steht die Notwendigkeit, mein Leben zu ändern, neben der Unmöglichkeit, es zu tun. Ich sitze fest. Wer würde dieser Einsicht nicht davonlaufen wollen? (S. 93)

Ein Erzählen fast ohne Spannungsbogen, ohne Handlung, aber um jeden Satz, jede Formulierung kämpfend, als ob da jemand ständig mit dem Kopf durch die Wand will und empört darüber ist, dass die Gesellschaft ihr die Zeit mit sinnlosen Tätigkeiten stiehlt, nur damit sie ein halbwegs ausreichendes Einkommen hat. Manchmal scheint sie geradezu beleidigt, dass man ihren wahren Wert nicht besser zu schätzen weiß, ihr mit fast 40 Jahren nichts Adäquates anzubieten hat. Natürlich hat auch sie für dieses Dilemma keine Lösung oder einen neuen Gesellschaftsentwurf parat. Gleichzeitig beeindruckt mich, dass sie sich nicht gewöhnen und abfinden will.

So viel, das ich noch will. Auch in diesen Herbst hinaus will ich, der mir jeden Morgen seine durchsichtigen Nebel vors Fenster hängt. […] Zwischen Wasser und Wald den verschwimmenden Umrissen der Hügel nachsinnen und mich selbst für eine Weile ins Unscharfe betten. Zeit haben. Still das Gesicht hinhalten, wenn beim unvermittelten Durchbruch der Sonne aller Glanz über mich herabstürzt. (S. 178)

Sie besteht auf einem inneren Raum, der nur ihr gehört, auch wenn sie darunter leidet, dass die alltägliche Arbeit im Büro sie müde macht und dann eigene kreative Arbeit kaum mehr möglich ist. Nur selten die Muße, etwas zu tun, was niemandem nützt.

Das Gescheite hängt mir zum Hals heraus. Ich werde mich jetzt über die Ansprüche der seriösen Leute hinwegsetzen und ein Bild malen. In Öl. Das kann ich zwar auch nicht, aber ich mache es gern. (S. 149)

Selten habe ich mir in einem so schmalen Band so viele Stellen markiert wie hier. 

Es ist wahr, meine Situation ist nicht danach, um mit Begeisterung Ich zu sagen. Ich bin nicht sehr überzeugt von der Person, die da in meinen Schuhen herumläuft. Aber trotzdem müßte sie als ein lebendiges, atmendes Wesen in irgendeiner Weise dingfest zu machen sein. Sie kann sich nicht dauernd außerhalb meiner Formulierungen herumdrücken, nur weil sie Angst hat vor dem Befund. (S. 17)

Am Ende möchte man sich in Nachahmung Baurs jeden Tag ein wenig Zeit nehmen und versuchen, so präzise, so unmissverständlich und schonungslos wie einem eben möglich, ein Fazit des Tages zu ziehen.

Weiterreden. Auch wenn mich das Klimpern in den eigenen Sätzen manchmal entmutigt. Das Schwätzen ist nicht so leicht abzustellen. (S. 143)

Man kann sich um das mühsame Schritt-vor-Schritt seiner Tage nicht drücken. Das will nun gelebt sein, und keiner nimmt es uns ab. (S. 167)

Nicht nur in dem zum Ausdruck gebrachten Unbehagen an fremdbestimmter und oft genug sinnfreier Tätigkeit empfinde ich das Buch als zeitlos:

Wenn mich schon vom Montagmorgen an nur die Erwartung eines noch sehr fernen Freitagabends aufrechterhält, […] wenn der ganze Arbeitstag hinterher nur eine Leerstelle im Gedächtnis ist, so kann man das möglicherweise überstehen – leben kann man das nicht. Da erweist sich jeder Tag als ein Loch, am Abend notdürftig zugeschüttet, doch am Morgen fällt man auf neue hinein. (S. 52)

Was für eine Welt, in der für Unzählige der Begriff von Freiheit mit dem Freitagabendgefühl identisch ist. (S. 32)

Kurz gesagt: Das Buch gehört neu aufgelegt. 

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Fundstück von Hans Jürgen Balmes

Jeder von uns hat irgendwann diese Liste [der Bücher, von denen man annimmt, sie in seinem Leben leider nicht mehr lesen zu können] im Kopf, trotzdem darf man die Ruhe nicht verlieren und die Lektüre fahrig werden lassen.

aus: Hans Jürgen Balmes (Hrsg.): Mein Erstes Buch – Autoren erzählen vom Lesen, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2002, S. 87

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Fundstück von Dieter Forte

Ich kann mich so sehr in einer Lesewelt verlieren, daß mir die wirkliche ganz fremd wird – was ja gefährlich sein kann, wenn man zum Beispiel aus einem Roman kommt, in dem es keine Autos gibt, und man über die Straße muß.

aus: Hans Jürgen Balmes (Hrsg.): Mein Erstes Buch – Autoren erzählen vom Lesen, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2002, S. 39

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Fundstück von Gerhard Roth

Jeder Leser und jeder wirklich leidenschaftlich Reisende empfindet das Lesen oder eben das Reisen als eine Art Desertieren aus seinen Lebensumständen. Ist man ein guter Reisender, verläßt man sein Zuhause mit dem winzigen Hintergedanken, nie mehr zurückzukehren. […] Die Würze einer Reise ist doch, irgendwohin zu gehen, wo Rückkehr keine Rolle mehr spielt. Sie ergibt sich ja automatisch, aber beim Aufbruch muß sie einem gleichgültig sein.

aus: Hans Jürgen Balmes (Hrsg.): Mein Erstes Buch – Autoren erzählen vom Lesen, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2002, S. 21

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Maria Wellershoff: Von Ort zu Ort – eine Jugend in Pommern (2010)

Meine Aufzeichnungen sollen nicht nur ein kleiner persönlicher Beitrag sein, in dem ich mich bemüht habe, das eigene Schicksal mit der Zeit- und Kriegsgeschichte zu vernetzen, sondern sie sind auch eine Liebeserklärung an die verlorene pommersche Heimat, an Trieglaff und Vahnerow. (S. 11)

Zunächst tat ich mich schwer mit der spröden, oft eher nüchternen Erzählweise der Kunsthistorikerin und Lektorin, die möglicherweise auch daher rührt, dass die Erinnerungen erst sechs Jahrzehnte nach den Geschehnissen festgehalten wurden (auch wenn unzählige Briefe – vor allem an das ehemalige Kindermädchen Inga – und tagebuchartige Einträge in ihren Taschenkalendern als Gedächtnisstütze vorhanden waren).

Es war, als ob sich auch Maria Wellershoff (1922 – 2021; geborene von Thadden) erst an ihre Geschichte hat herantasten müssen, indem sie die Gebäude und Funktion der verschiedenen Räume von Schloss und Gutshof beschreibt, in denen sich ein Großteil ihrer Kindheit abgespielt hat.

Man sollte sich also von den ersten Seiten nicht abschrecken lassen, denn irgendwann springt der Funke über, sind doch die Lebenserinnerungen der Maria Wellershoff an ihre Kindheit und Jugend wie ein Fernrohr in eine gänzlich andere Welt, die durch die Zeit des Nationalsozialismus und den Zweiten Weltkrieg endgültig verschwunden ist. Ehrlich geschrieben, diskret, manchmal selbstironisch, nie larmoyant, mit einer Reihe Fotos, einem hilfreichen Stammbaum und einer Landkarte zum Nachschlagen der Ortsnamen.

Maria Wellershoff war eines der Kinder von Adolf Gerhard Ludwig von Thadden-Trieglaff (1858 – 1932, alter pommerscher Adel) und seiner zweiten,  Jahrzehnte jüngeren Ehefrau, der Lehrerin Anna Barbara Blank (1895 – 1972).

Maria erzählt von ihrer eher spartanisch-sparsamen Kindheit auf dem Schloss in Trieglaff und später auf dem Gut in Vahnerow. Kleider wurden von Schwester zu Schwester weitergereicht, das Geld war durchaus knapp in der Familie des adligen Landrats. Der Vater spielte schon aufgrund seines Alters keine nennenswerte Rolle im Leben Marias. Er scheint vor allem erpicht darauf gewesen zu sein, dass sich die sechs Kinder aus der „zweiten Serie“ im Haus leise verhielten, damit er nicht von Kinderlärm gestört wurde, schließlich hatte er bereits fünf erwachsene Kinder aus erster Ehe. Diese waren – ebenso wie die weitere Verwandtschaft – nicht besonders glücklich über Tadden-Trieglaffs zweite Eheschließung mit der fast 40 Jahre jüngeren Frau gewesen, war Stiefmutter Barbara doch in ihrem Alter. Und dazu noch eine Bürgerliche.

Wir lesen, dass die Kinder frühestens ab sechs Jahren mit den Eltern zu Mittag essen durften, wenn man davon ausgehen konnte, dass sie über passable Tischmanieren verfügten. Sprechen war nur erlaubt, falls man sie etwas gefragt hatte. Es verwundert nicht, dass später unzählige Briefe Marias eher an das ehemalige Kindermädchen und die spätere Freundin der Familie, Irmgard (Inga) Meyer, gerichtet waren, die 1928 mit 18 Jahren als ausgebildete Kindergärtnerin in die Familie gekommen war.

Man lud zu geselligen literarischen Abenden ein, ging auf die Jagd und Jungen wurden ganz selbstverständlich bevorzugt. Ihr Bruder Adolf bekam mit sieben Jahren ein Reitpferd, wie sich das für den Sohn des Gutsbesitzers gehörte. Doch er war daran gar nicht interessiert. Und nur deshalb kam Maria in den Genuss, ein eigenes Pony zu haben.

Mit den „einfachen“ Arbeitern oder gar deren Kindern im Dorf hatte man keinen Kontakt und Adolf und Maria wurden von der Pfarrersfrau im Pfarrhaus unterrichtet. Eine Schultüte gab es nur für den Bruder. Als Maria den etwas älteren Bruder beim Lernen einholte, wurden sie dennoch weiterhin getrennt unterrichtet, es wäre sonst möglicherweise für den Jungen ein Gesichtsverlust gewesen, wenn die Schwester rascher gelernt hätte.

Kindliche Beschäftigungen, die traumatische Entfernung der Mandeln (die Betäubung hatte nicht ganz ausgereicht), Besuche auf den Nachbargütern, Schwimmen im See, Scharaden, Handarbeiten (ganz wichtig, vor allem wenn die Herren vorlasen), Urlaube an der Ostsee in Kolberger Deep. Der Zusammenhalt der Schwestern.

Es geht mit diversen – eher trostlosen – Schul- und Internatserfahrungen weiter. Nach der Untertertia am Greifenberger Gymnasium der Wechsel in das Internat, das Freiadlige Magdalenenstift in Altenburg in Thüringen, in dem die jüngste Schwester des Vaters von 1908 bis 1932 Pröpstin war. Dort erwirbt Maria den Realschulabschluss.

Der erste Blick in den großen, kahlen Schlafsaal war bestimmt schockierend: ein weiß gekalkter, schmuckloser Raum mit zwölf oder dreizehn schwarzen Eisenbetten, auf denen weißes Bettzeug lag. In einer Ecke war ein Holzverschlag, das sogenannte Kabuff, abgeteilt, olivgrün gestrichen, mit undurchsichtigen Glasfenstern: der karge Schlafplatz für eine Lehrerin, deren Aufgabe es war, für Ruhe zu sorgen, den Mädchen das leise Schwatzen zu verbieten. (S. 158)

Jede Schülerin hatte einen vielleicht eineinhalb Quadratmeter großen Platz, auf dem ein Tischchen mit Schubfach für die Waschutensilien stand, darauf eine Blechschüssel, darunter eine ovale Fußwanne. Einen Schemel hatte man auch. Man konnte, wenn man sich wusch, graue, an Eisenstangen befestigte Vorhänge zuziehen, man tat es aber nicht (außer man hatte „seine Tage“), damit gegenseitige Kontrolle möglich war. Wenn sich ein schamhafter Neuling vor fremden Blicken schützen wollte, wurden die Vorhänge rücksichtslos von älteren Schülerinnen zur Seite gezogen. (S. 159)

Auch wenn in Marias Internatsklasse von den 26 Schülerinnen „nur“ fünf oder sechs im BDM waren: Der Antisemitismus der Nationalsozialisten trat immer deutlicher zutage. Trotz der Hausschneiderin musste hin und wieder auch Kleidung gekauft werden:

Konfektion wurde im Kaufhaus Löwenberg gekauft, dem einzigen größeren Textilgeschäft in Greifenberg. Als vor dem Kaufhaus ein großes Schild stand mit der Aufschrift ‚Kauft nicht beim Juden‘ – das war im April 1933, kurz nach der Machtübernahme der Nazis – kümmerte sich unsere Mutter nicht darum, sie nahm mich an die Hand und ging mit mir in das Geschäft. Niemand hätte es gewagt, sie, die Frau Landrat, daran zu hindern. (S. 108)

Marias politisch liberal eingestellte Mutter war in ihrer konsequenten Ablehnung des Antisemitismus und ihrer kritischen Haltung gegenüber den Nazis für sie ein Vorbild. 1938 stellt die Mutter das Geld einer ihr aus England zugedachten Erbschaft zwei jüdischen Ärzten und deren Frauen als Bürgschaft zur Verfügung. Ohne diese Bürgschaft hätten die zwei Ehepaare nicht in die USA einreisen dürfen.

Eine wichtige Rolle bei Marias Ablehnung des Nazi-Regimes spielte sicherlich auch ihre Halbschwester Elisabeth von Thadden (1890 – 1944). Diese stand ebenfalls der Bekennenden Kirche nahe, war im Widerstand aktiv und wurde nach regimekritischen Äußerungen von dem Gestapo-Spitzel Paul Reckzeh denunziert, anschließend verhaftet und durch Freisler 1944 zum Tod durch Enthaupten verurteilt. Erst Monate später erfährt Maria, dass nicht die Gefängnisverwaltung ihr ein letztes Treffen mit Elisabeth verboten, sondern Elisabeth selbst ihren Besuch abgelehnt hatte.

Sie wollte nicht, dass ich sie in diesem demütigenden Zustand sähe: mit kurzgeschorenen Haaren, im gestreiften Sträflingskleid, abgemagert, mit eiternden und blutigen, von den Eisenfesseln aufgescheuerten Handgelenken. So sollte ich sie nicht in Erinnerung behalten. Wie hätte ich, einundzwanzig Jahre alt, auf diesen Anblick, auf den ich nicht vorbereitet war, reagiert? (S. 370)

Zwischen den Zeilen klingt dann noch mehr von der komplizierten Familienstruktur an. Wenn es beispielsweise heißt „Ado [Spitzname ihres Bruders Adolf], der wenig ältere Bruder, hat sich dem mütterlichen Einfluss früh entzogen.“ (S. 146), so ist das sicherlich auch eine Anspielung darauf, dass Adolf von Thadden nach dem Krieg in diversen rechtsextremistischen Parteien aktiv war und schließlich Bundesvorsitzender der NPD wurde.

Ihr Halbbruder Reinold von Thadden (1891 – 1976) hingegen trat der Bekennenden Kirche bei und war Gründer des Evangelischen Kirchentages.

Als Kriegsgefangene und später auch Zwangsarbeiter aus der Ukraine auf dem heimischen Gut einquartiert wurden, hat Marias Mutter dieser Aufgabe versucht, gewissenhaft und menschlich nachzukommen. Sie sorgte dafür, dass zwei ukrainische Frauen ihre Babys verstecken konnten anstatt sie bei einer NS-Dienststelle abzugeben.

Beim Einmarsch der russischen Truppen Anfang März 1945 haben sich die Ukrainer schützend vor unsere Mutter, Baba [Schwester Barbara] und das Hauspersonal gestellt. Den unbeliebten Inspektor gaben sie sofort ‚zum Abschuss frei‘. (S. 237)

In Berlin bereitet sich Maria auf ihre Abiturprüfung vor, nimmt Reitstunden und genießt die nach wie vor geöffneten Theater, Kinos und die Oper. Nach dem Abitur beschließt sie Kunstgeschichte, Geschichte und Archäologie zu studieren, zunächst in Freiburg, dann Leipzig, unterbrochen von Arbeitseinsätzen beim Arbeitsdienst.

Noch 1944 genießt man auf den pommerschen Gutshöfen Tanztees und isst Kuchen mit den Soldaten auf Heimaturlaub. Besonders schön, wenn man dabei nicht nur auf das Grammophon angewiesen war, sondern sich ein Pianist fand, der

sich an den Flügel setzte, den es in jedem Gutshaus gab, und die Walzer, Tangos und Foxtrotts spielte, temperamentvoll und laut. (S. 346)

Marias letzter Studienort während des Krieges ist – und ich war ein bisschen verblüfft – Prag, wo die tschechischen StudentInnen schon nicht mehr studieren durften, was sie zwar ungerecht und verwerflich findet, sie aber nicht von Prag abbringen kann, das sie als sicher empfindet.

Bei einem ihrer Ausflüge zusammen mit einer Freundin kommen sie am Konzentrationslager Theresienstadt vorbei.

Am Ortseingang wies ein großes Schild darauf hin, dass die Mindestgeschwindigkeit von sechzig Stundenkilometern bei der Durchfahrt eingehalten werden muss. Der Grund: Niemand sollte bei langsamem Fahren Gelegenheit haben, sich das KZ genau anzusehen. (S. 359)

Den Zug von traurigen Häftlingen, der ihnen auf der anderen Straßenseite entgegenkommt, hat sie ihr Leben lang nicht vergessen.

Einige der bizarrsten Szenen des Buches, die den Irrsinn und die Verblendung des Nationalsozialismus in dieser Lebensgeschichte wie in einem Brennglas einfangen, spielen in Tschechien. Ein Professor in Prag will seine Studentinnen vor unsinnigen und den Krieg möglicherweise noch verlängernden Einsätzen in der Rüstungsindustrie  bewahren. Dafür bietet er ihnen z. B. zügige Dissertationsmöglichkeiten an. Maria und eine gute Freundin bekommen eine andere Aufgabe: Im Auftrag einer SS-Dienststelle sollen sie in beschlagnahmten und enteigneten tschechischen Schlössern Kunstobjekte, Möbel, kostbares Geschirr, Gemälde und Teppiche, inventarisieren. Auf dass die Enteigneten nicht etwa noch etwas von ihrem Eigentum mitnahmen. Und das alles noch bis ins Jahr 1945 hinein, als der Krieg längst verloren war. In einem der beschlagnahmten Schlösser hatten sich Offiziere und Soldaten wohnlich eingerichtet und übten mit den edlen Pferden des rechtmäßigen Besitzers sogar die „komplizierten Schritte der Wiener Hofreitschule.“ (S. 390)

Als die Front näher rückt, kann ihr Bruder Ado sie gerade noch rechtzeitig unter dem Deckmantel eines angeblichen militärischen Auftrags aus Prag herausholen. Die beiden Geschwister kommen kurzzeitig in amerikanische Gefangenschaft und treffen schließlich einen Großteil der überwiegend ausgebombten Familienmitglieder in Göttingen. Als Ado versucht, Schwester Baba und die Mutter aus Pommern herauszuholen, gerät er in polnische Gefangenschaft, aus der er erst ein Jahr später entkommen kann. Baba und die Mutter werden 1946 aus Pommern ausgewiesen. Deren Hoffnung, die Heimat für ihre Kinder zu erhalten, war damit endgültig gescheitert.

Nach der Ermordung unseres Bruders Gerhard am 2. Oktober 1945 im Wald bei Hannoversch-Münden und dem allmählichen Begreifen, dass die pommersche Heimat endgültig verloren war, habe ich nichts mehr notiert, nie wieder einen Taschenkalender besessen. (S. 19)

Nach Kriegsende setzt Maria von Thadden ihr Studium in Göttingen fort und lernt dort ihren späteren Mann, den Literaturtheoretiker und Schriftsteller Dieter Wellershoff, kennen.

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Sven Stricker: Sörensen hat Angst (2016)

Da hatte ich doch im Januar 2021 die Erstausstrahlung von Sörensen hat Angst, des preisgekrönten Regiedebüts von Bjarne Mädel, verpasst. Aber diese Panne ließ sich dank Mediathek beheben, anschließend festgestellt, dass es sich dabei um die Verfilmung eines Kriminalromans des Schriftstellers und Hörspielregisseurs Sven Stricker handelt. Buch gekauft, gelesen und danach die zwei weiteren bisher erschienenen Bände inhaliert.

Ab sofort kann Stricker meinetwegen bis zu meiner und Sörensens Pensionierung Sörensen-Krimis schreiben, denn das dürfte das erste Mal sein, dass ich einen Kriminalroman gleich wieder von vorn beginnen würde, obwohl ich die Auflösung ja jetzt kenne. Vermutlich fallen einem dann noch viele weitere feine Details auf.

Und natürlich müssen die weiteren Bände von und mit Bjarne Mädel verfilmt werden. Doch um was bzw. wen geht es nun eigentlich?

Sörensen ist ein mittelalter Kriminalhauptkommissar mit einer veritablen Angststörung, die ihm schon sein Familienleben geschreddert hat. Seine Frau hat sich von ihm getrennt und seine kleine Tochter Lotta sieht er dementsprechend viel zu selten. Um allmählich wieder Tritt im Berufsleben zu fassen, nachdem er psychisch angeschlagen längere Zeit hatte aussetzen müssen, lässt er sich von Hamburg nach Katenbüll in Nordfriesland versetzen.

Dort, so hofft er, kann er eine ruhige Kugel schieben, doch – wie könnte es anders sein – schon kurz nach seiner Ankunft wird der Bürgermeister Katenbülls in seinem eigenen Pferdestall ermordet aufgefunden. Und so muss Sörensen, der schließlich seine Angststörung immer noch im Gepäck hat, sich möglichst rasch mit seiner Mitarbeiterin Jennifer Holstenbeck und dem Streber-Praktikanten Malte Schuster zusammenraufen, um herauszufinden, was tatsächlich in dieser eher trostlos wirkenden Kleinstadt vor sich geht.

Was mich hier so beeindruckt – und das gilt genauso für die weiteren Bände Sörensen fängt Feuer (2018) und Sörensen am Ende der Welt (2021) – ist diese hinreißend lässige, süchtig machende Mischung aus lakonischem Understatement und den differenziert ausgearbeiteten Figuren, die einem bei der Lektüre unversehens zu Menschen aus Fleisch und Blut werden, an deren Ergehen man Anteil nimmt. Ja, und spannend ist das Ganze natürlich auch, mit toll ausgearbeitetem Plot, zumal der Autor seine Fälle da ansiedelt, wo das gesellschaftliche Grauen hinter unseren spießigen deutschen Fassaden wohnt.

Stricker nimmt sich Zeit für seine Figuren, es geht weder um schnelle Action, Gemetzel oder billigen Klamauk. Selbst im Stau mit Sörensen zu stehen ist nicht langweilig, da Sörensen sein Gedankenkarussell nur ganz schlecht anhalten kann:

Kurz bevor sein Unmut autoaggressive Züge annehmen konnte, versuchte er die andere Seite zu betrachten, wie man es ihm geraten hatte. Vielleicht hatte es einen Unfall gegeben, dachte er. Das war bestimmt kein menschliches Versagen hier, sondern ein Unfall. Genau. Ein Unfall. Stand ja niemand freiwillig dumm in der Gegend herum. Schlimm war das. So ein Unfall. Viel schlimmer, als einfach nur sinnlos herumzustehen und sich selbst auf die Nerven zu gehen. Irgendjemandem da vorne ging es jetzt wahrscheinlich richtig schlecht. Vielleicht sogar mit Blut, Schweiß und Tränen und eingedrückter Windschutzscheibe. Da wollte er mal besser nichts gedacht haben. Und übte sich in Gleichmut, während seine Finger sich ins Lenkrad krallten. (S. 16)

Sörensen ist aber auch ein Kämpfer, der sich nicht von seiner Angst unterkriegen lassen will. Er beobachtet und hinterfragt quasi pausenlos sich und sein Tun und steht sich damit natürlich oft genug selbst in der Sonne, wobei es in Katenbüll sowieso meistens regnet. Und Cord mag ich auch. Natürlich.

‚Denn jeder Kopf ist ein eigenes Universum. Für Menschen, die noch nie in Katenbüll waren und nie etwas darüber gelesen oder gehört haben, existiert das gar nicht. Katenbüll. Unabhängig davon, ob da irgendwo ein paar Steine und Menschen in der Gegend herumstehen oder nicht. Was sich nicht in deinem Gehirn festsetzt, ist nicht da. Zumindest nicht in deiner Welt. Es gibt nichts außerhalb deines eigenen Gehirns. Wir sind alle in sich abgeschlossene Systeme. Verstehst du, was ich meine?‘ Jennifer zeigte ihm den Vogel […] ‚Philosophie-Grundkurs auf der Müllkippe. Super, Sörensen. Ich würd jetzt gerne mal raus hier.‘ Sörensen nickte. Das war eine angemessene Reaktion, das musste man zugeben. (S. 208)

Hier noch ein Interview mit Stricker und Mädel, das auch auf die Rolle der Angststörung, an der Sörensen leidet, näher eingeht.

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Rückblick aufs Lesejahr 2021

Auch dieses Jahr möchte ich einen Blick auf das vergangene Lese- und Blogjahr sowie auf gute Vorsätze werfen, bevor ich mir dann die immerneue Frage stelle, was ich als nächstes aus dem Regal ziehe.

Die Absicht, im nächsten Jahr weniger Bücher zu kaufen, ist kein Kokettieren mit meiner Buchkauflust, sondern der Einsicht geschuldet, dass ich mich inzwischen immer wieder selbst überrasche mit dem, was ich so alles in den Regalen finde, und ich außerdem ca. 180 Jahre alt werden müsste, um hier alles wegzulesen. Und irgendwann ist der Platz dann auch in der schönsten Hütte wirklich mal knapp. (Mein Mann meint, ich solle aber wenigstens ehrlicherweise erwähnen, dass ich mich deshalb im Dezember noch mal kräftig eingedeckt habe. Pffffht.)

Aber noch etwas anderes treibt mich um: Dies wird mein 10. Rückblick. Inzwischen hat sich doch einiges in der BloggerInnenlandschaft verändert. Einige neue tolle Blogs wie Kulturbowle sind dazu gekommen; andere haben sich zurückgezogen oder sind zu anderen Kanälen abgewandert. Ein großes Stück Leichtigkeit und Feinheit ist der Bloggerszene seit dem Tod von Petra Gust-Kazakos verloren gegangen. 

Dann wieder sinniere ich darüber, dass ich in der Zeit, die ich für einen Artikel benötige, genauso gut das nächste Buch hätte beginnen können. Überhaupt, die Zeit… Dem ein oder andern sind meine Beiträge zu lang, dem anderen enthalten sie vielleicht zu viele englische Zitate. Inzwischen stelle ich mir also ab und an die Sinnfrage. Wir werden sehen…

Doch nun zum eigentlichen Rückblick auf meine Bücher-Highlights des Jahres 2021.

Wiedergelesen habe ich dieses Jahr leider nur ein Buch, das hätte ich mir anders gewünscht

Folgende Krimis fand ich prima bis großartig

Wichtiges und knackiges Sachbuch zur Geschichte

  • Martin Pollack: Kaiser von Amerika – Die große Flucht aus Galizien, Deutscher Taschenbuch Verlag München, 2013

Freundliche Bücher

Seit letztem Jahr gibt es bei mir die Kategorie der freundlichen Bücher, also Bücher, die Menschenzugewandtheit ausstrahlen, was bitte nicht mit Sentimentalität oder Plattheit gleichzusetzen ist:

Romane, die mir außerdem im Gedächtnis bleiben

Und dann entwickelte sich – gar nicht groß geplant – eine kleine Reihe zu dem Schwerpunkt „Frauen und Literatur“

In dieser „Frauen und Literatur “-Reihe hat mich die Biografie von Paula Byrne zu Barbara Pym am meisten beeindruckt und mich daran erinnert, dass ich unbedingt mehr von Pym lesen möchte. 

Zu diesem Themenkreis finden sich auf meinem Blog noch die folgenden Biografien und Autobiografien

Allen LeserInnen an dieser Stelle ein kräftiges Dankeschön für eure Besuche und Kommentare und auch für die (leider) unzähligen tollen, verführerischen Tipps und Anregungen auf euren eigenen Blogs, denen ich oft leider kein bisschen widerstehen konnte. Siehe oben, Stichwort gute Vorsätze. 

Kommt alle wohlbehalten ins neue Jahr, das euch reich beschenken möge, und habt immer ein gutes Buch anbei.

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Paula Byrne: The Adventures of Miss Barbara Pym (2021)

Die Biografie von Paula Byrne zu der britischen Schriftstellerin Barbara Mary Crampton Pym, die durch diverse Neuübersetzungen allmählich auch in Deutschland bekannter wird, ist eine riesengroße Lesefreude. Informativ, unterhaltsam und auch beglückend, da steckt das ganze Leben drin. Die über 600 Seiten lasen sich weg wie nichts. Oder genauer gesagt, wie ein Roman selbst.

Man nimmt an Pyms Leben Anteil, weil es der schwungvollen, aber nicht unkritischen Biografin gelingt, eine für Pym angemessene Form und Sprache zu finden. Hier passt einfach alles: der Stil, die Recherche, die einem – wenn man nicht aufpasst – gleich wieder Bücher auf die Wunschliste setzt, sowie ein interessantes Leben der Hauptperson mit seinen diversen Höhen und Tiefen, eingebettet in sich rasant ändernde gesellschaftliche Rahmenbedingungen. Dazu kommt, dass Byrne auf viele Briefe und Tagebücher zurückgreifen kann, aus denen man so wunderbar zitieren kann.

Barbara Pym wurde 1913 geboren, ihr Vater war Anwalt. Die Familie kann ihren beiden Töchtern – Barbaras Schwester Hilary wurde 1916 geboren – ein Studium in Oxford finanzieren, wobei damit zunächst nicht zwingend eine berufliche Tätigkeit angestrebt wurde. Barbara träumt jedoch schon als Studentin davon, Schriftstellerin zu werden.

Im Nachhinein kann man vermutlich von Glück sprechen, dass ihr erster Roman Some Tame Gazelle – den sie schon 1934 geschrieben hat – erst 1950 veröffentlicht wird. Bis dahin hatten ihr Freunde, eigene Einsicht und die politische Entwicklung deutlich genug vor Augen geführt, dass die politisch naiven Szenen des Buches, die im Nazi-Deutschland der 1930er Jahre spielten und den Nationalsozialismus eher als drollige Randerscheinung abtaten, restlos gestrichen gehörten.

Ihr Studium der englischen Literatur am Frauen-College St Hilda‘s genießt Pym in vollen Zügen. Schon allein für diese Einblicke in eine ganz andere Welt hätte sich die Lektüre gelohnt.

Rules dated back to ancient times. Black gowns had to be worn, chapel attended, gate hours kept. Most societies remained male preserves. […] Male dining clubs flourished and were riotous events resulting in shattered windows, broken furniture and damaged flowerbeds. […] St Hilda‘s was a particularly strict college, with firm rules about gentlemen callers. Undergraduates were permitted to receive gentlemen friends not related to them on Tuesday afternoons only. The gates closed at 9.10 p.m. As late as the 1990s, students had to write down the name of their gentlemen visitors, and if they stayed the night that information had to be submitted to the porter‘s lodge. […] Punishment was fierce for transgression of rules – particularly so for women. […] As late as 1961, St Hilda‘s expelled a female undergraduate discovered with a man in her room after the gates had closed. (S. 24/25)

Allerdings waren besonders die männlichen Studierenden trotz der strengen Vorschriften wohl auch immer recht gewitzt, wenn es darum ging, sich bei Regelverstößen nicht erwischen zu lassen, und im geradezu aberwitzigen Alkoholkonsum sah man anscheinend ohnehin kein Problem.

Pym jedenfalls ist erst einmal so fasziniert von den Kinos, den Partys, der wunderbaren Architektur und vor allem den Gelegenheiten zum Flirten, dass sie am Ende des ersten Semesters feststellt, dass sie in Zukunft wohl etwas fleißiger würde studieren müssen.

Im Mai 1933 hat sie dann die erste Verabredung mit dem von ihr angebeteten etwas älteren Studenten Henry Harvey. Zusammen mit seinem homosexuellen Freund Robert „Jock“ Liddell werden die drei nahezu unzertrennlich. Für Pym ist die Liebe zu Harvey der Beginn einer jahrelangen Obsession. Fast ein Jahr später schreibt sie in ihr Tagebuch:

I am beginning to feel the wee-est bit hostile towards Henry, and to think that the glamour of being his doormat is wearing off. (S. 100)

Harvey behandelt sie oft miserabel, allerdings dauert es Jahre inclusive diverser Rückfälle, bis sie sich endgültig eingesteht, dass er sie nur als Spielzeug und sexuellen Lückenfüller benutzt hat und sie ihm mit ihrer unkritischen Verehrung vermutlich nur auf die Nerven gefallen war. Er hat keine Skrupel, sie als „common property“ zu beschimpfen oder sie in Begleitung betrunkener Männer zurückzulassen und sich anschließend wieder die Socken von ihr stopfen zu lassen.

Henry‘s dreadful behaviour set the pattern for Pym‘s relationships with other men: the more badly they treated her, the more deeply in love she felt. The worst aspect of it all was that she knew this and was powerless to stop herself. (S. 90)

Dennoch bleiben die drei ein Leben lang in Kontakt und Robert Liddell, der später selbst schreibt, erweist sich später als unfassbar guter Freund, der den Weg Pyms zur Schriftstellerei mit Klugheit und der nötigen Sturheit begleitet.

Ein weiterer Mosaikstein in Barbaras Lebenslauf sind ihre mehrmaligen Besuche im Nazi-Deutschland der dreißiger Jahre. Pym hatte an der Universität Deutsch gelernt und war von deutschen Filmen und der Literatur begeistert. 1934 fährt sie das erste Mal mit einer Studentengruppe aus Oxford nach Deutschland. Tausende taten es ihr gleich; die Bemühungen Goebbels, Deutschland als ein wunderbares Land zu präsentieren, trugen Früchte.

‘Germany Invites You‘ claimed the Thomas Cook & Son posters showing images of beautiful young people in lederhosen and Tyrolean hats, fairyland castles and mountain ranges framing the background. (S. 106)

Pym verliebt sich in die vermeintliche deutsche Ordnung, das Land und den attraktiven SS-Mann Friedbert Glück. Politisch ist und bleibt sie noch längere Zeit völlig unbedarft. Den allgegenwärtigen Judenhass und die Hetze teilt sie nicht, kann sie aber völlig ausblenden. Sie ist am Boden zerstört, als sie nach ihrer Rückkehr von ihrer ersten Deutschlandreise ihre kleine Hakenkreuz-Brosche verliert, die ihr der SS-Mann Glück geschenkt hat. Noch 1938 reist sie gegen den Willen ihrer Familie und ihrer Freunde nach Deutschland und anschließend nach Polen, um dort die Kinder einer jüdischen Familie zu unterrichten. Doch schon wenige Wochen später verschlechtert sich die politische Situation, sie kehrt nach England zurück und ist wie vom Donner gerührt, als es tatsächlich zum Kriegseintritt Großbritanniens kommt.

Während des Krieges tritt sie dem Women‘s Voluntary Service bei und hilft u. a. ihrer Mutter, die evakuierte Kinder in ihrem Haus aufnimmt. Das ist das erste Mal, das Pym in intensiveren Kontakt mit der Arbeiterklasse kommt, was sie durchaus das ein oder andere Mal befremdlich findet. 1941 beginnt sie für die Zensurbehörde in Bristol zu arbeiten, wo ihre Deutschkenntnisse gefragt sind. Dort lebt sie mit ihrer Schwester Hilary, die für die BBC arbeitet, und weiteren Erwachsenen sowie einigen Kindern in einem Haus zusammen.

In ihrer Mitbewohnerin Honor Wyatt findet Pym eine gute Freundin und Mentorin. Mit deren getrennt von Honor lebendem Mann Gordon Glover hat Pym eine weitere unglückliche Liebesaffäre; der charmante Mann teilt ihre Liebe zu Jane Austen und macht sie bekannt mit den Trivia von Logan Pearsall Smith. Doch schon nach zwei Monaten beendet er die Beziehung, im Gegensatz zu Pym hatte er kein Interesse an einer langfristigen Beziehung. Auch diese Affäre hinterlässt tiefe Wunden.

Um ihrer Niedergeschlagenheit zu entkommen, bewirbt sie sich bei dem Women’s Royal Naval Service (Wrens). Sie wird angenommen und so führt sie ihre Arbeit für die Zensurbehörde bis nach Italien, wo sie in Neapel stationiert ist.

1945 ziehen Barbara und Hilary, die sich inzwischen von ihrem Mann getrennt hat, in eine gemeinsame Wohnung in London.

From this time on, Barbara and Hilary Pym would live together in a manner envisaged in the novel Barbara had written when she was twenty-two. The sisters were extremely compatible, shared the same jokes and lived in great harmony together, though each had their own circles of friends. (S. 381)

1946 beginnt sie, für das International Institute of African Languages and Cultures zu arbeiten. Sie findet sich allmählich mit dem Gedanken ab, dass sie wohl nie heiraten und Kinder haben wird.

‚Maybe I shall be able to keep my illusions as it doesn‘t look like I shall ever get married.‘ (S. 380)

Stattdessen wird ihr immer wichtiger, endlich einen Verleger für Some Tame Gazelle zu finden. 1950 ist es so weit und Cape veröffentlicht ihren ersten Roman. Schon 1952 erscheint Excellent Women, der Roman, den viele für ihr Meisterwerk halten. Sie bekommt großartige Kritiken, genießt das Leben als frisch gebackene Autorin und ihre Begegnungen mit Größen wie Elizabeth Taylor oder Elizabeth Bowen. Auch ihre finanzielle Situation entspannt sich zusehends.

Sie veröffentlicht bis 1961 sechs Romane, die alle ihre Leserschaft finden und von den Kritikern und anderen Autoren geschätzt werden. Der Dichter und Schriftsteller Philip Larkin schreibt ihr nach dem Erscheinen von No Fond Return of Love (1961) einen begeisterten Brief, der Beginn einer intensiven und herzlichen (Brief-)Freundschaft. Doch es sollte 15 Jahre dauern, bis sich die beiden das erste Mal begegnen. Die Freundschaft wird bis zu Barbaras Tod 1980 andauern.

1963 entpuppt sich als eines der schlimmsten Jahre für Pym. Der Winter ist nicht nur der kälteste in England seit über 200 Jahren – die Schwestern leben in einem Haus ohne Zentralheizung -, sie werden auch noch zweimal ausgeraubt. In dem Monat, in dem die Beatles Please, Please Me herausbringen, dann der Schock: Pyms Verleger Tom Maschler vom Verlagshaus Cape erklärt ihr brieflich, dass ihre Bücher nicht mehr zeitgemäß, ja altmodisch seien. Er lehne die Veröffentlichung ihrer weiteren Werke ab. Es findet sich auch kein anderes Verlagshaus, das in den Sechzigern glaubt, dass sich diese Bücher über alte Jungfern, die jeden Sonntag zur Kirche gehen, noch verkaufen. Und so bleibt An Unsuitable Attachment in der Schublade liegen und wird erst nach dem Tod der Autorin 1982 veröffentlicht.

She [Barbara Pym] was one of the most liberated, independent women of her time. Ever since Oxford, she had been sexually active and unashamed of being so. One of her friends explained: ‚You see, Barbara liked sex‘. Nor did she feel the need to settle down to a conventional married life, despite several offers. The trouble was, her novels of quiet female independence did not exactly brim with sex, drugs and rock and roll. (S. 487)

Die folgenden 14 Jahre nennt Pym ihre „wilderness years“, Jahre, in denen sie schreibt, ihre Romane überarbeitet und doch keinen Verleger findet. Dazu kommen finanzielle Sorgen. Sie verdient am anthropologischen Institut nicht besonders viel, zudem hatten sie und Hilary ihren Vater finanziell unterstützt, als dieser Bankrott gegangen war.

Larkin ist empört, als er erfährt, dass auch Faber, sein eigener Verlag, nichts von Pym veröffentlichen will. Er schreibt im August 1965 sehr hellsichtig an Charles Monteith:

Personally, too, I feel it is a great shame if ordinary sane novels about ordinary sane people doing ordinary sane things can‘t find a publisher these days. This is in the tradition of Jane Austen & Trollope and I refuse to believe that no one wants its successors today. (S. 521)

I like to read about people who have done nothing spectacular, who aren‘t beautiful or lucky, who try to behave well in the limited field of activity they command, but who can see, in little autumnal moments of vision, that the so-called big experiences of life are going to miss them. […] presented not with self-pity or despair or romanticism, but with realistic firmness & even humour. (S. 521)

Hier klingt auch an, was Pym immer wichtig war: die Bedeutung kleiner, unscheinbarer Details, das Gewöhnliche, das Ausloten innerer Zustände scheinbar uninteressanter Menschen.

Pym‘s interest in trivia, ephemera, the life of ordinary things, roots her novels into specific times and yet they somehow transcend the quotidian and take on a timeless quality. As with Jane Austen, her realism is what enables her readers to inhabit her world, her characters, her sense of place and mood. (S. 578)

1971 wird bei Pym Brustkrebs diagnostiziert. Sie wird unverzüglich operiert. 1973 geht sie in Rente.

Im Januar 1977 passiert dann, womit niemand mehr gerechnet hat. Das Times Literaray Supplement hatte anerkannte Kritiker und Schriftsteller sowohl nach maßlos überschätzten als auch sträflich unterschätzten AutorInnen des 20. Jahrhunderts gefragt. Nur Pym wird zweimal als die am meisten unterschätzte Schriftstellerin genannt, einmal von ihrem Freund Philip Larkin, der sich schon seit Jahren für sie eingesetzt hatte, aber auch von dem Hochschullehrer, Biografen und Schriftsteller Lord David Cecil.

All of a sudden, Pym was hot news. Radio Oxford came for an interview; letters poured in from friends, and the telephone rang constantly. (S. 571)

Macmillan erklärt sich sofort bereit, ihren Roman Quartet in Autumn veröffentlichen. Das Buch schafft es auf Anhieb auf die Shortlist des Booker Prizes. Auch andere lange in der Schublade vor sich hin dämmernde Titel werden nun von ihr veröffentlicht; in Amerika wird ihr Name zum ersten Mal überhaupt wahrgenommen.

Then came another great accolade: she was invited to appear on BBC Radio 4‘s flagship programme Desert Island Discs. (S. 586)

Die Sendung wird im Juli 1978 aufgenommen. Die Frage, was sie auswählen würde, wenn sie nur ein einziges Musikstück auf die Insel mitnehmen dürfe, beantwortet sie mit dem Weihnachtslied „In the bleak midwinter“, gesungen vom Chor des King‘s College, Oxford, denn es vereine Lyrik, Musik und den christlichen Glauben.

Barbara stirbt 1980 im Alter von 66 Jahren, der Krebs war zurückgekehrt. Fortan setzt sich Hilary, ihre Schwester, zusammen mit ihrer beider Freundin Helen Hunt für das Vermächtnis der Autorin ein. Die Grabstätte der beiden Schwestern – Hilary stirbt 2004 – befindet sich in Finstock, ihrem letzten gemeinsamen Wohnort.

Hier eine Interpretation von In the bleak midwinter von Dan Fogelberg.

Und noch ein Satz aus ihrem Tagebuch:

‘Everything seems gloomy and dark when you‘re lying awake in the middle of the night. One day, perhaps soon – it will be better.‘ (S. 352)

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Laura Claridge: Blanche Knopf – The Lady with the Borzoi (2016)

Der hinreißenden Biografie zu Blanche Knopf, dieser wichtigen Frau der amerikanischen Verlagswelt, würde ich eine Übersetzung ins Deutsche sehr wünschen, da Knopf in ihrer Zusammenarbeit mit unzähligen heute weltbekannten Schriftstellern und Schriftstellerinnen den amerikanischen Lesegeschmack in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wohl wie wenige andere geprägt hat.

Blanche Knopf (1894 – 1966) gründete, da war sie gerade mal 20 Jahre alt, zusammen mit ihrem zwei Jahre Ehemann Alfred Abraham Knopf 1915 in New York den Knopf Verlag. Zunächst verschafften sie sich eine finanzielle Grundlage, indem sie dem amerikanischen Publikum erstmals Übersetzungen bestimmter  französische Romane anboten. Doch Blanche hatte von Anfang an ein untrügliches literarisches Gespür, mit dem sie dem Verlag Schriftstellerinnen wie Willa Cather, Muriel Spark oder Elizabeth Bowen zuführte und oft genug auch selbst betreute.

Sie gab die ersten amerikanischen Übersetzungen vieler europäischer Klassiker in Auftrag und gleichzeitig bot sie neuen, unerfahrenen SchriftstellerInnen eine Publikationsmöglichkeit, wenn sie von deren Qualität überzeugt war. Sie irrte sich selten, scheiterte allerdings ab und an daran, dass ihr Mann, der für den finanziellen Rahmen zuständig war, nicht immer bereit war, die entsprechenden Vorschüsse zu zahlen, wenn sie ihm zu hoch erschienen. Blanche ist es zu verdanken, dass Autoren wie Raymond Chandler, Dashiell Hammett und James M. Cain aus der literarischen Schmuddelecke geholt und durch die Veröffentlichung in ihrem Verlag als ernsthafte Autoren anerkannt wurden.

Dank der ausgezeichneten Verbindungen der Knopfs zu Carl van Vechten fanden auch AutorInnen der Harlem Renaissance bei den Knopfs eine verlegerische Heimat, wie z. B. Langston Hughes, James Baldwin oder Nella Larsen. Dass Schwarze bei ihnen und ihren Freunden ein- und ausgingen, war für Blanche eine Selbstverständlichkeit.

Später betreute sie Größen wie Siegmund Freud, Simone de Beauvoir, Albert Camus und Schriftsteller im Exil wie Thomas Mann, der sie einmal als die „Seele des Verlags“ bezeichnete.

Daneben hatte Blanche einen Blick auf das, was gesellschaftlich relevant war oder werden würde, sodass auch grundlegende journalistische Werke von den Knopfs publiziert wurden. Ihr Leben lang reiste sie durch Europa, aber auch durch Lateinamerika auf der Suche nach neuen Werken für den Verlag.

Allerdings hat diese Erfolgsgeschichte von Anfang an einen dunklen Hintergrund. Blanche und Albert hatten vor der Hochzeit vereinbart, dass der Verlag von ihnen gleichberechtigt geführt werden sollte. Nach der Hochzeit wollte der stockkonservative Albert mit den fadenscheinigsten Begründungen nichts mehr davon wissen. Folglich besaß er 75 Prozent des Verlags, sie die übrigen 25 Prozent. Auch ihr Mädchenname Wolf war auf einmal im Firmennamen nicht mehr unterzubringen. Bei Jubiläen und öffentlichen Würdigungen vergass er schon mal, den Namen seiner Frau zu erwähnen, oder brüstete sich mit „ihren“ AutorInnen.

Ihre Zusammenarbeit war dementsprechend – trotz eigentlich klar getrennter Aufgabenbereiche – stürmisch. Er gaukelte ihr vor, dass sie im Falle einer Scheidung nie wieder eine Anstellung in irgendeinem New Yorker Verlagshaus finden würde. Da Blanche jedoch an dieser Arbeit mit ganzem Herzen hing, blieb sie. Die Vorstandssitzungen waren legendär katastrophal, die beiden Eheleute schrieen sich an und provozierten sich bis aufs Blut. Ihr einziger Sohn Pat meinte später, dass der Vater seine Mutter auch geschlagen habe. Doch derlei sei in der feinen Gesellschaft, zu der die Knopfs sich dank ihres unglaublichen Erfolgs emporgearbeitet hatten, immer totgeschwiegen worden.

Ständig war Blanche in Machtkämpfe gegen ihren Mann und ihren Schwiegervater, verwickelt, die sie regelmäßig verlor. Alfred verehrte seinen tyrannischen Vater Sam und wagte keinerlei Widerrede, vielleicht als Überkompensation dafür, dass Sam nicht ganz unschuldig am Selbstmord von Alfreds Mutter gewesen war.

Blanche entwickelte eine Essstörung und hatte irgendwann chronisches Untergewicht, das nie wirklich thematisiert wurde. Sie hatte diverse Liebhaber, während Alfred lieber zu Prostituierten ging, zu denen er dann später auch seinen Sohn mitnahm. Und ganz, ganz selten gibt es Momente, bei denen der Leser denkt, dass der eine gänzlich ohne den anderen wohl auch wieder nicht hätte sein wollen. 

Als Blanche gegen Ende ihres Lebens an Krebs erkrankt, nimmt niemand das Wort in den Mund. Das schickte sich nicht. Sie lässt nur wenige Eingeweihte von ihrer Erkrankung wissen und arbeitet buchstäblich bis zum Schluss für ihre SchriftstellerInnen, ihren Verlag.

Blanche Knopfs Leben ist ein eindrückliches Lehrstück darüber, wie Frauen in der öffentlichen Anerkennung hinter dem Mann zurückstehen mussten, selbst wenn sie – wie in diesem Fall – wohl für mindestens 50 Prozent, wenn nicht mehr, für den gemeinsamen Erfolg verantwortlich waren. Dutzende Nobel- und Pulitzerpreisträger wurden bisher von Knopf verlegt.

Doch gleichzeitig tritt einem auf diesen Seiten eine faszinierende Frau entgegen. Stets in teure Designerkleidung gewandet, großzügig, begabt, einsam, hundeverrückt, gesellig, erfolgreich, belesen, mit den kulturellen Größen ihrer Zeit auf Du und Du, lebenshungrig und absolut beeindruckend.

Dass Blanche Knopf kaum eigene Aufzeichnungen oder Tagebücher hinterlassen hat und man ihren Empfindungen nicht immer nahekommt, habe ich an der ein oder anderen Stelle bedauert. Allerdings lässt sich vieles zwischen den Zeilen erschließen und es ändert nichts daran, wie spannend, wie längst überfällig sich diese Biografie liest.

Hier ein Audio-Interview mit Laura Claridge auf YouTube und zwei Fotos von Blanche und Alfred Knopf.

Wer noch weiterstöbern will, dem sei die Biografie The Tastemaker Carl van Vechten and the Birth of Modern America (2014) von Edward White empfohlen. Anhand dieser schillernden, spannenden, aber keinesfalls immer sympathischen Figur lässt sich tatsächlich Amerikas Weg in die Moderne nachzeichnen. Auch van Vechtens Weg als Förderer und Unterstützer der schwarzen AutorInnen der Harlem Renaissance wird in seiner ganzen Zwiespältigkeit nachgezeichnet. 

Maryla Szymiczkowa: Karolina or the Torn Curtain (OA 2016)

Als ich diesen polnischen Krimi gekauft habe, wollte ich mich einfach ein bisschen unterhalten lassen, zumal mir der Schauplatz – Krakau gegen Ende des 19. Jahrhunderts – reizvoll erschien. Doch dann passierten seltsame Dinge. Dass Kriminalromane mich nämlich dazu bringen, im Anschluss mit wachsender Fassungslosigkeit ein Sachbuch zu lesen, war mir zuvor noch nie passiert. Doch von vorn.

Unter dem Künstlernamen Maryla Szymiczkowa haben der Dichter, Übersetzer und Autor Jacek Dehnel (*1980) und sein Mann, der Historiker Piotr Tarczynski, inzwischen mehrere Bände um ihre Protagonistin Zofia Turbotyńska veröffentlicht.

Besagte Dame ist 38, kinderlos und Gattin eines Anatomieprofessors in Krakau. Die Handlung des zweiten Bandes, um den es hier gehen soll, beginnt Ostern 1895. Zofia ist mit der Beaufsichtigung des Haushalts unterfordert und hat dementsprechend Zeit, etwas genauer hinzuschauen, als ihre junge und hübsche Zofe Karolina aus heiterem Himmel ihre Kündigung einreicht, spurlos verschwindet und am nächsten Tag ermordet aufgefunden wird.

Die Polizei gibt sich rasch mit Erklärungen zufrieden, glaubt, den Täter ausfindig gemacht zu haben, und möchte zur Tagesordnung übergehen. Zofia allerdings entdeckt immer weitere Ungereimtheiten und mithilfe ihrer Köchin Franciszka kommt sie einem Verbrechen auf die Spur, das ihre schlimmsten Träume übersteigt, und bis zur endgültigen Aufklärung des Falls lernt sie Dinge über ihre eigene Stadt, vor denen das satte Bürgertum sonst lieber fest die Augen verschließt.

Das liest sich spannend und kurzweilig. Dabei ist die Protagonistin keineswegs ein reiner Sympathieträger. Sie ist ganz Kind ihrer Zeit, unglaublich versnobt, hadert mit dem halben freien Tag pro Woche, der ihren Bediensteten zusteht, und blickt auf „niedere“, d. h. mittellose Gesellschaftsschichten herunter. Aber sie hat einen Kopf, den sie benutzt, ist schlagfertig, durchsetzungsfreudig, an der Wahrheit interessiert und weiß ihren Mann um den kleinen Finger zu wickeln. Und nichts bereitet ihr mehr Befriedigung, als wenn sie zu wichtigen gesellschaftlichen Anlässen glänzen oder dem Ansehen und der Karriere ihres Mannes etwas Gutes tun kann. Da sich für eine Frau ihrer Schicht allzu viel Aktivität und Hirn nicht schickt, müssen ihre Ermittlungen vor ihrem stockkonservativen, aber nicht unliebenswürdigen Mann möglichst geheimgehalten werden.

Diesen Krimi zeichnen drei Dinge aus: eine spannende, verschachtelte Handlung, die ihren Kern tatsächlichen historischen Umständen verdankt, einen exquisit recherchierten Schauplatz (am Ende weiß man mehr über diese Stadt und die zeitgenössischen Strömungen, als man vielleicht zunächst hätte wissen wollen). Das dritte Kennzeichen ist der gefährliche doppelte Boden für die LeserInnen.

Denn man könnte den Krimi als reine Unterhaltung lesen, doch spätestens nach der Lektüre fängt man vermutlich an zu recherchieren und dann passiert etwas, das ich in diesem Fall weder geplant noch erwartet hatte. Man weiß mehr über die schier grenzenlose Armut und Ausweglosigkeit in einem Landstrich namens Galizien, die Ende des 19. Jahrhunderts und Anfang des 20. Jahrhunderts Hunderttausende in die Emigration – vor allem nach Amerika – getrieben hat.

Ins Englische wurden die Bücher übrigens von Antonia Lloyd-Jones übersetzt.

Weiterführende Literatur – und auch ohne Krimihintergrund unbedingt empfehlenswert:

Martin Pollack: Kaiser von Amerika – Die große Flucht aus Galizien, Deutscher Taschenbuch Verlag München, 2013

Åsne Seierstad: Der Buchhändler aus Kabul (OA 2002)

In dem Interview von Constanze Matthes mit Sonja Zekri findet sich dieser schöne Satz:

Als Leserin oder Leser will man den Schock der Lektüre, das Innehalten, wenn man begreift, dass man auf diese Weise die Welt, den Menschen oder sich selbst noch nicht gesehen hat.

Nach der Lektüre von Der Buchhändler aus Kabul von Åsne Seierstad, das Holger Wolandt aus dem Norwegischen ins Deutsche übersetzte, weiß ich, dass der Satz von Zekri auch zwiespältig sein kann.

Seierstad (*1970), die berühmte Journalistin aus dem norwegischen Lillehammer, von der u. a. der Titel Einer von uns. Die Geschichte eines Massenmörders über Anders Breivik stammt, landete mit Der Buchhändler aus Kabul einen internationalen Bestseller, von der Kritik gefeiert und in 42 Sprachen übersetzt.

Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 folgte Seierstad November 2001 den Truppen der Nordallianz, die die Schlacht um Kabul gewannen und die Taliban vertrieben. Dort, in Kabul lernt sie den unerschrockenen Buchhändler Shah Mohammad Rais kennen, der allen Machthabern, seien es Kommunisten, Mudschaheddin oder Taliban, Gefängnis und Bücherverbrennungen getrotzt und ein großes Buchimperium aufgebaut hat.

Sie sei beeindruckt gewesen von diesem Mann und eines Tages habe er er sie zu sich nach Hause eingeladen, wo sie die Mitglieder seiner Großfamilie kennenlernt.

Als ich an diesem Abend heimging, sagte ich zu mir selbst: ‚Das ist Afghanistan. Es wäre interessant, ein Buch über diese Familie zu schreiben.‘ Am Tag darauf suchte ich Herrn Rais in seinem Buchladen auf und erzählte ihm von meiner Idee. ‚Vielen Dank‘, sagte er nur. ‚Aber das bedeutet, dass ich bei Ihnen wohnen müsste.‘ ‚Willkommen.‘ ‚Ich müsste die ganze Zeit bei Ihnen sein und leben wie Sie. Mit Ihnen, Ihren Frauen, Schwestern und Söhnen.‘ ‚Willkommen‘, wiederholte er nur. (S. 12)

Und hier stutzte ich das erste Mal: Wie befremdlich, sich selbst einzuladen in einem armen Land, in eine Familie, die ohnehin in entsetzlich beengten Verhältnissen lebt, in der es quasi keine Privatsphäre gibt und sich – bis auf den Hausherrn und seine junge Zweitfrau – immer mehrere ein Zimmer in der kleinen Wohnung teilen müssen.

Seierstad lebt mehrere Monate mit und in der Großfamilie und anscheinend erzählen ihr vor allem die Frauen viel von dem, was hinter den Kulissen passiert. Sie gibt jedem Familienmitglied im Buch einen anderen Namen, Rais wird beispielsweise zu Sultan, aber dennoch sind alle später mühelos zu identifizieren, was nach der Veröffentlichung für viel Ärger und jahrelange Auseinandersetzungen vor Gericht geführt hat.

Sie erzählten mir Dinge, wenn sie Lust dazu hatten, nicht, wenn ich sie fragte. Dies geschah selten, wenn ich den Notizblock bereit hatte, sondern eher beim Einkaufen auf dem Basar, im Bus oder spätabends auf der Matte. (S. 12)

Schon im Vorwort klingt das beherrschende Thema des Buches an:

Die Familie kümmerte sich gut um mich, alle waren großzügig und offen. Trotzdem war ich oft auch wütend auf sie. Es war immer dasselbe, das mich provozierte, nämlich wie die Frauen behandelt wurden. Die scheinbare Überlegenheit der Männer wurde von allen stillschweigend hingenommen. (S. 13)

Und zunächst wird man als Leserin quasi hineingezogen in dieses so fremde Leben. Wir lernen viel über die Geschichte Afghanistans, in dem schon seit Jahrzehnten immer wieder wechselnde Machthaber wüten und die Bevölkerung versucht, so gut es geht, zu überleben. Auch der Buchhändler geriet mit den wechselnden Herrschern häufig aneinander, ohne deshalb seinen Traum von einem Kabuler Buchimperium aufzugeben.

Besonders die zurückliegenden Jahre der Taliban-Herrschaft haben nicht nur unzählige Menschen das Leben gekostet, auch die kaputten Häuser und die zerstörte Infrastruktur sind immer noch die eines Landes im Krieg. Seierstad nennt unzählige Beispiele dieser unfassbaren Diktatur, die buchstäblich alles auf ihr fanatisches, ungebildetes und brutales Niveau herabziehen wollte.

Sogar in den Mathematikbüchern war Krieg das Hauptthema. Die Jungen – denn die Taliban ließen Bücher nur für Jungen schreiben – rechneten nicht mit Äpfeln und Keksen, sondern mit Kugeln und Kalaschnikows. Eine Aufgabe darin konnte folgendermaßen aussehen: ‚Der kleine Omar hat eine Kalaschnikow mit drei Magazinen. In jedem Magazin stecken zwanzig Kugeln. Er braucht zwei Drittel seiner Kugeln auf und tötet sechzig Ungläubige. Wie viele Ungläubige tötet er pro Kugel?‘ (S. 85)

Im September 1996 verkündeten die Taliban beim Einzug in Kabul diverse Dekrete, u. a. dass Taxifahrer keine Frauen mehr mitnehmen durften, die ohne Burka unterwegs waren. Musik wurde verboten, Kassetten waren ab sofort in Fahrzeugen; Hotels und Geschäften untersagt. Man durfte keine britischen und amerikanischen Frisuren mehr tragen, auf Hochzeiten durfte ab sofort weder Musik gespielt noch getanzt werden. Die Strafen bei Zuwiderhandlung kann man sich denken.

Drachensteigenlassen hat unnütze Folgen wie Wetten, Todesfälle bei Kindern und Abwesenheit vom Unterricht. Läden, die Drachen verkaufen, werden geschlossen. (S. 112)

In Fahrzeugen, Läden, Häusern, Hotels und an anderen Orten sollen Bilder und Porträts entfernt werden. Die Inhaber müssen alle Bilder an den erwähnten Orten zerstören. (S. 113)

Das letztgenannte Verbot von Abbildungen sorgte dafür, dass die Taliban, die meist Analphabeten waren, in die Buchläden kamen, die Bücher durchblätterten und alle, die Abbildungen und Fotos von was auch immer enthielten, wurden verbrannt. Außerdem galt:

Frauen, ihr sollt eure Wohnungen nicht verlassen! Wenn ihr sie dennoch verlassen müsst, solltet ihr das nicht wie die Frauen tun, die in modischen Kleidern und mit viel Schminke allen Männern unter die Augen traten, ehe der Islam ins Land kam. (S. 114)

Auch Puppen und Schmusetiere waren, weil Abbildungen von Lebewesen, verboten.

Wenn die Religionspolizisten zu Hause bei Leuten Razzien veranstalteten, schlugen sie Fernseher und Kassettenrekorder kaputt und nahmen auch das Spielzeug der Kinder mit, wenn sie es entdeckten. Sie rissen Arme und Köpfe ab und zertraten sie vor den Augen der entsetzten Kinder. (S. 309)

Selbst nach der – wie wir heute wissen, nur zwischenzeitlichen – Vertreibung der Taliban wirken sie in den Köpfen der Menschen weiter. Die Frauen überlegen sich sehr genau, ob sie wirklich ohne Burka – ein Kleidungsstück, das laut Seierstad überhaupt erst in der Herrschaftszeit von König Habibullah (1901 bis 1919) in Afghanistan eingeführt worden sei – auf die Straße gehen. Eine der Schwestern des Buchhändlers ist fassungslos, als sie allen Mut zusammengenommen hat, um heimlich einen Englischkurs zu besuchen, und dann feststellen muss, dass dort auch Männer anwesend sind. Sie fühlt sich beschämt und beschmutzt, den Kurs besucht sie nie wieder.

Die zweierlei Maß, die an Frauen und Männer angelegt werden, sind manchmal kaum zu ertragen; die Verbannung der Frau ins Haus, ihre Herabwürdigung als Dienstmagd, die Beschämung der Ehefrau, weil sich der ca. 60-jährige Buchhändler, der mit einer Lehrerin verheiratet ist (die aber den Beruf nicht mehr ausübt), eine sechzehnjährige zweite Frau sucht. Die Versuche der Eltern, den richtigen Gatten für ihre Töchter zu finden, die Tradition, dass der Mann für die Braut zahlen muss: Je hübscher, jünger und tugendhafter die Braut, umso mehr können die Eltern verlangen. Dass da die Betrachtungsweise naheliegt, die Frau als sein Eigentum anzusehen, verwundert dann nicht mehr wirklich.

Daneben die Tradition, die Frau im Falle einer Trennung dadurch abzusichern, dass der Mann auch einen Preis nennen muss, den er zahlt, falls er sich grundlos von der Frau scheiden lassen will. Und erst die Rollenbilder und zum Teil unbarmherzigen Ehrvorstellungen:

Männer und Frauen, die nicht verwandt sind, dürfen nicht im selben Zimmer sitzen. Sie dürfen sich nicht unterhalten und nicht zusammen essen. Auf den Dörfern sind sogar die Hochzeitsfeste aufgeteilt, die Frauen tanzen und feiern für sich und die Männer ebenfalls. (S. 77)

Eine der Mütter aus dem großen Familienclan erklärt sich, nachdem der Familienrat getagt hat, mit dem Tod ihrer Tochter einverstanden. Diese hatte sich heimlich mit einem fremden Mann getroffen und damit die Ehre der ganzen Familie beschmutzt.

Sie [die Mutter] war es, die Mutter, die zum Schluss die drei Söhne nach oben schickte, die Tochter zu töten. Die Brüder gingen zusammen in das Zimmer der Schwester. Gemeinsam legten sie ihr ein Kissen aufs Gesicht, dann drückten sie zusammen ganz fest und immer fester zu, bis sie sich nicht mehr regte. Erst dann gingen sie zu ihrer Mutter zurück. (S. 60)

Hier war ich überrascht über die Überraschung der Autorin, die das Verhalten der Mutter nicht nachvollziehen konnte. Ich frage mich, was wäre der Mutter denn übrig geblieben, wenn sie sich nicht selbst dem „Verdacht“ aussetzen wollte, bei der Erziehung der Tochter versagt zu haben? Erst wenn eine Frau erwachsene Töchter hat, die die Hausarbeit erledigen können, wird sie

eine Art Regentin des Hauses, die Ratschläge erteilt, Ehen arrangiert und über die Moral der Familie wacht, das heißt, vor allem über die Moral der Töchter. Sie achtet darauf, dass sie nicht allein ausgehen, dass sie sich ordentlich bedecken, dass sie außerhalb der Familie keine Männer treffen und dass sie gehorsam und höflich sind. (S. 144)

Nach der Lektüre bleibt ein seltsamer Nachgeschmack. Auf der einen Seite lernt man viel, über das Land und seine zerrissene Geschichte, das Leid der Bevölkerung, die schon so lange ein Spielball fremder Mächte ist, und ganz ohne Frage auch über die Rückständigkeit, was Zugang zu Bildung und Gesundheitssystemen angeht, und die nahezu nicht existenten Wahlmöglichkeiten der Frauen, ihre Rechtlosigkeit und fehlende Anerkennung als denkende und eigenständige Subjekte.

Bei jungen Frauen handelt es sich vor allem um Tauschobjekte und Handelsware. Die Ehe stellt einen Vertrag dar, der zwischen Familien oder innerhalb einer Familie geschlossen wird. Welchen Nutzen die Heirat für den Clan hat, ist entscheidend, auf Gefühle wird nur selten Rücksicht genommen. (S. 61)

Auf der anderen Seite unterschlägt Seierstad viele Zwischentöne. Es gibt bei ihr nur Schwarz und Weiß. Mir fehlt die grundlegende Einsicht, dass Menschen sich – abgesehen von den nicht verhandelbaren Menschenrechten – auch in nicht-westlichen Bräuchen und Lebensformen wohl und verwurzelt fühlen.

‘Allein‘ ist für Leila [die 19-jährige Schwester des Buchhändlers] ein unbekannter Begriff. Sie war noch nie allein in der Wohnung, ist noch nie allein irgendwohin gegangen und hat noch nie allein in einem Zimmer geschlafen. Jede Nacht hat sie auf der Matte neben ihrer Mutter verbracht. Leila weiß nicht, was es heißt, allein zu sein, und das fehlt ihr auch nicht. Das Einzige, was sie sich wünscht, ist etwas mehr Ruhe und etwas weniger zu tun. (S. 218)

Afghanen haben mir beispielsweise ebenfalls erzählt, dass Hochzeitsfeiern oft nach Geschlechtern getrennt stattfinden, dass das aber trotzdem ausgelassene und glückliche Feiern sein können und dass das Gebot der getrennten Geschlechter – man soll ja vor allem die anderen nicht beim Tanzen beobachten können – auch schon mal dadurch umgangen wird, dass heimlich Videoaufnahmen hin und her geschmuggelt werden. Dass einige der von der Familie arrangierten Ehen, die sie im Buch schildert, glücklich sind, kann  Seierstad nicht nachvollziehen.

Außerdem – und das ist ein noch größeres Problem – hat Seierstad nicht mit offenen Karten gespielt: Das Buch wurde, ohne dass ein Gegenlesen durch die Familie stattgefunden hatte, veröffentlicht. Natürlich hat die Journalistin die Gastfreundschaft, die sie fünf Monate in Anspruch genommen hat, mit Füßen getreten. Manchmal schildert sie Gedanken der Beteiligten, die eher so wirken, als ob eine westliche Frau ihnen ihre eigenen Worte in den Mund gelegt hat.

Ich frage mich, ob Seierstad einige ihrer berechtigten Fragen dem Buchhändler tatsächlich nie gestellt hat, zum Beispiel, warum er – ein Mann des Buches – seinen eigenen Söhnen den Schulbesuch untersagt, damit sie in seinen Läden  arbeiten können.

Aimal ist Sultans jüngster Sohn. Er ist zwölf Jahre alt und hat einen Arbeitstag von zwölf Stunden. Jeden Tag, sieben Tage die Woche, wird er bei Morgengrauen geweckt. […] Punkt acht schließt Aimal die Tür seines kleinen Ladens in der dunklen Lobby eines Hotels in Kabul auf. (S. 255)

Ich denke nicht, dass Seierstad – um Rais nicht zu verärgern – unliebsame Tatsachen beschönigen oder gar unter den Tisch hätte fallen lassen sollen oder der Erwartungshaltung des Buchhändlers hätte entsprechen müssen. Aber irgendwann fällt auf, dass sie die Familie eher seziert, und zwar ohne jegliche Sympathie, humorlos, einseitig und zum Teil arrogant und überheblich.

Es gibt eine Schlüsselszene im Hamam, die auch Shah Mohammad Rais bei den anschließenden juristischen Auseinandersetzungen immer wieder beanstandet hat. In dieser schildert Seierstad die Frauen, die in ihrem ganzen Leben noch nie ohne Verschleierung das Haus verlassen konnten, in ihrer Nacktheit so empathielos, so befremdet, voyeuristisch und respektlos, wie sie das wohl nie mit ihren eigenen Familienmitgliedern getan hätte.

Seierstads Selbsteinschätzung im Guardian, dass sie die Familie immer respektvoll beschrieben und das Heldentum von Rais gewürdigt habe, ist eine reine Schutzbehauptung und im Grunde Unfug. Dazu kommt, dass sie selbst als Person, die immerhin fünf Monate mit der Familie verbracht hat, im Buch nicht auftaucht. Somit erscheinen alle Schilderungen und wiedergegebenen Gespräche zunächst objektiv, dabei ist dieses Buch in seiner Kritik an den Verhältnissen genau das nicht. Es ist kein neutraler Bericht. Und über die Folgen für die betroffenen Frauen in einem so konservativen Land wie Afghanistan, nachdem das Buch in Englisch erschienen war, hat sie sich gar keine Gedanken gemacht.

In den englischen Neuauflagen sind inzwischen einige der beanstandeten Szenen nicht mehr enthalten. Für diese hat sich die Autorin bei Rais und seiner Mutter entschuldigt.

In einem weiteren Interview – ebenfalls im Guardian – wird das Problematische ihres Buches ebenfalls angesprochen:

I ask whether it was kind of her to draw out these women’s most intimate sexual secrets and private emotions, and reveal them to the world. „What’s unkind in it?“ Seierstad says, surprised. „My project, my only goal, was to understand what was going on inside one of these families. I was there as a journalist, invited into their home to find out about Afghanistan. Should I, when I know something is not right, like the way the bookseller treated his wives, say it’s not important? […].“

Yet Seierstad admits that, at times, she did go too far. In the first edition of the book, published in a limited run in the UK and now out of print, there is an astonishingly intimate description of one of the women in the household at the hammam. In two passages, Seierstad writes about the breasts, belly and genitals of this woman – a woman who since reaching adulthood has never left her house without wearing a burqa.

„I removed that section because Rais asked me to,“ says Seierstad. „But this book went through several editors and we all overlooked that problematic word, genitals. We realised it was a mistake only after Rais focussed on it, and I apologised to him and to his mother for it.“

That she put it in at all, is perhaps evidence of a lack of sympathy for her subjects‘ privacy. In the past, Seierstad has claimed that the book is not a criticism of the Islamic way of life – but that it „just reveals a lot about it“. This, I suggest, is disingenuous – and dangerous. Her outrage at the way women are treated in the book crackles on every page, but because she has written herself out of the narrative, her highly subjective account could be accused as masquerading as an objective report.

There is a long pause. „I agree now that it is not possible to write a neutral story,“ she says. „I don’t criticise the society with my words in the book but I agree, it’s there in the text anyway. It’s not an open critique but it is a critique.“

Elke Heidenreich: Hier geht‘s lang (2021)

Das ausnehmend schön gestaltete Buch Hier geht‘s lang von Elke Heidenreich (*1943), erschienen im Eisele Verlag, trägt den Untertitel Mit Büchern von Frauen durchs Leben.

Auch Heidenreich geht – wie Nicole Seifert – davon aus, dass der Begriff der Frauenliteratur automatisch eine Abwertung, ein Abstempeln bedeute; er beinhalte, wenn etwas von und für Frauen geschrieben wurde, könne es sich dabei nicht um Kunst handeln. Doch für Heidenreich steht fest, dass erst über die in Büchern verdichtete Erfahrung anderer Frauen ihr ein Zu-Sich-Selbst-Finden möglich gewesen ist. Sie schreibt:

Literatur ist ein Geschenk, Bücher sind ein Glück. Geschichten sind lebensnotwendig, um die eigene Verwirrung zu ordnen. Ob wir Bücher von Männern oder von Frauen lesen, das spielt keine Rolle. Wenn sie denn gut sind, und das heißt: gute Story, sprachlich adäquat umgesetzt. Was aber eine Rolle spielt, ist in den Jahren des Erwachens, Zweifelns, Selbstfindens den richtigen Ton für das eigene Leben zu finden. Und da waren für mich Bücher von Frauen hilfreicher als Bücher von Männern, sehen wir von den fürchterlichen Mädchenbüchern meiner Kindheit ab. (S. 182)

Was sie dabei außer Acht lässt, ist die Gefahr, dass Leserinnen bei der Übermacht männlicher Literatur die Wertvorstellungen und Rollenbilder männlicher Autoren verinnerlichen und dass Jungen und Männern selten zugemutet wird, sich in weibliche Sichtweisen einzufinden, wenn in Schule und Studium überwiegend Autoren gelesen werden.

In den Kapiteln, die sich chronologisch an ihren Lebensstationen entlang hangeln, gibt Heidenreich kurzweilig und lebhaft Einblick in ihre Lesebiografie, in die Bücher, die ihr wichtig geworden sind. Literatur sei ihr immer wie ein Geländer gewesen, an dem sie sich habe festhalten und orientieren können.

In den ersten Kapiteln werden sich vermutlich viele Leserinnen, die ihre Kindheit in den Fünfzigern und Sechzigern des vergangenen Jahrhunderts erlebt haben, wiederfinden. Die Mädchenbücher, die man verschlungen hat und die ein doch sehr angepasstes, sehr artiges Frauenmodell propagierten. Der didaktische Zeigefinger unüberhörbar. Dann die Bedeutung der Fließbandschreiberin Enid Blyton. Die Entdeckung Karl Mays, den auch ein Mädchen spannend fand. Dass ein Junge wiederum Mädchenbücher gelesen hätte – undenkbar.

Über die Kindheit Heidenreichs erfährt man, ohne dass auf Details eingegangen wird, nur so viel: Das Geld war knapp, die Hand saß locker, der Vater glänzte durch Abwesenheit, das Kind war einsam, aber es las. Dass man sich mit Bildung, Büchern und dem daraus resultierenden gesellschaftlichen Aufstieg der Ursprungsfamilie unwiderruflich entfremdet, ist der Preis, der dafür zu zahlen ist. Die Parallelen zu Ulla Hahns Kindheit sind frappierend, die interessanterweise nirgendwo erwähnt wird.

Kurz vor der Konfirmation kommt die junge Elke in eine Pflegefamilie. Dort gibt es Bücher. Das Abitur. Das Studium, in dem es hauptsächlich um männliche Autoren ging. Die Schriftstellerinnen musste man sich selbst zusammensuchen.

Und so flaniert Heidenreich an den Regalen ihrer Vergangenheit entlang, oft ist es nur ein freundliches und dankbares Name Dropping, dann wieder gibt es kurze Einblicke in die Texte und Biografien der von ihr verehrten DichterInnen und SchriftstellerInnen. Sie bleibt dabei immer in der Tonlage, die man von ihr kennt: zutiefst bewegt und begeistert von dem, was Bücher können, von dem, was man aus ihnen lernen kann, dabei aber auch manchmal fürchterlich oberflächlich: Bei vom Vom Winde verweht kein Wort davon, dass man das Buch als Erwachsene heute doch anders lesen sollte als damals als Teenager. Es wird abgefrühstückt mit dem Satz:

… aber unterschwellig bekam ich eine Menge mit von den politischen Gegebenheiten jener Zeit und begriff, dass Literatur auch Zeitgeschichte sein kann. (S. 74)

Da fiel mir spontan der Beitrag Birgit Böllingers auf ihrem Blog ein, die sich die Mühe gemacht hat, Margaret Mitchell noch einmal zu lesen.

Die Gestaltung des Buches ist fein, mit vielen Fotos aus ihrem eigenen Bücherbestand oder Porträts der von ihr verehrten Dichterinnen und Schriftstellerinnen. Auch die Fotos von Heidenreich selbst veranschaulichen sehr schön den Gang eines Leserinnenlebens, vom Schulkind zur alten Frau. Dazu kommen zahlreiche Zitate zum Lesen.

Heidenreichs Stärke liegt in ihrer Authentizität, ihrem Selbstverständnis, sich nicht als Kritikerin zu verstehen, sondern stets als Literaturvermittlerin, die Menschen ans Lesen bringen will. Das schimmert immer durch. Und wer wollte ihrer Feststellung widersprechen, dass in der Literaturkritik oft Hochmut stecke und eine Verachtung der LeserInnen, die Bestseller lesen.

Im Hinterkopf hatte ich bei der Lektüre Heidenreichs Äußerungen zu Sarah-Lee Heinrich und zum Gendern. Die haben ihr einen Shitstorm und viel Kritik eingetragen. Dabei hat sie – und das fand ich fast noch betrüblicher als ihre wenig reflektierten Aussagen – die Chance aufs Zuhören und Dazulernen abgeschmettert und auf alle Kritik, alle berechtigten Einwände nur mit Trotz, Widerwillen und einer Ist-mir-egal-Haltung reagiert. Da misst sie, was Lernfähigkeit und Hochmut angeht, mit zweierlei Maß.

Das Charmanteste des Buches war für mich die implizite Einladung, selbst mal innezuhalten und zu überlegen, wie das so gelaufen ist mit der eigenen Lesebiografie in Schule, Studium und Privatleben. Leider weiß ich so viele Titel nicht mehr, aber sich auf die Suche zu machen, das wäre eine schöne Beschäftigung. Und wie könnte es anders sein: Man möchte sich sofort den ein oder anderen von Heidenreich gerühmten Titel wieder vornehmen.

Ich erinnere mich an ein Regalbrett über dem Sofa, darauf ein Lexikon, ein Buch mit ärztlichen Ratschlägen […], der Roman Brot von Heinrich Waggerl, 1930 erschienen und dem Geist der Blut-und-Boden-Ideologie durchaus nahe, und Die Feuerzangenbowle von Heinrich Spoerl aus dem Jahr 1933, elf Jahre später mit Heinz Rühmann verfilmt. Dann gab es noch Gute Nacht, Jakob. Ein heiterer Roman aus verklungenen Tagen von Hans-G. Bentz, ein liebenswerter Roman über einen Jungen und seine zahme Dohle, die Memoiren des Arztes Ferdinand Sauerbruch, Das war mein Leben, und zwei Bände Trygve Gulbranssen, Und ewig singen die Wälder und Das Erbe von Björndal. Das war‘s schon beinahe zu Hause auf dem Regal überm Sofa. (S. 70)

Dazu kamen noch Mein Kampf von Hitler, das Geschenk des Standesbeamten für Heidenreichs Eltern zur Hochzeit 1934, und ein Band “mit Shakespeares Sonetten, weiß der Himmel, wo die herkamen.“ (S. 70)

 

Fundstück von Clare Chambers

The days had passed without great peaks and troughs of emotion; her job and the domestic rituals that went with each season had been sufficiently varied and rewarding to occupy her. Small pleasures – the first cigarette of the day; a glass of sherry before Sunday lunch; a bar of chocolate parcelled out to last a week; a newly published library book, still pristine and untouched by other hands; the first hyacinths of spring; a neatly folded pile of ironing, smelling of summer; the garden under snow; an impulsive purchase of stationary for her drawer – had been encouragement enough. She wondered how many years – if ever – it would be before the monster of awakened longing was subdued and she could return to placid acceptance of a limited life.

aus: Clare Chambers: Small Pleasures, Weidenfeld & Nicolson 2020, S. 328

Nicole Seifert: FRAUENLITERATUR – Abgewertet, vergessen, wiederentdeckt (2021)

Ein erhellendes, wenngleich auch ein wenig deprimierendes Buch, falls man gehofft hatte, bei dem Thema der Geschlechtergerechtigkeit im Literaturbereich schon weiter zu sein.

Die Übersetzerin und Literaturwissenschaftlerin Nicole Seifert greift gleich zu Beginn ihrer lesenswerten Abhandlung ein Zitat von Margaret Atwood auf:

Könnte es sein, dass Frauen furchtlos Bücher lesen, die unter Umständen als ‚Männerromane‘ gelten könnten, während Männer immer noch glauben, ihnen fiele etwas ab, wenn sie ein paar Sekunden zu lange auf bestimmte, von Frauen sicher hinterlistig miteinander kombinierte Wörter blicken? (S. 11)

Nun, es ist längst erwiesen, Männer lesen viel viel seltener Literatur, wenn diese von Frauen verfasst wurde, während Frauen umgekehrt wesentlich seltener Berührungsängste haben. Selbst die Leserschaft weltbekannter Autorinnen wie Margaret Atwood besteht nur zu 20 % Prozent aus Männern (siehe den Artikel von MA Sieghart im Guardian). Dies Missverhältnis findet sich übrigens auch bei  Sachbüchern.

Neben dieser fehlenden Bereitschaft, Autorinnen wahrzunehmen, gibt es auch aktive Abwertung, wie sie schon in der Tatsache zum Ausdruck komme, dass es kein Äquivalent zu dem Begriff ‚Frauenliteratur‘ gibt. Seifert würde lieber von einem „weiblichen Schreiben“ sprechen, da Autorinnen über Jahrhunderte von  eingrenzenden Lebensbedingungen beeinflusst waren, daraus ergäben sich bestimmte Themen und Motive, die überdurchschnittlich oft verwendet werden:

Zum Beispiel das Ausgeschlossensein aus der Gesellschaft, das Eingeschlossensein im Haus und die Erwartungen, die an Frauen gestellt wurden und werden. Autorinnen beschreiben über Jahrzehnte und Jahrhunderte, wie ­Prota­gonistinnen krank werden, weil sie versuchen diese Erwartungen zu erfüllen. Und das zieht sich bis heute durch. (Interview mit der taz am 2.10.2021)

Und damit ist Seifert auch schon mitten in ihrem Thema und ich habe mich durch die verschiedenen Kapitel nur so durchgefräst.

Seifert geht den Gründen nach, wie es dazu kommen konnte, dass sich in ihrem Bücherregal lange Zeit mehr Autoren als Autorinnen getummelt haben, was man ja gern mal bei sich persönlich überprüfen kann. In diesem Zusammenhang wird untersucht, wie Autorinnen in der Geschichte behindert, lächerlich gemacht oder eingeschränkt wurden.

Wie ihre Werke anders beurteilt wurden und werden, sobald herauskam, dass eine Frau das Buch geschrieben hatte. Wie sie – bis heute – seltener im Feuilleton rezensiert werden und wie andere Maßstäbe, zum Teil gänzlich unliterarischer Art, an ihr Schreiben gestellt werden (siehe den Artikel auf der Seite des Deutschlandfunk von Samira El Quassil).

Die amerikanische Autorin Catherine Nichols 

schickte einen Probetext an Literaturagenturen – fünfzigmal mit ihrem eigenen Namen und fünfzigmal mit einem männlichen Pseudonym. Der vermeintliche Autor wurde siebzehnmal um das vollständige Manuskript gebeten, die Autorin ganze zweimal. (S. 155/156)

Zudem wird beleuchtet, wie die Inhalte ihrer Werke für Männer als uninteressant und irrelevant dargestellt wurden und werden, während die Interessen der Männer als allgemeingültig und universell verstanden werden.

Diese Linien ziehen sich bis in die Gegenwart. Man untersuche nur einmal die Leselisten für die Oberstufe oder untersuche das Geschlechterverhältnis in diversen Literaturgeschichten, Lesebiografien oder Kanones. 

Es geht aber auch u. a. um „Autorinnen und die Literaturgeschichte“, weibliches Schreiben und das fadenscheinige Argument, dass ausschließlich die Qualität darüber entscheide, ob ein Werk besprochen oder in einen Kanon aufgenommen werde.

Darüber hinaus wird in dem Kapitel „Von Klassikern und vom Vergessen“ auf weitere Beispiele und die Kanondiskussion eingegangen (Effie Briest von Fontane im Vergleich zu Aus guter Familie von Gabriele Reuter). Dazu gehört auch die Überlegung des amerikanischen Literaturwissenschaftlers Todd McGowan, der die Theorie aufgestellt hat, dass Werke von Frauen, Schwarzen und PoC eigentlich nicht vergessen, sondern eher aktiv ignoriert und verdrängt wurden, da sie sich nicht „in die Weltsicht des bestehenden Kanons integrieren ließen.“ (S. 96)

… weil andernfalls eine Auseinandersetzung mit diesen Bereichen der Geschichte hätte stattfinden müssen. Und das wiederum hätte bedeutet, dass eine ethische Verantwortung hätte übernommen werden müssen. Vor dem Hintergrund der Sklaverei, der Kolonialgeschichte und der jahrhundertelangen Unterdrückung der Frau war der Ausschluss dieser ‚anderen‘ Stimmen demnach immer schon politisch begründet, ist die ästhetische Begründung stets eine politische. (S. 97)

Spannend – und darüber hätte ich gern noch mehr gelesen – waren auch die Ausführungen zu den historischen Wurzeln des Problems, nämlich der Ansicht, dass die Frau dem Mann grundsätzlich unterlegen und ihre natürliche Sphäre ausschließlich in Haus und Hof liege und sie ihr Glück in Kindererziehung, Gefühl und Sorge für den Ehegatten finde.

Und selbstverständlich haben auch Reich-Ranicki, Denis Scheck, Karl Ove Knausgård, Harald Martenstein und der Begriff des „Fräuleinwunders“ ihren nicht immer rühmlichen Auftritt.

Aber es gibt auch Hoffnung: Das Problembewusstsein nimmt zu, es gibt tolle Initiativen und die Freude an Neuentdeckungen sowie an Wiederentdeckungen weiblicher Autorinnen wächst.

Meinetwegen hätte das Buch auch gern länger als die 178 Textseiten (dazu kommt ein ausführliches Quellenverzeichnis) sein dürfen. Auf einige Appelle hätte ich gut und gern verzichten können und manches ist mir – vielleicht aufgrund der Kürze – auch zu plakativ geraten. Als ein Beispiel dafür sei der Absatz über die einigen Trubel auslösende Besprechung von Martin Ebel zu Sally Rooneys Roman Gespräche unter Freunden genannt.  Da wird dann für die Pointe – den Vorwurf des Sexismus – eben verschwiegen, dass Ebel sich bei seiner Äußerung, dass Rooney auf einem Foto aussehe wie ein aufgescheuchtes Reh, auf die Vermarktungsmaschinerie bezieht, bei der AutorInnenfotos natürlich auf eine Wirkung hin inszeniert werden.

Da scheint mir das zweite Beispiel, das Seifert aufgreift, doch wesentlich überzeugender: So schreibt – und ich reibe mir verstört die Augen – Peter Lückemeier in der FAZ allen Ernstes über Laura Karasek:

Das Gesicht mit dem Näschen, dem gepflegten Mund, den regelmäßigen Zügen hätte beinahe etwas Puppenhaftes, wären da nicht diese Augen: hellgrün und hellwach. Überhaupt scheint Laura Karasek viele Gegensätze in sich zu vereinigen. Sie sieht aus wie ein Mädchen, ist aber gerade 37 geworden und verheiratete Mutter vierjähriger Zwillinge. Sie wird manchmal für eine Spielerfrau oder Charity-Lady gehalten, schaute aber bis vor kurzem als Anwältin bei der Frankfurter Großkanzlei Clifford Chance aus dem 36. Stock auf die Frankfurter Skyline.

Hier noch einige Interviews mit der Autorin

Die Thematik ist sicherlich in einen größeren Zusammenhang eingebettet, da muss die Leserin – so sie die Zeit hat – dann noch mal selber ran, zum Beispiel mit folgenden Büchern und Verlagen:

Frauen in einer von Männern geprägten Welt

  • Caroline Criado-Perez: Unsichtbare Frauen: Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert (2020)
  • Evke Rulffes: Die Erfindung der Hausfrau – Geschichte einer Entwertung (2021)
  • Carel van Schaik, Kai Michel: Die Wahrheit über Eva (2020)
  • Mary Ann Sieghart: The Authority Gap (2021)
  • Deutschsprachige Verlage

Englischsprachige Verlage

Deutsch

  • Barbara Becker-Cantarino: Der lange Weg zur Mündigkeit – Frauen und Literatur in Deutschland von 1500 bis 1800 (1989)
  • Stefan Bollmann: Frauen und Bücher (2013)
  • Hiltrud Gnüg, Renate Möhrmann (Hg.): Frauen Literatur Geschichte – Schreibende Frauen vom Mittelalter bis zur Gegenwart (1999)
  • Ruth Klüger: Frauen lesen anders (1996)
  • Isabelle Lehn: Weibliches Schreiben in der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur
  • Ina Schabert: Englische Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts – Eine neue Darstellung aus der Sicht der Geschlechterforschung, Kröner 2006
  • Gerhart Söhn: Die stille Revolution der Weiber – Frauen der Aufklärung und Romantik: 30 Porträts (1998)

Englisch

  • Mary Beard: Women and Power (2017)
  • Nicola Beaumann: A Very Great Profession: The Womans’ Novel 1914-39, Persephone Books (2008)
  • Lennie Goodings: A Bite of the Apple: A Life with Books, Writers and Virago, Oxford University Press (2020)
  • Joanna Russ: How to Suppress Women‘s Writing (1983)

Anthologien 

  • Verena Auffermann, Julia Encke, Gunhild Kübler, Ursula März, Elke Schmitter: 100 Autorinnen in Porträts, Piper (2021)
  • Verena Auffermann, Gunhild Kübler, Ursula März, Elke Schmitter: Leidenschaften: 99 Autorinnen der Weltliteratur, Bertelsmann (2009)
  • Gisela Brinker-Gabler: Deutsche Dichterinnen vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart – Gedichte – Lebensläufe (1978)
  • Lyndall Gordon: Five Women Writers who Changed the World (2017)
  • Katharina Herrmann: Dichterinnen & Denkerinnen: Frauen, die trotzdem geschrieben haben (2020)

Lesebiografien

  • Maureen Corrigan: Leave me alone, I‘m reading, Vintage Books (2005)
  • Samantha Ellis: How to be a Heroine – or what I‘ve learned from reading too much, Vintage Books (2014)
  • Deborah G. Felder: A Bookshelf of Our Own (2005)
  • Brenda Knight: Wild Women and Books (2006)
  • Nina Sankovitch: Tolstoy and the Purple Chair, Harper (2011)

Biografien und Autobiografien

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Lennie Goodings: A Bite of the Apple (2020)

Wow, hier macht Lennie Goodings, eine wegweisende Frau der britischen Verlagslandschaft – Verlag Virago – nicht nur Lust aufs Lesen, sondern eröffnet mir auch einen vertieften Blick auf die Frage, warum ich lese, was ich lese, oder anders ausgedrückt, warum es wichtiger denn je ist, sich dem Lesen und der Literatur auch aus einem weiblichen Blickwinkel zu nähern. Gilt übrigens auch für Männer.

Zum Hintergrund

Inzwischen dürfte es überall angekommen sein: Frauen wurde es in früheren Jahrhunderten ungleich schwerer oder gleich unmöglich gemacht, sich als Autorinnen zu etablieren. So überrascht es nicht, dass in der älteren Literaturgeschichte die Männer dominieren, das lässt sich trotz der ein oder anderen nachträglichen Wiederentdeckung nun auch nicht mehr rückgängig machen. Doch das Frappierende ist, dass sich diese Benachteiligung und Abwertung weiblicher literarischer Auseinandersetzung mit sich und der Welt – wenn inzwischen meist subtiler – bis in die Gegenwart zieht. Und so sind beispielsweise in Büchern, die sich mit Büchern beschäftigen, männliche Autoren bis in die Gegenwart hinein grundsätzlich in der Überzahl.

Seitdem wir angefangen haben, unser eigenes Leseverhalten genauer in den Blick zu nehmen, stellen wir fest, dass der größte Teil unserer eigenen Schullektüre von Männern geschrieben wurde, dass viele Leserinnen keinerlei Berührungsängste haben, sich auch mit männlichen Sichtweisen auseinanderzusetzen, doch dies umgekehrt viel seltener der Fall ist. Und eine Entsprechung zu dem meist herablassend-abwertend gemeinten Begriff „Frauenliteratur“ gibt es auch nicht. Im Englischen gibt es ebenfalls zwar „the woman writer“, aber niemals einen „man writer“.

Zum Buch

Erst 1975 wurden der britischen Öffentlichkeit Nachrichtensprecherinnen „zugemutet“; vorher waren Meinungsumfragen (und männliche Sprecher) immer zu dem Ergebnis gekommen, dass weibliche Stimmen nicht „acceptable“ seien (siehe hierzu auch den Artikel im Tagesspiegel, der an Wibke Bruhns erinnert).

In den Siebzigern entstanden in Großbritannien im Zuge der gesellschaftlichen Umwälzungen einschließlich der zweiten Welle der Frauenbewegung auch eine Reihe an Zeitschriften und Kleinverlagen, die u. a. dieser Diskriminierung entgegenwirken wollten. Carmen Callil gründete 1973 den Verlag Virago, der fast ausschließlich Autorinnen eine Bühne bietet und in dem sich Leserinnen mit ihren Erfahrungen wiederfinden sollten. 

Virago wanted to address all women and all of women‘s experiences. It challenged the idea of niche publishing from the start. […] The refusal to be seen as marginal; the desire to inspire and educate and entertain all women, and men too; to bring women‘s issues and stories into the mainstream; to demonstrate a female literary tradition: these passions and beliefs were the bedrock of Virago. (S. 13)

Lennie Goodings, eine junge Kanadierin, kam 1977 nach London und ergatterte 1978 einen Teilzeitjob bei Virago.

I am just twenty-five, Canadian, new to Britain, and in awe of this formidable woman [Carmen Callil], but as there are only two of us in the office I feel emboldened to ask: ‘Why did you start Virago?‘ She looks up and, without missing a beat, replies, ‘To change the world, darling. That‘s why.‘ I know I am in the right place. (Vorwort)

Nach einem Jahr wollte Goodings eigentlich zurück nach Kanada, um sich dort einen ordentlichen Job zu suchen. Nun, das hat nicht geklappt, inzwischen ist sie Vorsitzende des Verlags und  hat 2020 A Bite of the Apple (der angebissene Apfel ist das Logo des Verlags) veröffentlicht. Der Untertitel bringt es auf den Punkt: A Life with Books, Writers and Virago.

Dieser Verlag wurde, im Gegensatz zu vielen anderen Projekten der damaligen Zeit, von Anfang an als Unternehmen angelegt, das selbstverständlich Gewinn erwirtschaften sollte. Das Verlagsprogramm besteht bis heute aus Neuauflagen von beinahe in Vergessenheit geratenen Autorinnen, feministischen Grundlagenwerken, Sachbüchern, Romanen, Anthologien, Jugendbüchern, Lyrik, Reiseliteratur und Taschenbuchausgaben bekannter Werke von Frauen. Diese große thematische Bandbreite ist sicherlich eine der Stärken des Verlags, der inzwischen ein Imprint von Little, Brown and Company ist, die wiederum gehören seit 2006 zur Hachette Book Group.

Goodings schreibt mit ansteckender Begeisterung und herzerwärmender Ehrlichkeit über das Engagement der Gründerinnen und die Entwicklung des Verlags, der als kleine Ein-Raum-Klitsche angefangen hat.

We had one loo with a door that didn‘t reach the floor or ceiling. That‘s where we went to have a cry when it was all too much. And, frankly, it often was. (S. 36)

Sie zeichnet nicht nur den Gegenwind aus bestimmten feministischen Kreisen und die finanziellen Erwägungen nach, die zu den diversen Eigentümerwechseln führten, sondern auch die internen Krisen und unterschiedlichen Standpunkte (die natürlich von der Presse begeistert als Zickenkrieg verfolgt wurden).

Aber noch wichtiger: Man bekommt einen Einblick in die Strömungen des Feminismus, die sich auch anhand der Autorinnenauswahl und der Backlist sowie der Diskussionen bei Lesungen verfolgen lassen. Dabei haben sich die Verantwortlichen des Verlags nie für eine Richtung und eine allein gültige Definition von Feminismus vereinnahmen lassen. 

Es gibt immer wieder wunderbare Anekdoten und Einblicke in die Arbeit mit nicht immer unkomplizierten Autorinnen:

Though not every author wants an editor‘s views. One of our Virago editors once asked an author into the office to discuss her manuscript, which she had printed out and carefully annotated with pencilled suggestions and edits. The author looked at it, then took the entire pile of paper, walked to the open window, tossed it all out into the street, and left. (S. 208)

Einige der zum Teil weltberühmten Schriftstellerinnen sind ihr zu Freundinnen geworden, wie Margaret Atwood, Angela Carter und Sarah Waters etc. Maya Angelou wurde in Großbritannien erstmals von Virago verlegt und die Parties mit ihr müssen legendär gewesen sein.

I Know Why the Caged Bird Sings had never been published in the UK despite it being well known in America since its publication in 1969. Maya Angelou told us that her memoir had been sent to British publishers in the 1970s but they had all turned it down, saying no one would be interested in the story of a young black girl growing up in the American South. She loved us for taking a chance on her… (S. 142)

Goodings beschäftigt sich mit den Fragen, warum manche Autorinnen weder bei Virago verlegt werden möchten noch wollen, dass ihre Bücher beim Women’s Prize for Fiction, einem renommierten Literaturpreis, eingereicht werden. Und wie könne man erklären, dass die meisten Männer keine Bücher von Frauen lesen wollen und nur ihren Geschlechtsgenossen zutrauen, welthaltig zu schreiben? Sie zitiert Anne Enright, die unser Wahrnehmungsproblem überspitzt, aber doch zutreffend auf den Punkt bringt:

It is tempting to [… conclude] that men and women are read differently, even when they write the same thing. If a man writes ‘The cat sat on the mat‘ we admire the economy of his prose; if a woman does we find it banal. If a man writes ‘The cat sat on the mat‘ we are taken by the simplicity of his sentence structure, its toughness and precision. […] If, on the other hand, a woman writes ‘The cat sat on the mat‘, her concerns are clearly domestic, and sort of limiting. (S. 241)

Aber Goodings geht auch auf die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ein, in denen sich Verlagsarbeit abspielt. Mitte der neunziger Jahre fiel die Buchpreisbindung in Großbritannien, was maßgeblich dazu beitrug, dass in den folgenden zwei Jahren ca. 500 selbstständige Buchhandlungen schließen mussten.

Gleichzeitig verfolgt Goodings – durchaus selbstkritisch – wie sich das ursprüngliche Anliegen, Bücher von und für Frauen zu veröffentlichen, erweitern und ausdifferenzieren musste: Neue Blickwinkel kommen dazu: der moderne, subtile Sexismus, Rassismuserfahrungen, Migrationserzählungen und Bücher von und für PoC und GLBTQ-LeserInnen. Schon seit Jahrzehnten gibt es in Großbritannien Bestrebungen, mehr PoCs den Zugang zum Verlagswesen zu ermöglichen. Margaret Busby beispielsweise gründete in den Achtzigern die Organisation GAP – Greater Access to Publishing -, zu deren Mitgliedern auch Lennie Goodings gehört. Busby schrieb 1984 in einem Zeitungsartikel:

Is it enough to respond to a demand for books reflecting the presence of ‚ethnic minorities‘ while perpetuating a system which does not actively encourage their involvement at all levels? The reality is that the appearance and circulation of books supposedly produced with these communities in mind is usually dependent on what the dominant white (male) community, which controls schools, libraries, bookshops and publishing houses, will permit.

Die Bereitschaft, bisher ausgegrenzten, unsichtbaren Mitgliedern der Gesellschaft zuzuhören, sie zu veröffentlichen, sorgte allerdings auch für missliche Situationen. In den späten Achtzigern war der Verlag begeistert über das Manuskript einer Rahila Khan, die sich als „British Asian“ bezeichnete. Das Buch wurde gedruckt und ausgeliefert. Dann stellte sich heraus, dass das Ganze nur inszeniert war.  Hinter dem Pseudonym Rahila Khan verbarg sich ein weißer anglikanischer Geistlicher, der wohl hoffte, auf einer vermeintlichen Welle politischer Korrektheit rascher veröffentlicht zu werden. Die Viragos waren not amused und ließen das Buch einstampfen. Der Vorfall sorgte für allerlei Erheiterung und Spott, stieß aber gleichzeitig wichtige Debatten an (siehe zum Beispiel folgenden Artikel How Virago blew up the canon).

A Bite of the Apple ist wahrlich ein Augenöffner; wie wichtig es ist, eine vielseitige Verlagslandschaft zu haben, wie wichtig es ist, sich überhaupt einmal klarzumachen, von welchen Verlagen man etwas kauft/liest, wie viel es noch in der Literaturgeschichte zu entdecken gibt und wie sehr unser Leseverhalten von Männern geprägt worden ist. Über die Frage, die Goodings immer wieder gestellt wird, ob denn heutzutage ein solcher Verlag überhaupt noch vonnöten sei, kann man am Ende nur freundlich lächeln.

Es war höchst spannend, wie Goodings hier den Vorhang gelüftet und uns einen Einblick in ihre Liebe zur Literatur, der sie zutraut, Leben zu verändern, und in vierzig Jahre Verlagsarbeit gegeben hat.

Dass Goodings dabei nicht müde wird, die einflussreiche Liste der Virago Modern Classics zu erwähnen, ist allerdings eine der Gefahren, denen man beim Lesen nicht ausweichen kann. 

The Virago Modern Classics began in 1978 with the idea of blasting this canon [of great literature] wide open: to challenge the narrow notion of ‚great‘ and also to challenge the idea of who gets to decide what is great. (S. 238)

Das Einzige, was ich Virago ein wenig übelnehme, ist der unschöne Ausruf der Virago-Gründerin Carmen Callil „Below the Whipple line I will not go“, mit dem sie Bücher ablehnte, die ihrem Qualitätsstandard nicht entsprachen. Das bezog sich auf den ihrer Meinung nach schrecklichen Stil von Dorothy Whipple, einer in den dreißiger und vierziger Jahren des letzten Jahrhunderts sehr populären Autorin. Nun, das finde ich Dorothy Whipple gegenüber doch eher ungerecht. Und ich freue mich, dass die Neuauflagen von Whipples Büchern eine wertschätzendere Heimat im 1998 gegründeten Persephone Verlag gefunden haben – und dort zu den finanziell einträglichsten Titeln gehören.

Hier noch ein informativer Artikel aus dem Guardian zur Entwicklung des Verlagshauses.

PS: Nach der Lektüre war ich neugierig, welche Bücher ich schon hier auf dem Blog vorgestellt habe, die (auch) von Virago verlegt worden sind. 

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Fundstück von Karl Philipp Moritz

Allen Lehrerinnen und Lehrern ins Stammbuch:

Möchte dies alle Lehrer und Pädagogen aufmerksamer und in ihren Urteilen über die Entwickelung der Charaktere junger Leute behutsamer machen, daß sie die Einwirkung unzähliger zufälliger Umstände mit in Anschlag brächten, und von diesen erst die genaueste Erkundigung einzuziehen suchten, ehe sie es wagten, durch ihr Urteil über das Schicksal eines Menschen zu entscheiden, bei dem es vielleicht nur eines aufmunternden Blicks bedurfte, um ihn plötzlich umzuschaffen, weil nicht die Grundlage seines Charakters, sondern eine sonderbare Verkettung von Umständen an seinem schlecht in die Augen fallenden Betragen Schuld war.

Aus: Karl Philipp Moritz: Anton Reiser, Könemann, Köln 1997, S. 187

Georges Hyvernaud: Der Viehwaggon (OA 1953)

Irgendwann vor Jahren erstanden, dann im Regal vergessen und mich vom zunächst unattraktiv erscheinenden Titel des Werks abhalten lassen, es endlich mal zu lesen. Was für ein Fehler. Völlig unverständlich, dass der bereits 1953 erschienene Roman Der Viehwaggon von Georges Hyvernaud, der deutlich autobiografische Züge trägt, erst 2007 in deutscher Übersetzung von Julia Schoch erschien. Und am Ende ergibt auch der Titel einen durchaus mehrdeutigen Sinn. Aber zurück zum Inhalt.

Anfang der fünfziger Jahre in Paris: Der Ich-Erzähler, ein kleiner Angestellter in einer Mineralwasserfirma, ist – spätestens seit den Erfahrungen der Kriegsgefangenschaft – nicht mehr in der Lage, so bewusstlos wie die anderen im Strom der Menschen mitzuschwimmen.

Auch wenn man seine Wände und Worte von früher wiederfinden kann – man weiß, wie sehr Wände und Worte lügen. Man traut ihnen nicht, sie sind trügerisch. (S. 48)

Er wird zum Protokollanten, zum Zuhörenden, dem alle Gewissheiten, aller Ehrgeiz und alle Wünsche abhanden gekommen sind. Er misstraut dem Pathos und den hochtrabenden Sätzen. Er verabscheut das „widerliche Glück“ der anderen, die sich nach dem Krieg wieder prima eingerichtet haben. Sogar die Farbe ist für ihn aus der Welt verschwunden. Er könne die Welt nur noch

in diesen abgeblätterten Brauntönen […] sehen, diesen pusteligen Grautönen, diesem verwässerten Schwarz der Bretter des Viehwaggons. Aber nichts gegen zu machen. Ist so eine Art Behinderung, die ich da hab, eine Krankheit des Blicks. (S. 119)

Der Erzähler wird zum Beobachter seiner Mitmenschen, wie ein Spaziergänger am Abend, der von außen in die erleuchteten Fenster schaut. Es widert ihn an, wie die anderen die Angst und die Schuld der Kriegsjahre, die Frage nach dem, was Menschen einander antun können, erfolgreich verdrängen und die satt und selbstgefällig in den Spiegel sehen und nun darüber entscheiden, wer zu den Guten, den Helden mit reinem Gewissen, wer zu den Bösen und wer einfach zu den Pechvögeln gehörte.

Der Erzähler gaukelt seinen Bekannten vor, er schreibe einen Roman, nur um abends hin und wieder seine Ruhe zu haben. Stattdessen notiert er seine Gedanken und Gespräche, die er tagsüber geführt hat. Nahe Beziehungen, Familie oder Liebe spielen dabei keine Rolle. Und genau diese Aufzeichnungen ergeben am Ende das Werk, das wir lesen.

Wände, und zwischen den Wänden Leute, mit ihren Streitereien, ihrer Erschöpfung, dieser Bitterkeit und dem Überdruß jedesmal, wenn der Tag zu Ende geht. (S. 8)

Er geht schlafen. Sie alle gehen schlafen, die Leute. Auch die Gebisse in den Wassergläsern gehen schlafen, die Brillen in den kleinen schwarzen Etuis, die Uhren auf den Nachttischchen. Das ist der Augenblick, in dem die Menschheit sich auflöst, sich zersetzt, auseinanderfällt und den Schein von Zusammenhang, in den sie sich sechzehn Stunden am Tag fügt, nicht länger aufrechterhält.  (S. 9)

Ziemlich unterhaltsam, diese Vorstellung. Meine Landsleute in ihren Betten inmitten der Einzelteile ihres Anstands und ihrer Wichtigkeit. Nur die Stuhllehnen tragen noch Sakkos. Und nur die Sakkos tragen noch Orden… (S. 10)

Gleichzeitig macht sich der Erzähler so seine Gedanken über die Errichtung von Denkmälern und über literarische Wertmaßstäbe, denn über so durchschnittliche und im Grunde ärmliche Gestalten, wie ihn und seine Bekannten schreibe man keine Romane.

Man muß sie bloß mal an eine Bahnsteigsperre der Metro setzen, die Herzoginnen bei Marcel Proust oder Balzac, muß sie nur mal acht Stunden am Tag Pappbilletts lochen lassen, tagelang, von Montag bis Samstag, dann wird man schon sehen, was von ihren vornehmen Dramen noch übrigbleibt. Dann braucht man bloß noch Erschöpfung und Krampfadern beschreiben, Gasrechnungen und Amtsgänge. Nicht sehr romanhaft, das Ganze. Das Leben ist nicht romanhaft, wenn man gezwungen ist, seine Brötchen zu verdienen. (S. 98)

Unsereins hat keine Dramen. Wir haben nur Ärger, Scherereien. Und noch dazu kaum Zeit, darüber nachzudenken. Denn unsere Zeit schwindet in absurder Schufterei und schäbigen Berechnungen dahin. (S. 99)

Man müsste dazu diesen „massenhaften Zufallsexistenzen“ schon große Krisen oder Komplexe, einfach eine gewisse Bedeutungsschwere auf den Leib schreiben. Doch das könne er nicht; er sehe die Menschen halt so, wie sie sind. Dieser Blick macht natürlich auch einsam. Über die Frau seines Bekannten schreibt er:

Sogar eine Madame Bourladou … Nichts ist leerer. Vierzig Jahre gutes Benehmen und schmelzendes Lächeln. Vierzig Jahre Häkelspitze, eheliche Treue und Kochrezepte. Besonderes Kennzeichen: eine Leidenschaft für Pflegemittel. Im weitesten Sinne des Wortes – alles, womit sich Kupfer, Beziehungen, die menschliche Haut, die bürgerliche Intelligenz und Louis-XVI-Möbel pflegen lassen. (S. 28)

Die Erinnerungen an den Krieg, der seine Sicht auf den Menschen verändert habe, sind der Dreh- und Angelpunkt seiner Wahrnehmung. Das Bild des Viehwaggons wird ihm so zum Symbol der absurden menschlichen Existenz.

Da ist ein Güterzug, der sich durch eine gewaltige geräuschlose Katastrophe schleppt. Anstelle von Gütern hat man Menschen hineingepfercht. Die Waggons sind verschlossen, verriegelt, zugesperrt. Was könnte einem besser das Gefühl von Verhängnis vermitteln. (S. 114)

Wir waren Millionen von Menschen, die aus irgendeinem Grund in Güterzügen herumgefahren wurden. (S. 115)

Nichts als Erinnerungen an Angst, Erniedrigung und Ausgeliefertsein. Eine Erfahrung, die harsche Gewissheiten hinterläßt. Man sieht den Menschen am Ende nur noch als unterworfenes, niedergewalztes, vernichtetes Wesen. Und man versucht nicht einmal mehr zu begreifen. Man verkriecht sich in seiner Ecke. (S. 41)

Der Massenmensch ist gesichtslos und austauschbar geworden.

Hier spricht einer dringlich und verdichtet davon, was er nun als die wahre Lage des Menschen zu erkennen glaubt, nachdem sich alle vermeintlichen Sicherheiten als Schein entpuppt haben. Hier weigert sich einer zu vergessen und zum Alltag überzugehen.

Schein auch das Buch unter der Lampe und die Freunde um den Tisch, Schein die Stabilitäten und Sicherheiten. Der Hunger aber, Zwang, Fieber und Flucht sind wahr und dauerhaft. (S. 178)

Kurzum: Ein kompromissloses, ein satirisches, ein aufregendes Buch.

Zum Autor

Hyvernaud (1902 – 1983), Lehrer, wurde 1939 eingezogen und geriet bereits 1940 in deutsche Kriegsgefangenschaft. Fünf Jahre verbrachte er in einem Kriegsgefangenenlager in Pommern und erst im April 1945 wird er aus einem Lager  bei Soest befreit.

Aus dieser Erfahrung resultiert ein schmales Werk, zwei Romane und etwas Kurzprosa. Hyvernaud wird veröffentlicht – Sartre setzt sich für ihn ein -, doch die Kritik reagiert auf Der Viehwaggon ausgesprochen ablehnend, vermutlich rührte der Autor an Tabus. Jedenfalls geraten Autor und Werk rasch in Vergessenheit.

Die Konsequenz, die er zieht, rigoros wie sein Schreibstil: Er wählt das Schweigen. Fortan ist er nur noch Verfasser von Unterrichtsmaterialien für das französische Schulsystem. (Julia Schoch in ihrem Nachwort der Suhrkamp-Ausgabe, S. 197)

Constanze Scheib: Der Würger von Hietzing (2021)

Der Kulturbowle verdanke ich den schönen Hinweis auf eine neue Ermittlerin im Krimibereich: Die Wiener Schauspielerin und Autorin Constanze Scheib (*1979) schickt Helene Ehrenstein, eine  32-jährige Dame aus den feinsten Kreisen, im Wien der siebziger Jahren auf Verbrecherjagd.

Helene langweilt sich schon lange in ihrer Ehe mit dem steifen, aber wohlhabenden Oskar. Auch die gelegentlichen Zoo-Besuche mit ihrem Sohn Willi, Shoppingtouren mit ihren zwei Freundinnen und die morgendliche Inspektion des Dienstpersonals lasten sie längst nicht mehr aus. Da erfährt sie von einer Einbruch- und Mordserie, die gar nicht weit von ihrer Villa schon mehrere ältere Frauen das Leben gekostet hat.

Der „Würger von Hietzing“ hat auch die Tante ihres Dienstmädchens Bianca auf dem Gewissen. Also beschließt Helene kurzerhand, ausgestattet mit Stöckelschuhen, Perlenkette, reichlich Naivität und Unternehmungslust sowie der Hilfe ihres bodenständigen zweiten Dienstmädchens Marie den Täter dingfest zu machen.

‘Jemand muss etwas unternehmen! Und was ich auf den Tod nicht leiden kann, sind Leute, die sich nur aufpudeln und sich zu fein sind, die Dinge selbst in die Hand zu nehmen.‘ (S. 40)

Das allerdings erweist sich als schwieriger als gedacht und die Lektüre vieler Krimis und eine Vorliebe für Whisky und Miss Marple sind dabei gar nicht immer so hilfreich. Dass man dabei sogar in Gefahr kommen und – noch viel schlimmer – andere in Gefahr bringen kann, zeigt sich im Laufe der etwas chaotisch geführten Ermittlungen immer deutlicher. 

Das Aufeinanderprallen der verschiedenen sozialen Schichten, die Situationskomik und das Lokalkolorit machen einfach Laune. So habe ich zum Beispiel gelernt, was eine Bassena ist. Und Marie hat mehr als einmal den berechtigen Eindruck, dass ihre „Gnä’ Frau“ doch weit weg vom Leben der normalen Leute ist. Aber Helene lernt dazu und lässt sich auf neue Milieus mit Begeisterung und echtem Interesse ein, selbst wenn das bedeutet, mal skandalös angeschickert bei ihrer Frisörin aufzutauchen.

Zwar hätte ich mir gewünscht, dass die Autorin ihre Hauptfigur besonders in den ersten Kapiteln etwas ernster genommen hätte und die Schreibung der Anredepronomen vom Kampa Verlag sorgfältiger lektoriert worden wäre. Aber das wurde wieder wettgemacht durch die geschickte Verwendung des Wiener Dialekts, der nicht nur die Personen charakterisiert, sondern mir als Unkundiger einfach auch viel Spaß gemacht hat. Allein das Verb „aufpudeln“ ist doch schon großes Kino. Definitiv ein unterhaltsamer Krimi für ein verregnetes Wochenende.

 

Karl Philipp Moritz: Anton Reiser (1785-1790)

Heute mal ein literarischer Ausflug ins 18. Jahrhundert. Es geht um den Entwicklungsroman Anton Reiser (1785-1790) von Karl Philipp Moritz.

Zehn Jahre lang gab Moritz das Magazin zur Erfahrungsseelenkunde heraus, das sich zum Ziel gesetzt hatte, psychologische Ansätze zu etablieren. In dieser Zeitschrift sollte die Geschichte um Anton Reiser ursprünglich veröffentlicht werden. Anton Reiser wird tatsächlich häufig als erster psychologischer Roman der deutschen Literatur bezeichnet. Schon in der Vorbemerkung des Autors heißt es:

Dieser psychologische Roman könnte auch allenfalls eine Biographie genannt werden, weil die Beobachtungen größtenteils aus dem wirklichen Leben genommen sind. Wer den Lauf der menschlichen Dinge kennt, und weiß, wie dasjenige oft im Fortgange des Lebens sehr wichtig werden kann, was anfänglich klein und unbedeutend schien, der wird sich an die anscheinende Geringfügigkeit mancher Umstände, die hier erzählt werden, nicht stoßen. Auch wird man in einem Buche, welches vorzüglich die innere Geschichte des Menschen schildern soll, keine große Mannigfaltigkeit der Charaktere erwarten; denn es soll die vorstellende Kraft nicht vertheilen, sondern sie zusammendrängen, und den Blick der Seele in sich selber schärfen.-

Es überrascht daher nicht, dass die fiktive Geschichte, in der es um die ersten 20 Jahre des Anton Reiser geht, der des Autors in vielerlei Hinsicht ähnelt. Auch Moritz (1756 – 1793) kam aus ärmlichen und stark vom Pietismus geprägten Verhältnissen. Da kein Geld für Schulbildung da war, wurde Moritz – wie seine Hauptfigur – in eine Hutmacherlehre in Braunschweig gegeben, in der er entsetzlich litt, nicht zuletzt, weil die Arbeit körperlich oft über seine Kräfte ging, er den religiös verblendeten Schikanen seines Chefs ausgesetzt war und er es als demütigend empfand, mit Waren beladen wie ein Tragtier durch die Stadt laufen zu müssen.  

Nicht nur auf Karl Philipp Moritz, sondern auch auf die Romanfigur Anton Reiser wird ein Pfarrer aufmerksam. So wird Anton der Besuch des Gymnasiums ermöglicht, doch selbst der so dringlich ersehnte Schulbesuch ist für ihn eine Qual, da er von den Söhnen aus wohlhabenderem Elternhaus nicht akzeptiert und zum Teil gemobbt wird. Ständig wird er von Gefühlen der Unterlegenheit, der Scham und Wut geplagt, vor allem wenn ihm an den täglich wechselnden Freitischen signalisiert wird, dass er für diese Brosamen dankbar zu sein habe und er der Familie, bei der er seine Unterkunft hat, eigentlich doch sehr zur Last falle.

Nur in der Welt der Bücher kann Anton von Kindheit an an dem Leben teilhaben, das ihm vorschwebt, nur dort kann er alle Gefühle ausagieren.

Durch das Lesen war ihm nun auf einmal eine neue Welt eröffnet, in deren Genuß er sich für alle das Unangenehme in seiner wirklichen Welt einigermaßen entschädigen konnte. Wenn nun rund um ihn her nichts als Lärmen und Schelten und häusliche Zwietracht herrschte, oder er sich vergeblich nach einem Gespielen umsah, so eilte er hin zu seinem Buche. So ward er schon früh aus der natürlichen Kinderwelt in eine unnatürliche idealische Welt verdrängt, wo sein Geist für tausend Freuden des Lebens verstimmt wurde, die andre mit voller Seele genießen können. (S. 17)

Und so kommt es, dass er sich Jahre später als Gymnasiast immer stärker verschuldet, nur um sich Bücher ausleihen zu können. Er beginnt den Unterricht zu schwänzen und lange Wanderungen zu unternehmen, um wenigstens für ein paar Stunden in seiner idealen Welt zu sein. Schließlich entdeckt er – wie auch der Schriftsteller Moritz – seine Leidenschaft für das Theater. Er ist sich sicher, zum Schauspieler berufen zu sein, doch der allwissende Erzähler lässt schon hundert Seiten vor dem Ende der Geschichte keinen Zweifel daran, dass das eine Illusion ist. Die vermeintliche Berufung ist nichts anderes als eine Folge fehlender Selbsterkenntnis. Nur weil man in der Fantasiewelt der Bücher, des Theaters glücklich sei und mit ihnen der „realen“ Welt entfliehen könne, kurz, weil das Theater die ungestillten Sehnsüchte des Melancholikers nach wirklichen Gefühlen, nach Drama und nach Leben kurzzeitig erfülle, heiße das nicht, dass man das Zeug zum Schauspieler hat.

– das Theater als die eigentliche Phantasiewelt sollte ihm also Zufluchtsort gegen alle diese Widerwärtigkeiten und Bedrückungen sein.- Hier allein glaubte er freier zu atmen und sich gleichsam in seinem Elemente zu befinden. (S. 351)

Es ist meist lohnend, solche literarischen Ausflüge in die Vergangenheit zu unternehmen, zu den oft genug lieblosen religiösen Gruppierungen, den Gebräuchen (siehe die Einrichtung der Freitische) oder den katastrophalen Arbeitsbedingungen während einer Lehre. Und die beißende Kritik an empathielosen, nur mit sich selbst beschäftigen Eltern sowie an einem miserablen Schulsystem und ignoranten und gleichgültigen Lehrern ist tief empfunden und teilweise immer noch gültig. Deutlich zeigt sich, dass ein derlei vernachlässigtes Kind später schlechter mit Problemen und Beschämungen zurechtkommt.

Antons Herz zerfloß in Wehmut, wenn er einem von seinen Eltern Unrecht geben sollte [d. h. wenn er nach einem Streit die Partei des einen gegen den anderen ergreifen sollte], und doch schien es ihm sehr oft, als wenn sein Vater, den er bloß fürchtete, mehr Recht habe als seine Mutter, die er liebte. So schwankte seine junge Seele beständig zwischen Haß und Liebe, zwischen Furcht und Zutrauen, zu seinen Eltern hin und her.

Da er noch nicht acht Jahr alt war, gebar seine Mutter einen zweiten Sohn, auf den nun vollends die wenigen Überreste väterlicher und mütterlicher Liebe fielen, so daß er nun fast ganz vernachlässigt wurde und sich, so oft man von ihm sprach, mit einer Art von Geringschätzung und Verachtung  nennen hörte, die ihm durch die Seele ging. […]

Am Ende freilich ward dies Gefühl ziemlich bei ihm abgestumpft; es war ihm beinahe, als müsse es beständig gescholten sein, und ein freundlicher Blick, den er einmal erhielt, war ihm ganz etwas Sonderbares, das nicht recht zu seinen übrigen Vorstellungen passen wollte. (S. 14/15)

Aber let‘s face it: Zwischendurch zog sich die Geschichte in ihrem Auf und Ab entsetzlich in die Länge. Manche Szenen aus der Kindheit sind zwar ergreifend und den psychologischen Einsichten des allwissenden Erzählers zur menschlichen Natur kann man nur zustimmen.

Es deuchte Reisern nun viel leichter, mit schönen und angenehmen Aussichten in die weite Welt zu wandern, als [schon] an Ort und Stelle selbst zu sein und diese Aussichten wahr zu machen. (S. 372)

Dennoch ist der Gesamteindruck oft genug der eines steifen, belehrenden und pedantischen Vor-sich-hin-Erzählens. Das ein oder andere Motiv wiederholte sich bis zur Ermüdung. Die erwachsene Hauptfigur ging mir mit ihrem Schuldenmachen, ihrem übersteigerten Selbstwertgefühl, ihrer Stilisierung als einsamer und verkannter Held samt ihrer völligen Planlosigkeit irgendwann auch auf die Nerven. Daran konnten feine Momente, in denen sich der Protagonist seiner selbst bewusst wird, wenig ändern. Erst der letzte Teil, in dem Anton aufgrund  unbezahlter Schulden aus der Stadt flüchtet und versucht in der Fremde sein Glück als Schauspieler zu machen, wurde wieder interessanter.

Er fühlte ungewöhnliche Kraft in seiner Seele, sich über alles  das hinwegzusetzen, was ihn darnieder drückte – denn wie klein war der Umfang, der alle das Gewirre umschloß, in welches seine Besorgnisse und Bekümmernisse verflochten waren, und vor ihm lag die große Welt. […] Alles, was ihn gekränkt hatte, schien ihm klein, unbedeutend und nicht der Mühe des Nachdenkens wert.- Aber nun stiegen andre Zweifel, andre Besorgnisse in seiner Seele auf  […] über den in undurchdringliches Dunkel gehüllten Ursprung und Zweck, Anfang und Ende seines Daseins – über das Woher und Wohin bei seiner Pilgrimschaft durchs Leben – die ihm so schwer gemacht wurde, ohne daß er wußte, warum?  – Und was nun endlich aus dem allem kommen sollte.- (S. 252 und 254)

Hier noch ein schöner Beitrag zu dem Roman von Ludger Menke.

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Grazia Deledda: Schilf im Wind (OA 1913)

Die italienische Insel Sardinien zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts ist der Schauplatz des Romans Schilf im Wind von Deledda. Die sardische Schriftstellerin lebte von 1871 bis 1936 und blieb, auch wenn sie 1900 mit ihrem Mann schließlich nach Rom zog, ihrer Heimatinsel immer verbunden. 1926 erhielt sie den Nobelpreis für Literatur. In der Rede zur Verleihung des Preises heißt es:

In this town, so little influenced by the Italian mainland, Grazia Deledda grew up surrounded by a savagely beautiful natural setting and by people who possessed a certain primitive grandeur, in a house that had a sort of biblical simplicity about it. «We girls», Grazia Deledda writes, «were never allowed to go out except to go to Mass or to take an occasional walk in the countryside.» She had no chance to get an advanced education, and like the other middle-class children in the area, she went only to the local school. Later she took a few private lessons in French and Italian because her family spoke only the Sardinian dialect at home. Her education, then, was not extensive. However, she was thoroughly acquainted with and delighted in the folk songs of her town with its hymns to the saints, its ballads, and its lullabies. She was also familiar with the legends and traditions of Nuoro. Furthermore, she had an opportunity at home to read a few works of Italian literature and a few novels in translation, since by Sardinian standards her family was relatively well-to-do. But this was all. Yet the young girl took a great liking to her studies, and at only thirteen she wrote a whimsical but tragic short story, (…) which she succeeded in publishing in a Roman newspaper. The people at Nuoro did not at all like this display of audacity, since women were not supposed to concern themselves with anything but domestic duties. But Grazia Deledda did not conform; instead she devoted herself to writing novels (…) with which she made a name for herself. She came to be recognized as one of the best young female writers in Italy. 

Und wenn man den Roman, z. B. in der Neuedition des Manesse Verlags, liest, spürt man auf jeder Seite die Verbundenheit der Autorin mit der Heimat ihrer Jugend. Die Schönheit der Natur, der Wechsel der Jahreszeiten, das Wetter, die Pflanzen, alles wird liebevoll wahrgenommen und besungen. 

Da öffnet sich mit einem Mal das Tal, und hoch oben auf der Kuppe eines Hügels taucht wie ein gewaltiger Trümmerhaufen die Burgruine auf. Aus dem schwarzen Mauerwerk blickt eine leere blaue Fensterhöhle wie das Auge der Vergangenheit selbst auf die melancholische, von der aufgehenden Sonne in rosiges Licht getauchte Landschaft hinaus, auf die geschwungene Ebene mit den grauen Sandtupfern und den blassgelben Binsenflecken, auf die grünliche Ader des Flusslaufs, die weißen Dörfer, aus deren Mitte die Glockentürme emporragen wie die Blütenstempel aus den Blumen, auf die Hügel oberhalb der kleinen Ortschaften und auf die malven- und goldfarbene Wolke der Nuoreser Berge im Hintergrund. (S. 26)

Die Vorgeschichte der Handlung wird auf den ersten Seiten abgehandelt:

Donna Lia, seine dritte Tochter, verschwand eines Tages aus dem väterlichen Haus, und lange Zeit hörte man nichts mehr von ihr. Der Schatten des Todes lastete auf dem Haus. Niemals hatte es in der Gegend einen derartigen Skandal gegeben, niemals zuvor war ein adliges und wohlerzogenes Mädchen wie Lia auf eine solche Weise geflohen. Don Zame schien den Verstand zu verlieren. Auf der Suche nach Lia irrte er in der ganzen Gegend umher und durchkämmte die Küste. Doch niemand konnte ihm Auskunft über sie geben. Endlich schrieb sie ihren Schwestern, dass sie sich an einem sicheren Ort befände und glücklich sei, ihre Ketten gesprengt zu haben. Die Schwestern aber verziehen ihr dies nicht und gaben ihr keine Antwort. (S. 19)

Unterdessen schrieb Lia den Schwestern, die durch ihre Flucht entehrt worden waren und daher keine Ehemänner fanden, einen Brief, in dem sie ihre Heirat ankündigte. Der Ehemann war ein Viehhändler (…) Die Schwestern konnten ihr diesen neuerlichen Fehltritt – die Ehe mit einem Mann aus dem Volk, den sie unter so beschämenden Umständen kennengelernt hatte – nicht verzeihen und gaben ihr keine Antwort. (S. 20)

Jahrzehnte später kommt nun Giacinto, der Sohn der verstorbenen Lia, zu seinen drei Tanten und deren einzigem Knecht Efix. Das herrschaftliche Gut ist nach dem Tod des Vaters so heruntergewirtschaftet und die drei Schwestern so verarmt, dass Efix schon seit Jahren keinen Lohn mehr bekommen hat. Dennoch hängt er mit unverbrüchlicher, man möchte sagen, naiver und zunächst auch unverständlicher Treue an seinen drei „Herrinnen“ und hofft, dass die Ankunft Giacintos den Beginn besserer Zeiten für alle bedeutet. Doch zunächst verursacht der junge Mann im Dorf nur Chaos, Schulden und verstörte Frauenherzen. 

Heidentum vermischt sich mit Aberglauben und tiefer Frömmigkeit. Ein wenig Abwechslung in den kargen und eintönigen Alltag mit seiner Armut und der harten Arbeit bringen die christlichen Feste und Pilgerfahrten. Malaria, Banditentum, die künstliche Kluft zwischen einfachem Volk und dem Adel, die Rolle der Frau; all das wird hingenommen, nicht hinterfragt, und unter Schicksal – das menschliche Leben als Schilf im Wind – wird verbucht, was vielleicht doch einfach Folge menschlicher Irrtümer und zu enger geistiger und menschlicher Horizonte ist.

Der Erzählstrom fließt entspannt dahin. Das Lesen entschleunigt. Die Psychologie der Figuren ist nicht so entscheidend. Die Menschen sind eingeschrieben in die Landschaft, ihre Erinnerungen und ihre archaischen Traditionen, die nur sehr sehr allmählich in Frage gestellt werden. Und deshalb bleiben mir die Figuren allesamt fremd; die Distanz ist für mich als Leserin nicht ohne Weiteres zu überbrücken, auch wenn der melancholische Grundton durchaus reizvoll ist.

Doch darüber wunderte er sich nicht mehr; weit weg gehen, man musste weit weg gehen, in andere Gefilde, wo es größere Dinge gab als die unsrigen. (S. 387)

Min Jin Lee: Pachinko (2017)

History has failed us, but no matter.

Die Geschichte hat uns im Stich gelassen, aber was macht das schon.

Mit diesem Satz beginnt der ca. 500 Seiten starke Roman der Amerika-Koreanerin Min Jin Lee – von Barack Obama für seine Schilderung von Resilienz und Mitgefühl hochgelobt und einer der National Book Award Finalists von 2017. Das Buch erzählt über mehrere Generationen hinweg die Geschicke einer koreanischen Immigrantenfamilie in Japan. Lesenswert, wenn auch nicht das vollkommene Meisterwerk, das manche amerikanische Kritiker aus ihm machen wollten.

Die deutsche Übersetzung Ein einfaches Leben von Susanne Höbel erschien 2018. Anscheinend war den deutschen LeserInnen der englische Titel, dessen Bedeutung sich erst später erschließt, aber dadurch doch auch reizvoll und letztlich wesentlich treffender ist, nicht zuzumuten.

Die Handlung umfasst die Jahrzehnte von 1910 bis 1989 und beginnt mit der 16-jährigen Südkoreanerin Sunja, die nie ein freies Korea erlebt hat. Seit 1905 galt Korea als Protektorat Japans, 1910 wurde es als Kolonie eingegliedert. Sunjas Familie ist arm und hält sich mit einer kleinen Herberge über Wasser. Das junge Mädchen verliebt sich in einen reichen älteren Landsmann, den Fischhändler Koh Hansu, der dem naiven, aber willensstarken Mädchen Geschenke mitbringt und ein wenig Aufmerksamkeit widmet. Sie ist sicher, er wird sie ehelichen, doch Hansu ist längst mit der Tochter eines – freundlich formuliert – einflussreichen Mannes in Japan verheiratet, ein Umstand, den er zu erwähnen vergaß. Als Sunja schwanger wird, ist Hansu durchaus erfreut und will sie irgendwo als Mätresse unterbringen und sich um ihren Lebensunterhalt und die Erziehung des Kindes zumindest finanziell kümmern. Doch das kommt für die stolze Sunja nicht in Frage.

Gleichzeitig würde aber ein uneheliches Kind unauslöschliche Schande über sie und ihre Mutter bringen, deshalb willigt sie ein, den freundlichen Prediger Isak zu heiraten, der auf dem Weg nach Japan ist, um dort in einer kleinen christlichen Gemeinde zu arbeiten. Die Ehe der beiden wird wider Erwarten glücklich und Sohn Noa hält Isak lange für seinen leiblichen Vater.

Ihr Leben in Japan ist hart. Sie sind arm und auf die Unterstützung von Isaks Bruder und Schwägerin angewiesen, in dessen Häuschen sie auch leben. Der Familienzusammenhalt ist enorm, gleichzeitig steht Sunja öfter vor dem Dilemma, ihrem Schwager gehorchen zu müssen, auch wenn sie seine Entscheidungen nicht immer gutheißen kann. Überhaupt, die Rolle der Frau, ein Sprichwort besagt, das Los der Frau sei es zu leiden, was eigentlich nur bedeutet, das auszulöffeln, was die Männer eingebrockt haben. Hansu, der Vater von Sunjas Sohn Noa, wird ebenfalls noch eine Rolle spielen.

Das war spannend, anrührend und interessant, wusste ich bis dahin doch so gut wie nichts über Korea im 20. Jahrhundert und über den (institutionalisierten) Rassismus und die Diskriminierung, der koreanische Einwanderer, Zwangsarbeiter oder gar Christen in Japan ausgesetzt waren. Gleichzeitig zeigt der Roman, wie sich Stück für Stück die Lebenswelt der nachfolgenden Generationen verändert. Durch die Entbehrungen, die unfassbare Arbeit und Beharrlichkeit der Elterngeneration kann die nächste Generation dann schon zur Schule geschickt werden und versuchen, aus dem Hamsterrad von nicht enden wollender körperlicher Arbeit auszusteigen.

Die beiden Söhne, Noa wissbegierig, intelligent und fleißig, Mozasu eher praktisch veranlagt und schnell mit den Fäusten, schlagen deshalb schon ganz andere Wege ein als Mutter, Tante und Onkel. Und erst für Noa und Mozasu öffnen sich Entscheidungsspielräume und stellen sich Identitätsfragen. Gleichzeitig wird die emotionale Bindung an die ursprüngliche Heimat der Eltern geringer, irgendwann wird nicht mehr von Rückkehr gesprochen. Der gesellschaftlich verankerte Rassismus und die Diskriminierungserfahrungen bleiben, aber sie sehen anders aus. Passt man sich an und ist vielleicht sogar besser als die Einheimischen, wird man beneidet und angegiftet. Geht man beruflich in die Bereiche, mit denen ein „anständiger“ Japaner nichts zu tun haben will, ist man ein Krimineller. Der eine kommt damit zurecht und sieht nicht ein, sich davon sein Leben verleiden zu lassen, ein anderer geht daran zugrunde.

So verkörpert diese Familie fast schon prototypisch das Schicksal ungeliebter Immigranten überall auf der Welt.

Der erste Teil des exzellent recherchierten Romans war wie aus einem Guss, ein traditionell erzählter und detailreicher Familienschmöker mit unvergesslichen Szenen, der ab und an an die Romane des 19. Jahrhunderts erinnert und trotz gewisser Süßlichkeiten nicht ohne Anspruch ist.

Es ist unmöglich, nicht an Sunjas Familie und ihrem Ergehen Anteil zu nehmen oder die aktuellen Bezüge zu unserer Gegenwart wahrzunehmen. Es gefiel mir auch, dass nicht alle Emotionen und Gedanken ausbuchstabiert wurden. Das passte zu dieser schlichten, doch würdevollen und sturen Frau und die großen politischen Umwälzungen werden hier ausschließlich anhand ihrer Auswirkungen auf die einfachen Leute erzählt. Das ist stimmig und schockierend zugleich.

Doch irgendwann zerfaserte die Geschichte; die Autorin Min Jin Lee (*1968 in Südkorea) wollte einfach zu viel. Ihre Absicht, alle möglichen denkbaren Lebenswege der nachfolgenden Generationen und damit auch alle nur denkbaren Immigrationserfahrungen zur Sprache kommen zu lassen, war zu offensichtlich. Lee verzettelt sich in Namen und Schicksalen, die zum Teil auf maximale Dramatik gebürstet werden, mich dann aber kalt gelassen haben. Hätte die Autorin Sunja und ihre direkten Nachkommen als Zentrum der Handlung zwischendurch nicht so aus den Augen verloren, kurzum das Buch um 150 Seiten gekürzt, wäre ein wirklich beeindruckendes Werk entstanden.

PS: Manche Rezensenten erklären gleich zu Beginn, woher der englische Titel Pachinko kommt. Ich fand viel interessanter, das erst zu klären, als der Begriff das erste Mal im Roman auftaucht.

Eine Verfilmung ist geplant.

Der Sidney Morning Herald bringt es auf den Punkt:

Is Pachinko a masterpiece? No. But it is one of those books that takes a mighty bite of big-time subject matter and has its own kind of grandeur.

Amanda Cross: In the Last Analysis (1964)

Durch die deutsche Neuauflage von Die letzte Analyse im Dörlemann Verlag bin ich überhaupt erst aufmerksam auf dieses Krimi-Schätzchen aus den Sechzigern geworden. Was für ein Glück. Dabei konnte man die Bände um die resolute Literaturprofessorin Kate Fansler schon vor über 20 Jahren in Deutschland erstehen.

Der ursprüngliche deutsche Titel des ersten Bandes lautete Gefährliche Praxis. Ansonsten wurde die Übersetzung von Monika Blaich (*1942) und Klaus Kamberger (*1940) vom Dörlemann Verlag beibehalten. Meine Besprechung bezieht sich allerdings auf die englische Neuausgabe von 2018.

Kurz zum Inhalt:

Die ältere Studentin Janet Harrison fragt Professorin Kate Fansler, ob diese ihr einen guten Therapeuten empfehlen könne. Und so kommt es, dass Janet eine Psychoanalse bei Emanuel Bauer beginnt, einem anerkannten Analytiker und sehr guten Freund von Kate. Die beiden waren auch mal ein Liebespaar, aber das ist lange her.

They had been lovers for a time – they had no one but themselves to consider – yet this had been far from central to their mutual need. After that first year, they would no more have considered making love than of opening a mink ranch together […] (S. 46)

Wenige Wochen später wird nun jene Studentin ermordet aufgefunden, auf der Analysecouch Emanuels. Erstochen mit einem Messer aus Bauers Küche. Sonnenklar, dass Kate alles in ihrer Macht Stehende unternehmen muss, um Emanuel, seine entzückend planlos schwatzende Frau Nicola und schließlich sogar sich selbst von dem ungeheuerlichen Verdacht reinzuwaschen, die junge Frau getötet zu haben. Dabei spannt sie ihren guten Bekannten Reed Amhearst, seines Zeichens Staatsanwalt mit besten Kontakten zur Polizei, und Jerry, den jungen und äußerst abenteuerlustigen Verlobten ihrer Nichte, ein.

Mag Kate die Idee zur Klärung des Falls auch etwas unmotiviert aus heiterem Himmel überkommen, war mir das dann schon völlig egal, weil man bis dahin so viel Spaß am intelligenten und literarischen Schlagabtausch der Beteiligten hatte und Kate und ihre Freunde schon längst ins KrimileserInnenherz geschlossen  hat.

‚I don’t think this case is helping your disposition – you’re beginning to sound petulant. What you need is a vacation.‘ (S. 119)

Dass das Buch mit seiner emanzipierten und belesenen Protagonistin dabei ein bisschen Retro-Charme versprüht und gleichzeitig zeitlose Kritik an der Bürokratisierung des Universitätsbetriebs und Einblicke in die menschlichen Natur liefert, macht die Lektüre umso lohnender.

‚Oh, dear, I keep forgetting about the police. Are they getting restive?‘ (S. 96)

Oder wie Andrea Gerk feststellt: „Screwball Comedy mit Mehrwert“.

Ich jedenfalls habe die nächsten Bände schon geordert.

Die Autorin Carolyn Gold Heilbrun (1926 – 2003), eine feministische, amerikanische Literaturprofessorin an der Columbia University in New York, legte sich für ihre 15 Bände um Kate Fansler das Pseudonym Amanda Cross zu, um ihr Renommee als Literaturwissenschaftlerin nicht zu gefährden. Ihre Krimis waren unglaublich erfolgreich und wurden weltweit übersetzt. Ihr erster Band kam in der Kategorie „Bestes Debüt“ sofort auf die Shortlist für den Edgar Award.

Mit 77 beging sie Suizid, da sie nach Aussage ihres Sohnes sicher war, die Reise sei vorüber, ihr Leben habe sich erfüllt, aber nicht weil sie erkrankt oder depressiv gewesen sei. Dazu passt der längere Essay  A Death of One’s Own von New York.

Christina Hardyment: Heidi’s Alp – One Family’s Search for Storybook Europe (1987)

Bei dem wie üblich nur mäßig erfolgreichen Versuch, meine Buchregale zu entrümpeln, fiel mir dieses unschön vergilbte Secondhandbuch, das schon seit Jahren in meinem Regal herumlungerte, wieder in die Hände. Und was soll ich sagen – ich habe schon lange nicht mehr mit so viel Vergnügen einen Reisebericht gelesen. 

Die britische Autorin Christina Hardyment (*1946) hat im Laufe ihres Lebens zahlreiche Bücher zu den unterschiedlichsten Themen geschrieben. In Heidi’s Alp (1987) geht es um eine siebenwöchige Reise, die sie 1985 mit ihren vier Töchtern Susie, Daisy, Ellie und Tilly durch Europa unternommen hat. Die jüngste Tochter ist fünf, die älteste ist zwölf. Das Gefährt der Wahl ist ein Wohnmobil, das auf den Namen Bertha getauft wird.

Gradually the idea surfaced. Why not steal a summer? Make a journey, part Toadlike, self-indulgent adventure, and part education in the old idiom of the Grand Tour. Take the children right out of school for May and June, the loveliest months, and amble unhurried around Europe well ahead of the August crowds. […] But what sort of approach would appeal to the children? Every parent knows the miseries of trailing round museums and art galleries with unwilling children in tow. No one gets far up the mountain peak with an opinionated five-year-old. (S. 2/3)

Also wird die Reiseroute in groben Zügen anhand literarischer Gesichtspunkte festgelegt. Es sollen Orte und Landschaften besucht werden, die bedeutsam für wichtige Werke der Kinderliteratur waren. Unterwegs werden den Mädchen die Geschichten vorgelesen – manche kennen sie bereits, wie die Geschichten um Heidi von Johanny Spyri -, dazu gibt es Hintergrundinfos der wohlinformierten Mutter, kleine Museen und die dazugehörigen Landschaften.

Die ersten zwei Wochen werden sie ab Holland noch von einer guten Freundin samt Baby Sarah begleitet. Sieben Menschen in einem Wohnmobil, davon ein Baby, das stellt alle auch vor ziemlich unliterarische Herausforderungen. In den letzten Wochen verstärkt Tom, der Vater der vier Mädchen, die Reisetruppe.

Eckpfeiler der Routenplanung:

  • Hans Brinker and the Silver Skates von Mary Mapes Dodge (Holland)
  • Die Märchen – und die Reisen – von Hans Christian Andersen (Dänemark)
  • Lübeck
  • Der Rattenfänger von Hameln (Deutschland)
  • Diverse – auch mir noch unbekannte – Städte und der Brocken im Harz (auch im ehemaligen Gebiet der DDR)

By the time we reached the border it was dusk. The western horizon glowed a welcome home beyond the barriers, but first we had to undergo a search much more thorough than the one on our arrival. The children were amazed to see a large mirror on wheels was rolled out and solemnly passed to and fro under the van to see if anything – or anybody – was attached underneath. The bonnet was opened, the engine inspected, all the drawers emptied, the books reshuffled. Nothing could have contrasted more startlingly with the casual waves given at all the other borders we had crossed. ‚But if people want to leave the country, why don’t they let them?‘ asked Ellie. (S. 133)

  • Märchen der Gebrüder Grimm und Schloss Wilhelmshöhe (Kassel)
  • Rothenburg ob der Tauber
  • Schloss Neuschwanstein
  • Auf den Spuren Harlequins in Venedig (Italien)
  • Pinocchio (Collodi in Italien)
  • Der Schiefe Turm von Pisa
  • Heidi von Joanna Spyri (Maienfeld, Schweiz)
  • Zürich
  • Wilhelm Tell
  • Lauterbrunnen und Fahrt zum Jungfraujoch
  • Bücher über den Bären Mary Plain von Gwynedd Rae (Bern)
  • Eiffelturm in Paris
  • Die Geschichte von Babar, dem kleinen Elefanten von Jean de Brunhoff

Aber genauso werden freie Tage und immer auch ein bisschen Luft für spontane Ausflüge und vom Wetter abhängige Ideen sowie große Vergnügungsparks eingeplant; in Legoland fahren sich die Mädchen in den diversen Fahrgeschäften schwindlig, während sich die zwei Mütter Titanias Palast anschauen.

Bei Museumsbesuchen wird auch mal zu Tricks gegriffen, damit die Töchter nicht vor lauter Langeweile die Galerie sofort wieder verlassen wollen.

Normally our progress through picture galleries and museums is indecently  rapid, but today [Schloss Wilhelmshöhe] was different. We bought the girls each four postcards in the entrance hall and then set them the challenge of finding the originals. Since the gallery is spread over three enormous floors of the palace […] Tom and I very soon lost sight of all four of them, and enjoyed a restful half hour of guessing painters wrongly. (S. 148)

Und so entsteht eine charmante und ehrliche Mischung aus Familienmemoir, Reisebericht (mit all den schönen und chaotischen Seiten, die unerwartet geschlossene Museen und das beengte Leben im Wohnmobil mit sich bringen; kleinen Unfällen inclusive), landeskundlichen Impressionen (holländische Fahrradfahrer und die schweizerische Ordnungsliebe sind der Erzählerin ein echter Dorn im Auge) und literarischer Vor-Ort-Erkundung, bei der ich viel Neues erfahren habe. Hardyment recherchierte akribisch vor, während und nach der Reise zu den AutorInnen und Geschichten, so kann sie mühelos interessante und manchmal auch skurrile Informationen an passender Stelle einflechten. Ihre literarische Entdeckerfreude ist einfach ansteckend.

Das Ganze geschrieben mit Tempo, Wissen, Witz und (mütterlicher) Selbstironie.

Hans-Christian Andersen, auf dessen Spuren die kleine Reisetruppe immer mal wieder wandelt, war 1831 mit dem Schiff von Kopenhagen nach Lübeck gereist. Über die Nacht in seiner Kabine mit zwei weiteren Männern schreibt er:

‚one with his legs against the head of the other. I happened to be in the middle, and now one of them would ask me to move my legs, the other to move my head; I was too long for them.‘ ‚Just like us in Bertha,‘ said Daisy feelingly. ‚I wish Ellie didn’t kick so much.‘ (S. 73)

Manches mutet inzwischen nostalgisch an. Eine Reiseplanung ohne Internet, Kinder ohne Handys, und wenn man liest, dass ihre ungeplante Übernachtung auf „Heidis Almhütte“ oberhalb von Maienfeld zu den Höhepunkten ihrer Tour gehört – auch dank der Gastfreundlichkeit des Senners -, der zwar schon damals von einigen japanischen Touristen berichtet, dann ahnt man, dass derlei Erfahrungen in der heutigen touristisch durchgetakteten Marketingwelt nicht mehr  möglich sind.

Zu gern würde ich wissen, was die Töchter später über diese Reise gedacht haben. Wie war es wohl mit einer so literaturbegeisterten Mutter?

Als ihre beiden älteren Töchter auf der Rückreise Vorschläge machen, wohin die nächste große Tour führen könnte, empfindet Hardyment das als das schönste Kompliment überhaupt.

That assumption that we would be going again, that confidence that they would enjoy it. I felt as pleased as the mother hen in the ‚Ugly Duckling‘ when her brood hatches. I’d hatched a brood, too, a brood of travellers. And romantic ones, at that. Real swans. (S. 247)

Ich jedenfalls bin unglaublich gern mit auf diesen Trip gegangen und war so infiziert, dass ich alle naslang unterbrechen musste, weil ich rasch noch etwas recherchieren wollte. Und natürlich überlege ich jetzt, was ich als nächstes lese: The Wind in the Willows oder Travels with Charley von John Steinbeck? Oder doch Pinocchio?

Next day was positively slovenly – late to rise and late to bed, with much relaxed non-achievement in between. (S. 80)

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Daniela Strigl: Berühmt sein ist nichts – Marie von Ebner-Eschenbach (2016)

Die erste deutschsprachige Biografie zu Marie von Ebner-Eschenbach seit 1920 ist ein sorgfältig recherchierter Brummer von über 400 Seiten.

Daniela Strigl, eine ausgewiesene Kennerin des Ebner-Eschenbach’schen Werkes und Mitherausgeberin der vierbändigen Marie von Ebner-Eschenbach-Leseausgabe im Residenz Verlag, führt die LeserInnen durch das lange Leben der mährisch-österreichischen Autorin, die von 1830 bis 1916 lebte.

Die chronologisch angelegte Biografie las sich für mich zwischenzeitlich, das ist dann aber oft dem Gegenstand geschuldet, etwas langatmig, da Strigl uns ausführlich auch durch jene Jahrzehnte führt, in denen Ebner-Eschenbach der Meinung war, Dramen schreiben zu müssen. Erst als sie auf Erzählungen, Aphorismen und Romane umstieg, kam der Erfolg. Da wurde es auch für mich als Leserin interessanter, sich mit den Inhalten ihrer Geschichten zu beschäftigen. Die Schriftstellerin selbst habe

ihren Weg vom Drama zur Erzählung als Abstieg betrachtet und ihre großen und kleinen Erfolge auf dem Gebiet der Prosa als eine Form des Scheiterns. […] Und in einem abschließenden Superlativ des Understatements spricht die längst als bedeutendste Erzählerin deutscher Zunge anerkannte Marie Ebner sich sogar den Status einer Dichterin ab. ‚In meiner Jugend war ich überzeugt, ich müsse eine große Dichterin werden, und jetzt ist mein Herz von Glück und Dank erfüllt, wenn es mir gelingt, eine lesbare Geschichte niederzuschreiben.‘ (S. 187)

Davon abgesehen ist es aufschlussreich zu lesen, in welch adlig-wohlhabenden Kreisen die Autorin zu Hause war. Ihr Vater hatte sieben Kinder von drei seiner insgesamt vier Ehefrauen – die er alle überlebte – und man gehörte später zur Wiener High Society.

Die Autorin pflegte zahlreiche (Brief-)Freundschaften, die zum Teil Jahrzehnte überdauerten, stand in Kontakt mit literarischen Größen ihrer Zeit. Wir erfahren, wer ihre literarischen Vorbilder waren und welches karikative Engagement aus ihrer sozialen Grundhaltung resultierte.

Darüber hinaus kommt ihre Einstellung, z. B. zur Frauenbewegung, zur Sprache. Aber auch ihre Reitbegeisterung, ihr Vorliebe für Zigarren und ihre späte Liebe zu Rom werden ausführlich gewürdigt. Ebenso geht es um ihre Ehe mit ihrem 15 Jahre älteren Cousin, die kinderlos blieb, und nicht zuletzt um einen umfassenden Einblick in ihr Werk, das oft genug der (adligen) Gesellschaft einen kritischen Spiegel vorhält. Auch ihr späteres öffentliches Auftreten gegen antisemitische Umtriebe war für „eine katholisch sozialisierte österreichische Aristokratin bemerkenswert genug“. (S. 275)

Insgesamt eine Schriftstellerinnenkarriere, die nach diversen erfolglosen Theaterstücken schon zu Ende schien, bevor sie richtig begonnen hatte, und die dann doch bis zu den höchsten Stufen des Erfolgs führte. Sie erhielt als erste Frau das Ehrendoktorat der philosophischen Fakultät der Universität Wien. Sogar für den Nobelpreis wurde später ihr Name ins Spiel gebracht.

Wenig überzeugend fand ich allerdings die zahlreichen psychoanalytischen Deutungsversuche: Wie hilfreich ist es denn, wenn sich Strigl bei der Frage nach der tiefenpsychologischen „Ursache für Maries fundamentale Verunsicherung“ in ihrer Kindheit auf Georg Groddeck bezieht?

‚Der Säugling, der von der Amme gestillt wird, ist in den Zweifel hineingestellt und wird den Zweifel nie verlieren. Seine Glaubensfähigkeit ist im Fundament erschüttert und das Wählen zwischen zwei Möglichkeiten ist für ihn schwerer als für Andere.“ (S.45)

Auch Kinderlosigkeit wird von Groddeck ratzfatz als eine unbewusste Ablehnung der Schwangerschaft gedeutet, ein Ansatz, den selbst Strigl als „einigermaßen provokant“ (S. 110) empfindet.

Wesentlich lohnender erscheint mir die Biografie unter dem Gesichtspunkt, wie Ebner-Eschenbach damit umging, nahezu ein Leben lang gegen den Wunsch ihrer Familie schriftstellerisch tätig gewesen zu sein. Schon die Großmutter schickt sie grob hinaus, als die kleine Marie ihren Wunsch verkündet, später Dichterin werden zu wollen.

Marie ist nun von der ‚Sündhaftigkeit‘ ihrer Passion überzeugt, sie weint mit ihrer Schwester, die auch nicht mehr weiterweiß: ‚Sprich nicht davon; dann vergeht’s vielleicht.‘ […] Was wie eine komische Grille anmutet, erlebt das Kind als schreckliche Gewissensnot, als ein Verdammtsein zum Ungehorsam. Ganz ernsthaft wünscht Marie sich den Tod. Das Urteil der erwachsenen Frau beschönigt nichts: ‚Gut bei diesem Verfahren der Meinen war bloß die Absicht. Gewollt haben sie mein Bestes und, ohne es zu wissen was sie taten, mir das peinvoll demütigende Gefühl eines angeborenen, geheimen Makels aufgebürdet.‘ (S. 57)

Selbst von der Mode waren schreibende Frauen eigentlich nicht vorgesehen. Die Kopfschmerzen, von denen viele Frauen im 19. Jahrhundert berichten, werden von Evelyne Polt-Heinzl mit der Krinoline erklärt, mit der man nicht am Schreibtisch sitzen konnte, stattdessen mussten die Frauen

in vorgebeugter Haltung mit einem Schreibbrett auf dem Schoß vorlieb nehmen. Der Schmerz der malträtierten Halswirbelsäule habe in den Kopf ausgestrahlt. (S. 93)

Groddeck hat auch hier eine andere Deutung im Angebot:

Die bei Frauen oft mit der Menstruation einhergehende Migräne habe die Funktion, die in dieser Zeit gesteigerte, aber nach der Konvention nicht zu befriedigende Libido abzutöten. (S. 93)

Nicht nur der Ehemann sah das Schreiben seiner Gattin kritisch. Auch bei den Brüdern waren große Widerstände zu überwinden. Die Haltung ihres Ehemanns ist dabei zumindest ambivalent: Ist Marie von Ebner-Eschenbach erfolgreich, freut er sich mit ihr; zerreißt die Kritik das Werk, will er ihr prompt verbieten, weiterhin schriftstellerisch tätig zu sein. Er werde schließlich nicht erlauben, dass sie seinen guten Namen verunglimpfe. Und sie, ganz Ehefrau ihrer Zeit:

‚Er hat das Recht so zu sprechen, ich sehe es ein.‘ (S. 161)

Gleichzeitig habe er sich damit abgefunden, dass sie wohl machtlos gegen den Schreibdrang sei. Seinem Testament liegt ein liebevoller Brief bei, in dem er bekennt, sie nicht gefördert zu haben, sie allerdings auch nie absichtlich behindert zu haben. All ihren Erfolg habe sie ausschließlich der eigenen Kraft zu verdanken. (Vielleicht war dies ja das Hauptproblem, das die männliche Eitelkeit zu verkraften hatte?)

Aufschlussreich wird es immer dann, wenn zeitgenössische Kritiker die vorgeblichen Mängel oder Stärken ihrer Stücke und Erzählungen auf das Geschlecht der Autorin zurückführen. Und so erfuhren die LeserInnen der Presse:

‚Der souveräne Humor ist ein männliches Vorrecht.‘ (S. 174)

Ebner-Eschenbach hat ihr Leben lang erfahren, dass es keineswegs allgemein anerkannt war, dass Frauen menschliche Wesen sind, die die gleichen Bedürfnisse nach Bildung und Selbstverwirklichung haben wie Männer. An einer Stelle schreibt sie:

‚Wie aber, wenn die Frau in erster Reihe ein menschliches, und erst in zweiter ein weibliches Wesen wäre? wenn sie eben so viel individuelles Leben besässe wie der Mann und der Ergänzung durch ihn nicht mehr bedürfte, als er der Ergänzung durch sie; und wenn es doch möglich wäre, dass ein wirkliches, ein grosses und der Expansion fähiges Talent auch in einer deutschen Frau zur Erscheinung käme?‘ (S. 306)

Selbst die Genderdebatte hat Ebner-Eschenbach bereits vorweggenommen:

‚Wenn eine Frau sagt ‚Jeder‘ meint sie: jedermann. Wenn ein Mann sagt ‚Jeder‘, meint er: Jeder Mann.‘

Seien wir ehrlich: Vielen von uns ist die Autorin vermutlich nur noch bekannt durch verschwommene Erinnerungen an Schullektüre; und der ein oder die andere assoziert dabei möglicherweise eine behäbige Frau, die für Mitleid, Treue und weitere vielleicht auch zu Unrecht aus der Mode gekommene Begriffe steht. Dabei sollte man sich laut Strigl keinesfalls von dem betulich wirkenden Altdamen-Image der Milde und ausgleichenden Güte, das die Schriftstellerin später selbst aktiv pflegte, abschrecken lassen. 

Es könnte also lohnen, sich einige ihrer Erzählungen und Romane erneut oder zum ersten Mal überhaupt vorzunehmen. Zugegeben: Man wird bei der Lektüre dann das ein oder andere pathetische Adjektiv ertragen müssen. Die liebliche blonde Frau, das stahlharte Herz, die schaudernden Blicke, die eiskalte Hand, die heißen Lippen, die Frau, die Tausenden zum Heil gewirkt habe, das liest sich heute doch, freundlich gesagt, ermüdend und arg klischeehaft. Oder wie Tilman Spreckelsen es in seiner Besprechung vom 12. März 2016 in der FAZ ausdrückte:

Tatsächlich ist es leicht, den Texten Ebner-Eschenbachs […] auf den Leim zu gehen, schließlich enthalten sie genug an nicht selten süßlichen Floskeln und auch an stereotyp gezeichneten Figuren, um darüber die Abgründe der Handlung zu übersehen, die so gar nicht zu dieser konventionellen Prosa passen wollen und die angesichts der auffälligen Parallelen mancher Konstellationen zum Leben der Autorin die Frage aufwerfen, wer da eigentlich schreibt, aus welcher Warte und mit welchen Erfahrungen hier mit erkennbar realistischem Anspruch von den sozialen Verhältnissen in der Habsburgermonarchie berichtet wird.

In diesem Zusammenhang zitiert Strigl den Beginn der psychologisch feinen Erzählung Das tägliche Leben. Dieser Paukenschlag weckte sofort mein Interesse. Und so wird Das tägliche Leben sicherlich nicht die letzte Geschichte sein, die ich von Ebner-Eschenbach lese.

Am Vorabend der silbernen Hochzeit eines allverehrten Ehepaares, die von einem großen Familien- und Freundeskreise feierlich begangen werden sollte, erschoß sich die Frau.

Wer noch Genaueres wissen möchte, bitte hier entlang:

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Iwan Gontscharow: Eine gewöhnliche Geschichte (OA 1847)

Iwan Gontscharows Debütroman Eine gewöhnliche Geschichte, 1847 zunächst in einer Literaturzeitschrift und 1848 als Buch veröffentlicht, nahm mich während der Lektüre durch seinen Stil immer stärker für sich ein, auch wenn mir Oblomow – in bloglosen Zeiten gelesen – doch wesentlich besser gefallen hat.

Der Roman beginnt mit den folgenden Sätzen:

Eines Sommertags war im Dörfchen Gratschi bei der kleinen Gutsbesitzerin Anna Pawlowna Adujewa schon im Morgengrauen alles auf den Beinen, angefangen von der Hausherrin bis zum Kettenhund Barbos.

Nur Anna Pawlownas einziger Sohn, Alexander Fjodorytsch, schlief noch tief und fest, wie es sich für einen zwanzigjährigen jungen Mann gehört; im Haus aber hastete alles umher und war geschäftig am Werk. Das Gesinde ging allerdings auf Zehenspitzen und sprach im Flüsterton, um den jungen Herrn nicht zu wecken. Kaum polterte jemand oder redete laut drauflos, erschien sofort, wie eine gereizte Löwin, Anna Pawowna und erteilte dem Störenfried eine strenge Rüge, bedachte ihn mit einem kränkenden Spitznamen, bisweilen aber auch mit einem Stoß, je nachdem, wie groß ihr Zorn war und es ihre Kräfte zuließen. (Ausgabe des Carl Hanser Verlages, übersetzt von Vera Bischitzky, München 2021, S. 7)

Grund der häuslichen Unruhe ist die bevorstehende Abreise des verwöhnten, verzärtelten Alexander in das über 1000 Kilometer entfernte Petersburg. Dort, so ist er sich sicher, wird er aufsteigen, Karriere machen, alle mit seinen Kenntnissen und seiner tiefen Seele beindrucken, und literarisch wird er der neue Stern am Himmel werden. Wer würde dort seinen Gedichten widerstehen?

Dabei hat er keine besonderen Befähigungen oder gar Veröffentlichungen vorzuweisen, doch die 20 Jahre, in denen seine Mutter ihm zum Mittelpunkt des Universums gehätschelt hat, haben dafür gesorgt, dass er sich ausgestattet mit sentimentalen Flausen, einer gehörigen Portion Egoismus und kolossaler Selbstüberschätzung auf den Weg macht.

Kummer, Tränen und Nöte kannte er nur vom Hörensagen, wie man eine Krankheit kennt, die sich nicht fassen lässt, im Verborgenen aber ihr Unwesen unter den Menschen treibt. So kam es, dass ihm die Zukunft in rosigen Farben erschien. Etwas zog ihn in die Ferne, was genau es aber war, das wusste er nicht. Verlockende Schemen huschten über den Horizont, doch er konnte sie nicht erkennen; er hörte allerlei Töne – bald die Stimme des Ruhmes, bald die der Liebe: all dies ließ ihn wonnig erbeben. (S. 18)

Besonders was die Liebe angeht,

träumte er von einer kolossalen Leidenschaft, die keinerlei Hindernisse kennt und unglaubliche Heldentaten vollbringt. (S. 18)

In Petersburg nimmt ihn ein Onkel unter seine Fittiche, der den Bildungsweg, den Alexander noch durchlaufen muss, bereits hinter sich hat und sich ausschließlich seiner erfolgreichen Karriere als Fabrikant widmet. Der Onkel bringt Alexander im Staatsdienst unter und findet die Ambitionen des Neffen, ein großer Dichter zu sein, einfach lächerlich. Ein Großteil des Romans nehmen die Streitgespräche zwischen Neffen und abgeklärtem Onkel ein.

Die verlaufen mir manchmal arg schematisch und obwohl sie sich ausdauernd streiten über den Sinn und Unsinn des Lebens, erstaunt es, dass sie dies ohne jegliche Bezugnahme auf Religion oder andere philosophische Systeme tun. Nach was soll man streben, nach der idealen Liebe (die einen so in Beschlag nimmt, dass man sich gar nicht mehr um so profane Dinge wie den Lebensunterhalt kümmern kann) oder der Erfüllung rein eigennütziger Erwägungen? Das erscheint mir schon in der Fragestellung etwas eng geführt. Überhaupt, das Liebeskonzept der Männer dient bei näherer Betrachtung wohl oft eher der eigenen Selbstbespiegelung.

Am Ende und viele Jahre später ist – wie könnte es anders sein – Alexander nach einigen Irrungen und Wirrungen ein ordentliches Mitglied der Gesellschaft geworden, die jugendlichen Flausen, die jugendliche Unbedingtheit gehören der Vergangenheit an. Man hat sich eingerichtet. Die Sinnfrage hat sich erledigt. Als LeserIn seufzt man ein wenig, denn man weiß, weder Onkel noch Neffe haben überzeugende Antworten gefunden.

Fazit: Ich mag dieses üppige und ausschweifende Erzählen, das Eintauchen in eine ganz andere Welt, eine andere Gesellschaft, aber die Figuren dieses Romans bleiben mir genau wie ihre Kümmernisse fern. Also Notiz an mich selbst: unbedingt Oblomow wiederlesen.

Heather Lende: If you lived here, I’d know your name (2005)

If you lived here, I’d know your name ist ein unvergleichliches Buch, das mir nicht nur die Stadt Haines in Alaska mit ihren ca. 2500 EinwohnerInnen auf die innere Landkarte geschrieben hat.

Lende, die ursprünglich aus New York stammt, aber mit ihrem Mann und zwei Hunden nach dem College irgendwie in Alaska hängengeblieben ist und seit 1984 in Haines lebt, hat in der dort einmal wöchentlich erscheinenden Lokalzeitung inzwischen über 400 Nachrufe geschrieben und war ebenfalls verantwortlich für die Duly Noted-Rubrik, wo so dies und das gesammelt wird, was in einer Kleinstadt erwähnenswert erscheint. Beispiele dieser Duly Noted-Kurznachrichten finden sich zu Beginn eines jeden Kapitels.

Die Autorin hat mit ihrem Mann Chip fünf Kinder großgezogen, inzwischen vier Bücher geschrieben und in diversen Publikationen veröffentlicht. Und das, obwohl sie immer nur „around the edges of a busy life“ geschrieben hat. 2021 wurde sie zum Alaska State Writer Laureate ernannt.

Und nun zum Problem dieses hinreißenden Buches: Wie soll man den Inhalt beschreiben? Es geht in großen Kapiteln, die eher locker durch eine jeweilige Überschrift zusammengehalten werden, assoziativ, ziemlich unchronologisch und herrlich chaotisch mäandernd um das Leben in Haines, sehr nah dran an der eigenen Biografie, den Freunden und Nachbarn, aber auch an den Familien, die gerade einen geliebten Menschen verloren haben, die die Autorin dann besucht, um die Nachrufe schreiben zu können.

Überhaupt ist das Leben in Alaska nicht ungefährlich, Menschen sterben auf der Straße, die kleinen Segelflugzeuge zerschellen am Berg; eine befreundete Familie ruft mitten in der Nacht an, das Fischerboot ihres Sohnes ist in einen Sturm geraten. Man möge bitte beten. Drei Menschen können gerettet werden, doch die Leiche des Sohnes wird nie gefunden.  Der Weg durch die Trauer, den die Mutter des jungen Mannes geht, wird auf nur einer halben, aber sehr eindrücklichen Seite erzählt.

Es geht darum, wie man die politischen Querelen zwischen strammen Republikanern und Liberalen aushält, die auch vor einem kleinen Ort wie Haines nicht Halt machen, um Umweltzerstörung und die Frage, ob die Schule nach miesen Mobbingvorfällen einen Workshop zu Homosexualität abhalten sollte, genauso aber auch um die Wunden und Traumata des indigenen Volkes der Tlingit, ihre Bemühungen, ihre Kultur zu leben, sie manchmal sogar erst wieder zu lernen.

Paul tells me he’s learning the Tlingit language so he can believe the stories of his people, not just know the plots. When he was young, missionaries and the government prohibited Alaskan natives from speaking their language and living traditionally. They often took Tlingit children from their homes and families, placing them in boarding schools as far away as Washington and Oregon. Now Paul is a grandfather and is committed to relearning  a way of living that he says is not lost but rather hiding, just below the skin. (S. 38)

Lende liebt ihre neue Heimat, die oft gefährliche und atemberaubend schöne Natur, das Joggen mit ihrem Hund, ihre Familie, das Räuchern der Fische, das Beerensammeln mit den anderen Frauen, bei dem man laute Musik spielt, um die Bären zu vertreiben, das Engagement von so vielen Menschen für das Gemeinwohl und unzählige Aktivitäten, die man hier vermutlich mit dem Etikett Ehrenamt versehen würde, dort aber wohl eher unter normaler Nachbarschaftshilfe verbucht. Sogar die Aufgaben des Bestatters werden von einem Ehepaar unentgeltlich übernommen. Man muss die beiden nur fragen.

Die Haustür wird nicht abgeschlossen, die Autoschlüssel bleiben stecken, die Tageszeitung ist nie aktuell, da sie erst eingeflogen werden muss. Eine Entbindungstation gibt es schon seit Jahren nicht mehr und ein entzündeter Blinddarm kann lebensbedrohlich sein, je nachdem, ob der Pass über die kanadische Grenze aufgrund der Schneefälle noch passiert werden kann.

Ihre zweite Tochter bekommt Lende während eines entsetzlichen Schneesturms. Die zukünftige Großmutter kommt extra angereist.

Mom had arrived from New York a few days earlier on a ferry coated with ice. The usual four-and-a-half-hour trip had taken nearly eight as northern gales kept the boat from moving at full speed. Mom was one of the few passengers who didn’t get sick. She also didn’t know it was dangerous at all. She’d never been on the ferry before and assumed it was always like that.

Nach nur fünf Stunden in der damaligen Krankenstation können Heather und Baby Sarah zurück nach Hause. Am nächsten Morgen moderieren Freunde von Heather eine Radiosendung.

… and they talked on air about the new Lende baby, telling listeners that her name was Sarah […] and her weight was eight pounds, two ounces. As for the state of the mother’s health: „I saw Heather shoveling the driveway today on my way to work,“ Steve said.

I thought my mother woud kill me. „He’s kidding, Mom,“ I told her. „It’s a joke.“ She was not amused. (S. 14)

Ebenso erfahren wir von Wohltätigkeitsbuffets, bei denen jeder mit Begeisterung viel mehr ausgibt, als er eigentlich wollte, um einer Familie finanziell unter die Arme zu greifen, die die teure medizinische Behandlung des Kindes nicht mehr allein stemmen kann. Und die Aufführungen der Laienspielgruppe, bei denen man wirklich alle Mitwirkenden kennt, bleiben Lende länger in Erinnerung als der Besuch des Musicals Cats in New York.

Lendes Arbeit als Verfasserin der Nachrufe, die auch mal zwei Zeitungsseiten lang sein können, bringt sie nicht nur mit den unterschiedlichsten Charakterern, Lebensentwürfen und Schicksalen zusammen, sondern konfrontiert sie natürlich auch mit Frage, wie Menschen auf den Verlust reagieren, worin sie Trost und Halt finden.

Aber genauso sinniert sie darüber, was es bedeutet, wenn ihr zehnjähriger Sohn zum ersten Mal mit seinem Vater auf die Jagd geht, und warum es ihr wichtig ist, dass ihre Töchter als Deckhands auf einem Fischerboot jobben, auch wenn sie weiß, dass das keine ungefährliche Aufgabe ist.

Das Besondere an diesem Buch ist neben der schieren Fülle an Geschichten aber vor allem der Blick der Erzählerin auf die Welt. Zurückgenommen, dezent selbstironisch und humorvoll. Warmherzig, dankbar, im Glauben geerdet, den Menschen zugewandt, bescheiden. Zupackend und hoffnungsvoll.

Da wird mit der gleichen Selbstverständlichkeit davon erzählt, dass man ein Roma-Waisenmädchen adoptiert, wie davon, dass es gar nicht so einfach sei, zu Hause mal in Ruhe ein schönes Ei-Sandwich zu essen, da einem ständig Anrufe, spontane Gespräche und Aufgaben dazwischenkommen.

Wer wissen will, was ein Drache mit einem Feuerlöscher, der mit 25 Kilo Mehl gefüllt ist, mit Weihnachtsstimmung zu tun hat, muss das Buch nun trotz meiner wie immer ausufernden Inhaltsangabe doch noch selbst lesen. Ich jedenfalls, am Ende der 281 Seiten angekommen, könnte gleich wieder von vorn beginnen. Eine Wundertüte von Buch, das sowohl Kritiker als auch LeserInnen beglückt hat und dazu einlädt, unter anderem darüber nachzudenken, wo sich unser Leben fundamental von dem der Einwohner Haines‘ unterscheidet. Vermutlich ist das bei uns oft viel zersplitterter, vereinzelter und ego-bezogener.

Lende hingegen ist sich sicher:

It’s as if we are all moving through this world on a big old ship, holding on to one another as we cruise up the generous river of life. The water that floats us is always new, yet it flows in the same direction, over the same old sand. (S. 44)

Oder wie es an anderer Stelle heißt, an der Lende die Schriftstellerin Annie Dillard zitiert:

How we spend our days, of course, is how we spend our lives. (S. 85)

Einzig das Cover fand ich etwas dürftig, aber gut, das sollte niemanden abhalten.

Wer noch ein bisschen weiterstöbern möchte, könnte beispielsweise dem Hinweis zu Elisabeth Peratrovich nachgehen oder sich gleich auf dem Blog Lendes festlesen.

Geheime Welten: Deutsche Tagebücher aus den Jahren 1939-1947 (1999)

Der Filmregisseur und Autor Heinrich Breloer (*1942) hat in dem Band 281 aus der Reihe Die Andere Bibliothek Ausschnitte aus zwölf Tagebüchern zusammengestellt, die allesamt aus der Zeit des Nationalsozialismus stammen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den Wochen und Monaten des Kriegsendes.

Es ist eine intensive und auch spannende Geschichtsstunde, die uns hier vermittelt wird. Da steht die hellsichtige Abneigung eines jungen Schülers gegen den Nationalsozialismus neben den Fronterfahrungen des Soldaten und der Fanatismus einer gläubigen Hitleranhängerin neben der Sehnsucht einer jungen Frau aus sozialdemokratischer Familie nach dem baldigen Untergang des Terrorregimes. Gleichzeitig werden Kinoabende genossen, sich Sorgen um die Familie gemacht, es geht um die Bombardierung Hamburgs, die große Liebe, nervenaufreibende Jahre in heimlichen Verstecken, um nicht in russische Kriegsgefangenschaft zu geraten, um Aufenthalte im Luftschutzbunker sowie um Fluchterfahrungen der Vertriebenen. Daneben Szenen unfassbarer Dämlichkeit und Grausamkeit; noch im allierten Gefangenenlager werden Deutsche von ihren Kameraden totgeschlagen, weil sie nicht mehr an den Endsieg glauben.

Die Tagebücher zeigen: Für viele war Hiter die legitimierte Lichtgestalt, solange die Siegesmeldungen kamen. Alle Propaganda-Begründungen für Krieg und Unrecht hatte man verinnerlicht. Erst die Niederlagen und der endgültige Zusammenbruch des Regimes erschüttern den Glauben vieler Deutscher an die Rechtmäßigkeit des Hitlerterrors. Ausgeblendet wurde alles, was den Kreis des eigenen Lebens überstieg.  So sagt sich manch einer innerlich in dem Moment vom „Führer“ los, als auch die eigene Familie in Deutschland vom Bombenhagel der Allierten getroffen werden konnte.

Wenn der Krieg in dieser Weise verlorengeht und wenn meine Familie dabei leidet, dann hasse ich Hitler von ganzer Seele, denn er hat das große Unglück in dieser Weise heraufbeschworen. (Kurt, S., in seinem Versteck in den Karpaten, S. 209)

Manch einer jammert dann noch über den unfairen Feind und die Unbelehrbaren fantasieren währenddessen bereits von einer neuen Dolchstoßlegende, vom schmählichen Verrat am tapferen deutschen Soldaten.

Die Meldung im Radio vom 1. Mai 1945 zum Tode Hitlers war mehreren der Tagebuch-Schreibenden eine Eintragung wert:

‚Der Führer Adolf Hitler ist heute nachmittag auf seinem Befehlsstand in der Reichskanzlei, bis zum letzten Atemzuge kämpfend, für Deutschland gefallen.‘ Tot also. Schade. Er sollte doch noch arbeiten und wenigstens einige der Qualen ausstehen, die er Millionen von Menschen bereitet hat. (Erika S., aus sozialdemokratischem Elternhaus, S. 122)

Eine andere junge Frau, die ganz beglückt war, als das Attentat auf Hitler misslang, hält diesen Moment so fest:

Unser Führer, der uns soviel versprochen hat, hat erreicht, was noch kein deutscher Machthaber fertigbekommen hat, er hat ein völlig zerstörtes Deutschland hinterlassen, alle Menschen um Haus und Hof gebracht, aus ihrer Heimat vertrieben, Millionen sterben lassen, kurz ein entsetzliches Chaos erzielt. Und wieder müssen wir, das arme Volk, die Suppe auslöffeln. (S. 141)

Charlotte L., die noch am 22. April fest an den Endsieg glaubt, schreibt am 5. Mai 1945:

In diesen schwierigen Tagen hat sich unendlich Schweres für Deutschland zugetragen. Unser Führer war in Berlin und kämpfte selbst gegen den größten Feind der Deutschen, den Bolschewismus. Er fiel am 1. Mai für sein Volk. Ich wollte es nicht glauben. Unser geliebter Führer, der alles für uns, für Deutschland getan hat. Werden wir jemals ihm all die Jahren danken können! Wie wenige aber sind ihm noch treu auch über den Tod hinaus. Was ist der Deutsche nur für ein Mensch, daß er so unbeständig in seiner Meinung ist. Mir will es das Herz zerreißen, wenn ich sehe, wie die Menschen die Weltanschauung wechseln.

Hannelore S. schreibt am 30. Mai 1945:

Das Leben ist zu grausam. War all das Beten u. Bangen, das Bitten u. Hoffen, all die Opfer umsonst? […] Kann es einen Gott geben, der das alles so mit ansieht? Gott ist gerecht. Aber ist es gerecht, daß ein Volk, das alles geopfert hat, um zu leben, nur um zu leben und sauber bleiben zu dürfen, auf diese Weise untergehen muß? Es ist schwer, weiter Idealist zu sein u. nicht schlecht zu werden. (S. 269)

Es war aufschlussreich zu lesen, wie die Zivilbevölkerung auf das nahende Kriegsende blickte. Bei der Lektüre wird einem wieder bewusst, welche Illusionen, welch ideologische Verblendung und welcher Größenwahn damit zusammenbrachen, welche Ressentiments nach Kriegsende wohl weiterschwelten, welche Verrohung sich nun nicht mehr austoben durfte, aber auch welches Leid, welche Verluste und Alpträume noch traumatisch in der Generation meiner Großeltern weitergewirkt haben müssen.

Ich dachte im Bette darüber nach, daß ich wirklich nicht mehr leben möchte, wenn dieser Hitler mit seiner mörderischen Bande von Nationalsozialisten  endgültiger Sieger in diesem Ringen bleiben sollte. Ich möchte lieber sterben, als das erleben! (Heinrich S, 9. April 1941)

Am Ende wird aber auch deutlich, dass die schönen Worte aus dem Vorwort nicht stimmen. Auch Tagebuch-Schreibende sind verführbar, standhaft, feige, verblendet, fanatisch, hellsichtig, opferbereit, lernfähig und zur Reue fähig. So wie alle anderen Menschen auch.

Dennoch, wer seine verborgenen Gedanken aufschreibt, der ist für die große Anpassung ungeeignet. (S. 8)

Die große Frage bleibt: Was schützt den Menschen vor Ideologie, Verschwörungsmythen, Größenwahn?

Und Viktor Klemperer müsste man auch dringend mal wieder lesen…

Peter Hunt: Die Erfindung von Alice im Wunderland – Wie alles begann (OA 2020)

Schon 1932, als sich der Geburtstag des Erfinders der Alice-Bücher zum hundertsten Male jährte, stöhnte Gilbert K. Chesterton, dass die Alice-Bücher von Lewis Carroll, inzwischen von Kritikern und Gelehrten übernommen, vereinnahmt, befragt, gedeutet und auseindergenommen wurden.

Poor, poor, little Alice […] she has not only been caught and made to do lessons; she has been forced to inflict lessons on others. Alice is now not only a schoolgirl but a schoolmistress. The holiday is over and Dodgson is again a don. There will be lots and lots of examination papers, with questions like: (1) What do you know of the following; mimsy, gimble, haddocks‘ eyes, treacle-wells, beautiful soup? (2) Record all the moves in the chess game in Through the Looking-Glass, and give diagram. […] Distinguish between Tweedledum and Tweededee. (The Annotated Alice; hrsg. von Martin Gardner, erweiterte Ausgabe von Mark Burstein, 2015, W. W. Norton & Company, New York, S. xiii)

Das hat Peter Hunt (*1945), emeritierter Professor für Kinderliteratur, nicht davon abgehalten, der inzwischen unüberschaubaren Menge an Büchern und Artikeln ein weiteres unterhaltsames und informatives Werk hinzufügen. Es wurde – übersetzt von Gisella M. Vorderobermeier – 2021 von der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft unter dem Titel Die Erfindung von Alice im Wunderland – Wie alles begann veröffentlicht.

An dieser Stelle meinen herzlichen Dank für die Bereitstellung eines Besprechungsexemplars!

Die Bücher Charles Lutwidge Dodgsons (1832 – 1898) werden hier sozusagen vom Kopf auf die Füße gestellt.

Im Dezember 1865 brachte der Londoner Verleger Macmillan das Buch eines 33-jährigen Mathematikdozenten aus Oxford, Charles Dodgson, heraus. Es war zu einer gewissen Verzögerung gekommen, da die Qualität seines ersten Drucks, für den Dodgson selbst aufgekommen war – was ihn fast ein Jahresgehalt gekostet hatte -, nicht seinen peniblen Ansprüchen genügte. Es war ein Kinderbuch, aber ein eher eigenartiges, denn es war vom seinerzeit berühmtesten Illustrator und Satiriker, John Tenniel, illustriert, und seltsamer noch: Es unterschied sich von fast jedem bisher erschienenen Kinderbuch darin, dass dahinter keine moralische Aussage zu stehen schien. (S. 9)

Hunt unternimmt hier den Versuch, uns wesentliche Erkenntnisse der über hundertfünfzigjährigen Auseinandersetzung mit Carrolls Werk in knapp über 100 kurzweiligen Seiten nahezubringen, die mit Informationen vollgepackt sind. Davon nimmt die großzügige Bebilderung ungefähr die Hälfte der Seiten ein.

Der Autor möchte die „verschiedenen Schichten von Ideen“ untersuchen, die bei der Entstehung der Bücher eine Rolle spielten: Das ist für Hunt zum einen die Welt Oxfords, die seine jungen Leserinnen wiedererkannt haben werden, samt vieler Bezugnahmen auf die familiäre Konstellation der realen Alice Liddell.

Des Weiteren fließen die Welt der Politik und der Wissenschaft samt ihrer damaligen Scharmützel (z. B. zur Evolutionstheorie) ein. Und schließlich wäre da noch die „private Welt in Charles Dodgsons Kopf“, die sich u. a. aus Freude an Schach, Theaterleidenschaft, Büchern, Besuchen in London, Lust an Symbolen, purem Nonsens und mathematischen Zahlenspielen zusammensetzt.

Daneben geht es aber auch um die Stellung, die die Alice-Bücher in der Entwicklung der Kinder- und Jugendliteratur haben, waren sie doch – ganz im Gegensatz zur sonstigen zeitgenössischen Literatur für Kinder – frei von jeglichem Moralisieren und erhobenem Zeigefinger. Zudem widmet sich Hunt den kulturellen, musikalischen und literarischen Anspielungen und Persiflagen, die die (erwachsenen) Zeitgenossen Carrolls sofort erkennen und entschlüsseln konnten.

In einem weiteren Kapitel wird nachgezeichnet, wie aus den handschriftlichen Notizen eines Sommertages ein weltweit gelesener Klassiker wurde.

Das ist auf so knapp bemessenem Raum nur möglich, weil Hunt alle vier Alice-Bücher nicht chronologisch, sondern aus verschiedenen Blickwinkeln gleichzeitig betrachtet.

Doch noch einmal zurück zum Urknall dieses literarischen Universums:  Am 4. Juli 1862 unternahmen zwei junge Dozenten, Charles Dodgson (29) und sein Freund Robinson Duckworth (27)

mit dreien der Töchter des Dekans von Christ Church, Henry Liddell, – Lorina (13), Alice (10) und Edith (8) – einen Bootsausflug. Daran ist nichts Ungewöhnliches: Tatsächlich ist es eine Art Mode – und taktisch vermutlich nicht unklug –  unter jungen Dozenten, die Töchter ihrer älteren Kollegen zu solchen Ausflügen mitzunehmen. (S. 17)

Um der kleinen Gesellschaft die Zeit zu vertreiben, erzählt Carroll eine Geschichte, die sich Alice im Nachhinein als Abschrift erbittet. So entsteht die handschriftliche Version Alice’s Adventures Under Ground, die Carroll „seiner kindlichen Freundin Alice Liddell“, der Tochter des Dekans, zueignete.

In den Erinnerungen der Beteiligten Jahre und Jahrzehnte später hat der Ausflug an einem paradiesisch schönen Sommertag stattgefunden. Allerdings war – das kann man überprüfen – das Wetter an diesem Tage regnerisch und eher ungemütlich.

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Von der handschriftlichen Version ausgehend entstand die dann publizierte Version Alice’s Adventures in Wonderland (1865). Es ist anzunehmen, dass in Wonderland mehrere bereits bei anderen Gelegenheiten erzählte Geschichten einflossen. Sechs Jahre später erschien Through the Looking Glass (1871). Und zu guter Letzt gab es die gekürzte Version für jüngere Kinder The Nursery Alice (1889/1890).

Ein wichtiger Aspekt ist Carrolls Freude am Spott, an Ironie. Ständig werden in seinen Werken die Texte zeitgenössischer Lieder, Gedichte und moralisierender Kinderbücher veralbert, umgetextet und persifliert. Auch Zeitgenossen und Kollegen waren nicht davor gefeit, sich plötzlich verfremdet in den Alice-Büchern wiederzufinden. Man mutmaßt sogar, dass Tenniels Zeichnung des großen Welpen aus Alice in Wonderland eine Anpielung auf Charles Darwin sein sollte.

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Nicht vergessen werden darf dabei natürlich Carrolls Liebe zum neuen Medium der Fotografie. Seine Ausrüstung wurde zunehmend professioneller und in seinem Portfolio befanden sich viele Aufnahmen berühmter Zeitgenossen.

Er hatte viele weitere ‚kindliche Freundinnen‘, gab es aber 1880 auf, sie  – oder jemanden sonst – zu fotografieren, teilweise wegen unziemlicher Gerüchte. (S. 110)

Was Hunt nicht explizit nennt, es handelte sich dabei häufig um Nacktaufnahmen junger Mädchen, gern im Alter von ca. sechs Jahren (siehe dazu auch die Abschnitte in Wikipedia unter dem Stichwort Der Fotograf und die Mädchen bzw. Sexual Preferences). Sie verkörperten für ihn Unschuld und vollkommene Schönheit. Carroll war immer darauf aus, die Bekanntschaft junger Mädchen zu machen, und auf Bahnfahrten beispielsweise hatte er immer Spiele dabei, um einen Anknüpfungspunkt zu haben. Jungen hingegen verabscheute er.

Abschließend lässt sich sagen, dass Peter Hunts Streifzug durch die Alice-Bücher informativ und unterhaltsam ist. Dazu ist sein Buch ein Augenschmaus, mit 20 Illustrationen von Tenniel, vielen weiteren Bildern und zeitgenössischen Fotografien. Eine Einladung für alle, die sich auf Spurensuche zu zweien der bekanntesten Kinderbücher der Welt begeben wollen, ohne sich dabei in allzu langen Bibliotheksgängen zu verlaufen.

Gleichwohl eignet sich das Buch nicht unbedingt als Parallellektüre zu den Werken, da Hunt ständig zwischen den Zeiten und den einzelnen Alice-Büchern hin und her springt. Muss es für die Zeitgenossen faszinierend gewesen sein, all die Anspielungen auf reale Orte, Lieder und Texte zu entschlüsseln, ist dieses Vergnügen für die heutige Leserschaft nur noch second-hand über die Erklärungen bewanderter Literaturexperten nachzuvollziehen. Und da wäre es für die LeserInnen möglicherweise hilfreicher, wenn diese Erklärungen dem jeweiligen Alice-Buch zugeordnet worden wären.

Dem leidigen Thema, wie denn nun die „Freundschaft“ eines erwachsenen Mannes zu einer Zehnjährigen oder überhaupt zu kleinen Mädchen zu bewerten sei, geht Hunt weiträumig aus dem Weg. Er wolle eben nicht „gefährlich nahe an halbseidenen Spekulationen über Dodgsons Privatleben entlangsegeln“. (S. 93) Wer wissen möchte, was dazu bekannt ist, sei beispielsweise auf Martin Gardner (siehe unten) hingewiesen.

Was ich vermisst habe, waren Hinweise darauf, wie sehr einzelne Figuren und sprachliche Wendungen aus den Alice-Büchern in die englische Kultur eingegangen sind. Wie selbstverständlich wird davon gesprochen, dass jemand „mad as a hatter“ sei oder sich im „rabbit hole“ der gerade angesagten Verschwörungstheorien verlaufen habe.

Interessant ist Hunts Lesweise der Bücher, deren Rezeption immer auch vom Leser abhänge, aber allemal: Dieses nach-darwin’sche gottlose Universum sei

eine Welt, in der nur der Stärkste überlebt: Alles ist instabil und bedrohlich; fromme Verse erhalten eine grausame Wendung und Alice überlebt nicht durch Verstand oder Souveränität, sondern durch ihr passiv-aggessives Verhalten. Was vielen als ein liberales, befreiendes Bild der Kindheit erschienen ist (und noch erscheint), ist in Wirklichkeit ein Alptraum aus der Zeit nach Darwin. Möglicherweise ist die Tatsache, dass letztlich alles nur ein Traum ist, kein Mangel an feministischer Courage auf Seiten von Dodgson und kein Eingeständnis der Realitäten in Bezug auf die Stellung eines Mädchens in der Gesellschaft, sondern Ausdruck einer verzweifelten Hoffnung, dass sich die Dinge n i c h t ändern mögen. (S. 82)

Wer sich hingegen eine konkrete Lesebegleitung, Seite für Seite, Kapitel für Kapitel wünscht, dem würde ich doch eher zu dem Ziegelstein von Martin Gardner raten, The Annotated Alice, 150th Anniversary Deluxe Edition (2015). Füchterlich unhandlich und schwer, wie all diese wunderbaren kommentierten und illustrierten Ausgaben der W. W. Norton & Company. Aber da bleibt dann wirklich keine Frage offen.

Fundstück von Friedrich Glauser

Was die Menschen doch alles fanden! Da gab es: Eheberater, bestallte Psychologen, Psychotherapeuten, Fürsorger; es waren erbaut worden: Trinkerheilanstalten, Erholungsheime und Erziehungsanstalten … All dies wurde eifrig und bureaukratisch betrieben … Aber viel eifriger noch und weniger bureaukratisch wurden fabriziert: Gasbomben, Flugzeuge, Panzerkreuzer, Maschinengewehre … Um sich gegenseitig umzubringen … Es war wirklich eine kohlige Sache um den Fortschritt…

aus: Friedrich Glauser: Matto regiert (1936), DAS MAGAZIN – Schweizer Bibliothek, Bd 1, S. 187

Kleines Krimi-Update

Wenn ich Krimis lese, will ich normalerweise gar nichts besonders Tiefsinniges über den oft betrüblichen Zustand der Welt erfahren, großartige Bücher wie die von Barbara Neely sind da eher die Ausnahme. Stattdessen möchte ich abschalten, entspannen, mich – auch gern mal mit screwball comedy-Wortwitz – unterhalten lassen, dementsprechend verirren sich weder Psychothriller noch Krimis mit seitenlang ausgebreiteten grauslichen Details zu mir. Und in den letzten Monaten sind mir einige englischsprachige Krimis untergekommen, die sich für unfreundliche Apriltemperaturen bestens eignen. Vier dieser Titel möchte ich hier kurz und bündig vorstellen.

Ianthe Jerrold: Dead Man’s Quarry (1930)

Den Auftakt macht Ianthe Jerrold mit ihrem 1930 erschienenen Dead Man’s Quarry. Es ist der zweite und damit leider auch schon der letzte Band um ihren Hobbydetektiv John Christmas. John, der zusammen mit seinem Kollegen aus der Forensik Sydenham Rampson einige  Tage Urlaub in Wales macht, begegnet zufällig einer kleinen sympathischen Truppe, die auf der letzten Etappe ihres Fahrradurlaubs ist. Doch just am letzten Tag kommt ihnen der kürzlich aus Kanada zurückgekehrte Baronet Charles Price abhanden. Dass er am nächsten Tag ermordet in einer stillgelegten Mine gefunden wird, macht die Sache nicht besser. Zwar war die Auflösung ein wenig lieblos, aber bis dahin hat man viel Spaß an den Dialogen, der Haken schlagenden Handlung und den Charakterzeichnungen.

Delano Ames: She shall have Murder (1948)

1948 wurde der erste Band um den Genussmenschen Dagobert Brown und seine Verlobte Jane, die er später ehelichen sollte, von Delano Ames, einem Amerikaner, unter dem Titel She shall have Murder veröffentlicht. Dagobert weicht langweiliger Berufstätigkeit meist erfolgreich aus und ist ständig auf der Suche nach Ideen für gute Krimis, die dann aber nicht er, sondern Jane schreiben soll. Zum Glück hat Jane aber ihren eigenen Kopf. Der Krimi macht einfach Spaß, launige Dialoge, spannende Handlung. Kann ich empfehlen, was aber nichts daran ändert, dass ich den zweiten Band der Reihe so unfassbar nervtötend und albern fand, dass ich ihn noch nicht einmal zu Ende gelesen habe.

Cyril Hare: An English Murder (1951)

Der Dritte im Bunde ist Cyril Hare mit seinem Krimi An English Murder. Die Auflösung war zwar sehr speziell, doch dieser klassische Whodunnit aus dem Jahr 1951 hat all die notwendigen Bestandteile, die man  erwarten darf, wenn die Handlung an Weihnachten in einem Landhaus spielt, das eingeschneit und deshalb nicht zu erreichen ist. Die Telefonleitungen sind zusammengebrochen und die Menschen, die sich dort zum letzten Mal fürs familiäre Weihnachtstreffen versammelt haben, bringen, wie könnte es anders sein, alle ihre Geheimnisse und Nöte mit.

Gyles Brandreth: Oscar Wilde and the Ring of Death (2008)

Der sehr umtriebige Gyles Brandreth (*1948 in Wuppertal) geht mit seiner Krimireihe um Oscar Wilde am weitesten in die Vergangenheit zurück. Als Erzähler lässt er den späteren Biografen Wildes, nämlich Robert Sherard, fungieren. Dieser Ich-Erzähler fällt zwar ein wenig blass neben der Hauptfigur aus, aber das ist ja oft das Schicksal dieser Watson-Figuren. Brandreth gelingt es unglaublich gut, den Schriftsteller und Lebemann Wilde in all seiner Widersprüchlichkeit auftreten und ihn  dabei gleichzeitig als erfolgreichen Detektiv agieren zu lassen. Dabei werden sowohl das London kurz vor der Jahrhundertwende als auch die Familie, Freunde und Feinde Wildes so glaubwürdig und unaufdringlich miteingeflochten, dass man hinterher vieles weiß, was einem vorher unbekannt war. Gelesen habe ich u. a. Oscar Wilde and the Ring of Death (2008), auch wenn angemerkt sein muss, dass sich da manche Szenen schon nah an meiner Schmerzgrenze, was Brutalität angeht, bewegten.

Robert Barnard: Sheer Torture (1981)

Sheer Torture des britischen Englischprofessors Robert Barnard (1936 – 2013) ist ein vergnüglicher Auftakt zu der Serie um den Ermittler Peregine „Perry“ Trethowan.

Perry ist alles andere als entzückt, ausgerechnet in einem Mordfall tätig werden zu müssen, in dem sein eigener Vater das Opfer ist.

Nicht aus Trauer oder Betroffenheit, sondern weil er seiner schauderhaften Familie und seinem Vater, der nie einen Hehl aus seinen sadomasochistischen Neigungen gemacht hat, schon als junger Mann den Rücken gekehrt hat. Doch das hilft nun alles nichts. Sein Vorgesetzter beordert Perry zurück ins Herrenhaus der Familie, zurück zu seiner Schwester, den zwei bizarren Tanten – von denen eine ihre jugendliche Verehrung für Hitler immer noch glücklich vor sich herträgt -, dem reichen Onkel und zwei Cousins sowie einer Schar unerzogenener und ständig schreiender Gören.

Zu allem Überfluss lädt sich auch noch Jan, die Ehefrau Perrys, selbst zu dem Familientreffen ein, und dabei war Perry so froh, sie seit Jahren von seiner Sippe ferngehalten zu haben.

Robert Barnards Dialoge sind schlagfertig, es gibt Tempo, Witz und Spannung, sodass sich das Buch über weite Strecken wie ein Krimi des Golden Age liest – Barnards großes Vorbild war Agatha Christie – und man sich zwischendurch wundert, durch die Seitenhiebe auf Mrs Thatcher daran erinnert zu werden, dass die Handlung doch in den achtziger Jahren spielt.

Aus derselben Reihe las ich auch The Case of the Missing Brontë. Da kann man dann zeitgleich Spaß an Krimis mit seiner Freude an den Geschwistern Brontë kombinieren. Es geht um ein (mutmaßliches) Manuskript, das die reizende pensionierte Lehrerin Edith Wing von ihrer Cousine geerbt hat und natürlich für Tunichtgute aller Art eine finanzielle Verlockung sondergleichen darstellt. Darüberhinaus bekommt noch ein bestimmter Typ an raffgieriger pseudofrommer Freikirche ihr Fett ab. War ebenfalls spannend, allerdings fehlen über weite Strecken die hübschen Schlagabtausche in den Dialogen.

Hier der kurze, aber informative Nachruf auf Barnard im Guardian.

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Elizabeth Taylor: Mrs Palfrey at the Claremont (1971)

Anlässlich der Übersetzung ins Deutsche noch einmal ein Blick zurück auf einen sprachlich besonders feinen Roman.  Mrs Palefrey at the Claremont (1971) stellt sich unerschrocken, kühl, manchmal ironisch und immer unsentimental den Themen Alter und Einsamkeit. Sehr gern gelesen. Das Buch zwickt und zwackt auch dann noch, wenn man es längst ausgelesen hat. Es beginnt mit den Sätzen:

Mrs Palefrey first came to the Claremont Hotel on a Sunday afternoon in January. Rain had closed in over London, and her taxi sloshed along the almost deserted Cromwell Road, past one cavernous porch after another, the driver going slowly and poking his head out into the wet, for the hotel was not known to him. This discovery, that he did not know, had a little disconcerted Mrs Palefrey, for she did not know it either, and began to wonder what she was coming to. She tried to banish terror from her heart. She was alarmed at the threat of her own depression.

Dieses Buch ist der elfte und damit letzte Roman der britischen Autorin Elizabeth Taylor (1912 – 1975), der noch zu ihren Lebzeiten veröffentlicht wurde. Taylor wurde zwar schon immer von ihren SchriftstellerkollegInnen geschätzt, doch von der Öffentlichkeit erst in den letzten Jahren wirklich entdeckt. Robert McCrum nahm den Roman Mrs Palefrey at the Claremont sogar in seine Liste der 100 besten englischsprachigen Romane auf, die 2015 im Guardian veröffentlicht wurde und – wie immer bei solchen Listen – zu munteren Diskussionen und alternativen Vorschlägen führte.

Im Februar 2021 erschien unter dem Titel Mrs Taylor im Claremont im Dörlemann Verlag die Übersetzung von Bettina Abarbanell. Endlich – kann man da nur sagen; das war längst überfällig. Doch zurück zum Inhalt.

Da Mrs Palefrey, Witwe eines kolonialen Verwaltungsbeamten, nicht mehr besonders gut zu Fuß ist, überlegt sie, ob es nicht vernünftiger wäre, ihr Haus Rottingdean aufzugeben, in dem sie mit ihrem Mann Arthur nach dessen Pensionierung mehrere glückliche Jahre verbracht hat.

Und so beschließt sie, für ihre letzte Lebensetappe, die sie noch bei halbwegs guter Gesundheit verbringen kann, ein Hotel zu ihrem Wohnsitz zu machen. Ihre Wahl fällt auf das Londoner Claremont Hotel, das mit verbilligten Wintertarifen wirbt. Ein Wechsel, der verständlicherweise schmerzhaft ist.

She thought of Rottingdean, imagined it, with the leaves coming down – or down already – on the lawns, and this softness in the air; but at the very idea of ever going back there, her heart heeled over in pain. (S. 189)

Doch mit einer „stiff upper lip“-Haltung versucht sie vom ersten Tag an, ihre Traurigkeit über die neue Situation unter Kontrolle zu halten, was ihr nicht immer so recht gelingt, zumal die Beziehung zu ihrer in Schottland lebenden Tochter recht kühl und nichtssagend ist und ihr Enkel es kaum für nötig erachtet, sie überhaupt einmal im Hotel zu besuchen, obwohl er ebenfalls in London lebt.

The silence was strange – a Sunday-afternoon silence and strangeness; and for the moment her heart lurched, staggered in appalled despair, as it had done once before when she had suddenly realised, or suddenly could no longer not realise that her husband at death’s door was surely going through it. Against all hope, in the face of all her prayers. (S. 4)

Wir lernen auch die anderen Dauergäste kennen, einsame alte Menschen, nach Kontakten und Neuigkeiten dürstend, nahezu vergessen von der Welt, abhängig von den Launen der Verwandtschaft, die ab und an zur Gewissensberuhigung ihre Pflichtbesuche absolviert.

So kämpfen alle einen Kampf gegen die Verengung des eigenen Handlungsspielraums und gegen die Langeweile, in der sogar das Studieren des eintönigen Speiseplans eine willkommene Abwechslung darstellt.

… Mrs Palefrey considered the day ahead. The morning was to be filled in quite nicely; but the afternoon and evening made a long stretch. I must not wish my life away, she told herself; but she knew that, as she got older, she looked at her watch more often, and that it was always earlier than she had thought it would be. When she was young, it had always been later.

I could go to the Victoria and Albert Museum, she thought – yet had a feeling that this would be somehow deferred until another day. (S. 8)

Ein weiterer Feind ist die drohende körperliche Hinfälligkeit, denn alle wissen, dass sie das Hotel verlassen müssen, sobald sie gebrechlich oder gar inkontinent werden. Schon das Überqueren der Straße kann dabei ein Angst auslösender Vorgang sein, weil da kein Arm ist, der einen stützen könnte.

Eines Tages stürzt Mrs Palefrey auf einem ihrer Spaziergänge und lernt so den jungen mittellosen Schriftsteller Ludo kennen. Da sie sich schämt, dass ihr eigener Enkelsohn sie noch nicht besucht hat, gibt sie Ludo den anderen Mitbewohnern kurzerhand als ihren Enkel Desmond aus. Ludo spielt das Spiel in einer Mischung aus Langeweile und Mitleid mit, zumal er immer wieder Zitate und Situationen aus dieser Bekanntschaft als Material für sein Romanprojekt verwenden möchte.

Für Mrs Palefrey ist Ludo allerdings unwahrscheinlich wichtig, da er außerhalb der Hotelwelt der einzige ist, mit dem sie ab und an Kontakt hat.

Sprachlich superb. Als Ludo ihr ein Küsschen auf die Wange gibt, heißt es:

At the same time, he registered the strange, tired petal-softness of her skin, stored that away for future usefulness. And the old smell, which was too complex to describe yet. (S. 35)

Falls meine Notizen zum Inhalt ein bisschen dröge wirken, täuscht das, denn auch wenn der Roman natürlich kein Action-Thriller ist, lebt das Buch von einer inneren Spannung. Es ist fast unmöglich, sich der Einsamkeit des Alters, die hier ganz kühl und scheinbar beiläufig seziert wird, zu entziehen.

When she was young, she had had an image of herself to present to her new husband, whom she admired; then to herself, thirdly to the natives (I am an Englishwoman). Now, no one reflected the image of herself, and it seemed diminished … (S. 3)

Symptomatisch ist, dass nur an einer Stelle der Vorname der Hauptfigur genannt wird. Es gibt einfach niemanden mehr, der so vertraut mit Mrs. Palefrey ist, dass er sie mit ihrem Vornamen anreden könnte.

Und die Mitbewohner, mit denen Mrs Palefrey nun ihre Tage verbringt, werden ja nicht deshalb zu Freunden, nur weil man ihnen dauernd nahe ist. Im Gegenteil, spitze Bemerkungen werden ausgetauscht, Denkweisen und Temperamente, die früher nicht kompatibel gewesen wären, sind es auch jetzt nicht.

Manche kommen besser mit der Situation zurecht – dabei ist es hilfreich, wenn man geistig eher schlicht gestrickt ist -, andere schlechter. Der eine sieht einen Ausweg in der Illusion einer späten Ehe, der andere im Trinken. Die dritte in einer unablässigen Neugier.

Der ganze Handlungsstrang um Ludo, der ebenfalls einsam ist, hat mich persönlich weniger angesprochen. Viel interessanter fand ich die kühlen und genauen Beobachtungen, mit denen uns der Erzähler Mrs Palefrey nahebringt.

Although she felt too old to do so, she knew that she must soldier on, as Arthur might have put it, with this new life of her own. She would never again have anyone to turn to for help, to take her arm crossing a road, to comfort her; to listen to any news of hers, good or bad. She was helplessly exposed – to the idiosyncrasies of other old people, the winter coming on, her aches and pains and loneliness … (S. 189)

Aber wir sehen auch ihre Sehnsucht nach Gesehenwerden und ihre Herzlichkeit, mit der sie Ludo beschenkt. Ihr so menschlicher Wunsch nach Zuwendung. Manchmal finde ich ihre Fähigkeit zur Selbstreflektion und ihre – seltenen – Anflüge von Heiterkeit, in denen sie sich völlig unsentimental Rechenschaft über ihre Situation gibt, geradezu altersweise.

Als sie überlegt, dass sie – als ihr Mann noch lebte – das Glück ihrer langen Ehe als selbstverständlich ansah, ohne damals überhaupt verstanden zu haben, dass sie glücklich war, heißt es am Ende:

People are sorry for brides who lose their husbands early, from some accident, or war. And they should be sorry, Mrs Palefrey thought. But the other thing is worse. (S. 64)

Und am Ende habe ich auch verstanden, warum sie dann tatsächlich nie das Victoria and Albert Museum besucht hat.

Wer sich nun fragt, wer Elizabeth Taylor war und ob man noch mehr von ihr lesen sollte, der möge hier weiterlesen.

Marcelle Sauvageot: Fast ganz die Deine (OA 1934)

Fast ganz die Deine ist sicherlich schon von den Umständen der Entstehung her eine außergewöhnliche Auseinandersetzung mit einer unglücklich endenden Liebesbeziehung.

Wenn ein Schmerz unbekannt ist, hat man mehr Kraft, ihm zu widerstehen, denn man kennt seine Macht nicht; man sieht  nur den Kampf und hofft, daß es später wieder ein erfüllteres Leben geben wird. Doch wenn man Bescheid weiß, möchte man mit erhobenen Händen um Gnade flehen und voll fassungsloser Müdigkeit sagen: ‚Nicht noch einmal!‘ Man sieht all die leidvollen Phasen voraus, durch die man wird gehen müssen, und weiß, danach kommt die Leere. (S. 16)

Marcelle Sauvageot, die in Paris als Französischlehrerin arbeitete, erkrankte mit 26 Jahren an Tuberkulose und ging 1930 in ein Sanatorium, aus dem sie nach einigen Monaten als geheilt entlassen wurde. Doch die Krankheit brach drei Jahre später wieder aus. Es folgt ein erneuter Sanatoriumsaufenthalt, diesmal in Davos; als sie stirbt, ist sie erst 33 Jahre alt.

Ihr namenlos bleibender Geliebte schreibt ihr 1930, dass er nun doch eine andere heirate, aber ihr Freund bleiben wolle. Daraufhin antwortet Sauvageot aus dem Sanatorium mit einem langen, ca. 70-seitigen Brief, der zwischen dem 7. November und dem 24. Dezember 1930 entsteht. In ihm bemüht sie sich, diese Liebe, ihren Schmerz, das Wesen des Geliebten, ihren Illusionen und Hoffnungen sowie dem Scheitern der Beziehung auf den Grund zu gehen, doch abschicken wird sie den Brief nicht. Letztendlich ist es auch der Versuch, sich wieder ihrer Selbständigkeit zu vergewissern, indem der ehemals so Geliebte aus dem Herzen geschubst wird, in der Hoffnung, auf diese Weise wieder zur Ruhe zu kommen.

Diese Vergangenheitsform, wenn die Gegenwart noch so nah widerhallt, ist traurig wie das Ende von Festen, wenn die Lichter ausgehen, wenn man allein zurückbleibt und den Paaren nachblickt, die in die dunklen Straßen hinausgehen. Es ist zu Ende: Man hat nichts mehr zu erwarten und bleibt doch noch endlos so stehen, wohl wissend, daß nichts mehr kommen wird. (S. 21)

Allerdings zeigt sie den Brief einigen Freunden, die ihr zureden, ihn zu veröffentlichen.

163 Exemplare werden 1933 privat verteilt […]. Posthum kommt 1934 eine zweite Auflage zustande, gefolgt von weiteren Auflagen in weiteren Verlagen 1936, 1943, 1986. Paul Claudel, Paul Valéry, Clara Malraux und andere preisen den Text. Seine Individualität beeindruckt sie, seine Bescheidenheit und Offenheit berühren sie, seine radikale Ehrlichkeit und Suche machen ihn singulär. (Ulrike Drasner, im Nachwort der Ausgabe des Nagel & Kimche Verlages, 2005, S.94/95)

Draesner weist zu Recht darauf hin, dass es egal sei, ob diese Briefe möglicherweise im Nachhinein doch bearbeitet, umgestellt oder auch erfunden seien, der reale Adressat, dessen Untreue der Erzählerin durchaus bekannt war,  habe sich ja bereits als Fiktion herausgestellt.

Ihre Briefe an dieses Du werden zunehmend zu einer Form des Selbstgesprächs. Doch es schließt sich nicht in sich, sondern öffnet sich auf ein neues Gegenüber: den Leser. (S. 97)

Mein Fazit nach der Lektüre ist verhalten. Einerseits gefällt mir diese strenge Selbstbefragung, andererseits bleibt vieles Fragment und so sind mir auch am Ende sowohl diese Beziehung als auch der Adressat dieses Briefes fremd. Eine Liebe, bei der von Anfang an keiner der beiden treu war. Und ein Mann, der ernsthaft  von einer Frau träumt, die glücklich ist, wenn sie ihm den ganzen Tag beim Spucken in einen Teich beobachten dürfe. Das wäre wohl selbst unter glücklicheren Umständen nicht gutgegangen. Und schon ganz und gar nicht mit einer so reflektierten Frau. 

 

Wilma Stockenström: Der siebte Sinn ist der Schlaf (OA 1981)

Wie schreibt man über ein Buch, das man am besten ohne alle Vorkenntnisse und Erwartungen lesen sollte und das man, am Ende angekommen, gleich noch einmal von vorn beginnen möchte, um sich erneut den Verästelungen zu widmen, die man beim ersten Lesen vermutlich übersehen hat? Es beginnt mit den Sätzen:

Also mit Bitterkeit. Aber die habe ich mir verboten. Dann eben mit Spott, der umgänglicher ist, der sich durchschaubar macht und dem es gleichgültig ist; und wie ein Vogel im Nest kann ich in meinen Baumstamm zurückschlüpfen und in mich hineinlachen. Und ebenso gut still sein, vielleicht einfach still sein, um mich hinauszuträumen, denn der siebte Sinn ist der Schlaf. (S. 5)

Eine ehemalige Sklavin irgendwo in südafrikanischen Veld hat Zuflucht in einem hohlen Affenbrotbaum gefunden. Von dort aus sammelt sie die wenige Nahrung, von dort aus hat sie einen kleinen Trampelpfad zum Wasser ausgetreten, in respektvoller Distanz zu Pavianen und Elefanten. Von in der Nähe lebenden Angehörigen der „kleinen Menschen“ wird sie mit lebensnotwendiger Nahrung versorgt. Doch zu einer echten Kontaktaufnahme mit diesem Stamm kommt es nicht, schon die sprachlichen Hürden wären unüberwindlich. Frech behauptet sie, dass deren Sprache klinge, „als würden Eidechsen reden.“

Hier so ganz und gar allein und niemandem mehr untertan, breitet die Ich-Erzählerin in einem wellen- und kreisförmigen Monolog ihre Reflexionen und Erinnerungen aus.

In meiner Erinnerung kreuzen und verschlingen sich mehr Pfade, als ich je in meinem Leben gesehen habe. Welcher Fährte hätte ich nicht zu folgen vermocht, wäre es mir vergönnt gewesen, wäre mein Spürsinn nicht so häufig durchkreuzt worden und die Spur in mir im Sande verlaufen? (S. 9)

Wir erfahren von ihren Besitzern, dem unerträglichen Los der Sklaven und Sklavinnen, wobei die Erzählerin aufgrund ihrer Schönheit, Intelligenz und Anstelligkeit immer eine etwas bevorzugte und genau dadurch auch isolierte Position als Sexspielzeug und Kindermädchen innerhalb der Leibeigenen inne hatte. Auch ihr wurden die Kinder, die sie mit ihren Besitzern zeugen musste, weggenommen. Und immer wenn ein Besitzer starb, wurde ihre ohnehin fragile Identität wieder ausgelöscht, wurde sie verkauft. Ihren letzten Besitzer jedoch liebt sie und er nimmt sie mit auf eine Expedition ins Landesinnere, auf der man hofft, neue Handelswege zu erschließen.

Soweit vielleicht zu den dürren Fakten der Handlung. Aber was für ein Buch. Auf nur 148 Seiten geht es karg, poetisch und unaufdringlich eindrucksvoll um die ganz großen Themen: Würde und  menschliche Überheblichkeit, Grausamkeit, der Widersinn der Sklaverei, Gedankenlosigkeit und das Ringen um eine eigene Identität, eine eigene Sicht auf die Dinge. Ein Frauenleben unter Tausenden, dem kein Anrecht auf sich selbst zugestanden wurde, und dann – am Ende – im Schatten des Affenbrotbaums erhebt diese einsame Frau ihre Stimme, niemandem mehr untertan, klar, verspielt und würdevoll.

Manchmal, wenn ich mich am Fluss wasche, betrachte ich mein Spiegelbild prüfend in einem stillen Wasserloch und versuche herauszufinden, um wieviel ich älter geworden bin. Es ist nicht leicht, denn auch wenn wir beide, ich und das Wasser, noch so reglos sind, gibt es doch immer eine feine, gefältete Verzerrung meines Bildes, Wasserfältchen, die meine möglichen Altersfalten schmeichelhaft ersetzen. Ich werfe einen Kiesel in mich selbst. Ich schwinge grotesk auf und nieder und teile mich in Stücke. Ich ruheloses Etwas. Dann ziehe ich mich von meinem gespaltenen Selbst im Wasser zurück. Wie sich mein Geist abmüht. (S. 86)

Ich gebe zu, die ersten Seiten waren etwas mühsam, so fremdartig, so ohne Brücke in mein Leben. Aber nun, nachdem ich mich sozusagen dem Aufprall des Buches ausgesetzt habe, kann ich den Worten der Times Literary Supplement nur zustimmen:

Wilma Stockenströms bezwingendes Bild von Leiden und Gewalt wird zum Klassiker werden.

Der Roman der südafrikanischen Schriftstellerin, Übersetzerin und Schauspielerin Stockenström (*1933) wurde übrigens zunächst von Nobelpreisträger Coetzee vom Afrikaans ins Englische übersetzt und erschien 1983 unter dem Titel The Expedition to the Baobab tree.

Die deutsche Übersetzung von Renate Stendhal, die bereits in den achtziger Jahren erschien, beruht auf der Fassung von Coetzee. Neu aufgelegt wurde das Buch vom Wagenbach Verlag 2020.

Hier eine Fotostrecke zu den beeindruckenden Affenbrotbäumen.

 

Rónán Hession: Leonard and Hungry Paul (2019)

Was für ein feines, außergewöhnliches Buch. Ein klarer Fall für meine Kategorie der freundlichen Bücher.

Das Debüt des irischen Musikers Rónán Hession, der bisher nur Erzählungen veröffentlicht hatte, handelt von Leonhard und Hungry Paul, zwei ledigen Freunden in den Dreißigern, die so ziemlich das Gegenteil dessen verkörpern, was als momentan angesagt gelten könnte. Sie posen nicht auf Instagram – Hungry Paul hat noch nicht einmal ein Handy -, sie hatten weder eine traumatische Kindheit noch hatten sie je eine Freundin. Sie sind im menschlichen Miteinander ein wenig unbeholfen bzw. ungeübt und mögen weder größere Menschenansammlungen noch Smalltalk mit Fremden. Sie sind weder schlagfertig noch in irgendeiner Weise herausragend und im Grunde die, die normalerweise übersehen und überhört, bestenfalls etwas mitleidig belächelt werden. Genau deshalb sind sie aber auch unverbogen, verschwenden keine Energie auf Selbstdarstellung, sondern haben Zeit, sich ihren eigenen Interessen zu widmen und sich ihre eigenen Gedanken zu machen.

Leonhard, der beruflich Nachschlagewerke für Kinder schreibt und langsam die Nase voll hat von den seelenlos wie am Fließband entwickelten Büchern, hat gerade seine Mutter verloren, mit der er zusammengewohnt hat. Über sie heißt es:

She was a person for whom kindness was a very ordinary thing, who believed that the only acceptable excuse for not having a bird feeder in the back garden was that you had one in the front garden. (S. 2)

In der Trauer wird ihm bewusst, wie ruhig und einsam sein Leben ist.

He found book shops to be comforting places and book buying a comforting activity, but he was an absent-minded reader these days, the act of reading that much more solitary without his mother pottering around the house in the background. (S. 4)

Hungry Paul wohnt ebenfalls noch bei seinen Eltern  und ist – abgesehen von seinen Einsätzen als Ersatzbriefträger – im Grunde arbeitslos.

In truth, he never left home because his family was a happy one, and maybe it’s rarer than it ought to be that a person appreciates such things. (S. 6)

Abends besucht Leonhard oft seinen Freund und dessen Familie, dann wird geredet, ferngesehen und es werden Brettspiele gespielt.

Hungry Paul lived on a knife edge between a passion for board games and an aversion to instruction booklets. (S. 14)

Pauls Schwester Grace, die ein klein wenig zur Besserwisserei und zum Helfersysndrom neigt, steht kurz vor der Hochzeit mit Andrew und macht sich Sorgen, dass ihre Eltern sich durch die Fürsorge um Paul vielleicht um die Freiheit bringen, endlich ihren verdienten Ruhestand zu genießen. Hungry Paul wird derweil von seiner Mutter verdonnert, sie in Zukunft bei ihren ehrenamtlichen Besuchen im Krankenhaus zu begleiten. Da würde ich am liebsten gleich spoilern, wie das weitergeht. Aber nein, tue ich nicht.

Heimlich nimmt Paul außerdem an einem Wettbewerb teil, der ausgerufen wurde, um eine zeitgemäßere Schlussformel für die allgegenwärtigen E-Mails zu finden. Das wiederum führt zu einigen unvorhersehbaren Turbulenzen und Bekanntschaften.

Leonhard hingegen lernt zufällig in seinem Großraumbüro eine junge Frau kennen, was allerdings ebenfalls mit diversen Tücken und Fallstricken behaftet ist und ihn mehr als einmal heftig in die Bredouille bringt.

Diesen beiden bedächtigen freiwillig-unfreiwilligen Eigenbrötlern in ihrem unspektakulären Dasein folgen wir nun. Dass das streckenweise eher kunstlos und etwas spröde runtererzählt wird, hat nur selten gestört, da der Autor es durch freundlichen Humor, die Balance zwischen ernsten, leichten und schrägen Szenen und reizende Zwischenbemerkungen schafft, dass ich mir mehr Stellen angestrichen habe, als ich hier zitieren kann. Und vielleicht muss man diese Geschichte ja auch genau so erzählen, da der Stil zu den beiden Männern passt wie der Deckel auf die Dose.

Die beiden Freunde Leonhard und Hungry Paul werden dabei nicht als Freaks vorgeführt, sondern als rundherum glaubwürdige und würdige Charaktere geschildert, die man sofort in seinen Freundeskreis adoptieren möchte.

Paul sagt an einer Stelle über sich:

As you know, I have always been modestly Hippocratic in my instincts: I wish to do no harm. My preference has always been to stand back from the world. Much like the Green Cross Code, I like to stop, look and listen before getting involved in things. It has stood me well and kept me on peaceful terms with my fellow man. […] the trick is to know how much of the world to let in, without becoming overwhelmed. (S. 18/19)

Und dann könnte man sich abends mit ihnen die Zeit vertreiben bei Brettspielen und anregenden Gesprächen über den „Schrei“ von Munch, die Ausdehnung des Universum und den ganzen Rest. Und von ihnen lernen. Mit angemessenen Schweigepausen, versteht sich.

For the two friends, the bleaching of the coral reefs was as current as the latest general election; the discovery of new dwarf planets was as relevant as last night’s penalty shoot-out; and Marco Polo was discussed as others might gossip about the latest red carpet ingénue. (S. 15)

Mary Whipple fasst es auf ihrem Blog treffend zusammen, wenn sie schreibt:

With two main characters who have little to suggest that their stories will become the charming, funny, insightful, and un-put-down-able chronicles that eventually evolve, Irish author Rónán Hession demonstrates his own creativity and his own ideas regarding communication and its importance or lack of it in our lives.  He ignores the generations-old traditions of boisterous Irish writing and non-stop action in favor of a quiet, kindly, and highly original analysis of his characters and their unpretentious and self-contained lives.  In this way, he draws in his readers and makes them identify, however impossible that may seem, with two young men whose enjoyment of the small moments makes them less needful of communicating, especially with more worldly, socially active, and often less thoughtful people.

Hier geht’s lang zur Besprechung von Carrie O’Grady im Guardian.

Arnold Bennett: The Old Wives‘ Tale (1908)

Ursprünglich hatte ich The Old Wives‘ Tale von Arnold Bennett, veröffentlicht im Jahr 1908, nur rasch anlesen wollen, in der Hoffnung, mich zügig von einem miserabel gedruckten Taschenbuch mit zu kleiner Schrift zu verabschieden. Dumm gelaufen. Auch wenn die ersten Seiten gewöhnungsbedürftig waren und die Perspektive mir manchmal zu unorganisch zwischen distanziert-ironisch-allwissend und dann wieder psychologisch-feinfühlig wechselte, hatte mich Bennett (1867 – 1931) doch rasch am Haken mit seiner Geschichte um zwei Schwestern, die wir auf ihren Lebenswegen vom jungen Mädchen bis zur alten Frau begleiten. Dabei spielt die Handlung ungefähr zwischen den 1860ern und 1907.

Constance und Sophia Baines wachsen in der schmutzigen und rußigen Provinzstadt Bursley auf, unschwer erkennbar als das heutige Burslem im Pottery District (Staffordshire). Ihre Eltern betreiben ein gut gehendes  Textilwarengeschäft. Dem Wunsch Sophias, eine Lehrerinnenausbildung zu absolvieren und  sich damit aus der Enge des Ladens zu emanzipieren, stehen die Eltern verständnislos und ablehnend gegenüber, während Constance sich in dem engen Milieu wohlfühlt und ihr ganzes Leben in der Stadt und sogar im selben Haus wohnen wird. Gleichwohl hat Constance eine wache Auffassungsgabe und betrachtet sich und ihre Umwelt durchaus liebevoll kritisch, auch wenn ihr die religiösen und gesellschaftlichen Konventionen zeitlebens eine Stütze sind.

Unfortunately one might as well argue with a mule as with one’s soul. (S. 310)

Sophia hingegen wird ausbrechen, naiv und voller Selbstüberschätzung auf einen albernen Schuft hereinfallen und doch nicht unter die Räder kommen. Den Großteil ihres Lebens wird sie in Paris verbringen, in dem auch Bennett mehrere Jahre lebte, und dort ihren Weg gehen.

Im letzten und vielleicht aufregendsten Teil des Buches begegnen sich die Schwestern wieder. Sie sind inzwischen alt und der Leser/die Leserin zieht mit ihnen Bilanz über ihr Glück, ihr Unglück, ihre Ehen und vor allem über die unbarmherzig voranschreitende Zeit, die letztendlich alle vermeintlichen Unterschiede in ihren Lebenswegen einebnet.

Dass Bennett dabei sowohl die Geschichten der Nachbarn als auch die gesellschaftlichen Bedingungen und Veränderungen miteinbezieht, sei hier nur am Rande erwähnt, ist aber sicherlich einer der Aspekte, die dazu beigetragen haben dürften, dass das Buch heute von vielen als einer der Meilensteine des englischen Realismus angesehen wird.

Ewald Standop und Edgar Mertner schreiben in ihrer Englischen Literaturgeschichte (1983), nachdem sie einen kurzen Abriss des Inhalts gegeben haben:

Diese dürren Fakten lassen freilich das Wichtigste außer acht: das gewaltige Panorama des Lebens, das Bennett einzufangen versteht, die kleinen und großen Wechselfälle des Lebens, die Nichtigkeiten, die plötzlich Bedeutung gewinnen, aber auch außergewöhnliche Dinge wie die Beschießung von Paris. (S. 569)

Für John Wain ist die Qualität des Werkes, das Bennett trotz vielerlei anderer Verpflichtungen in nur elf Monaten fertigstellte, ebenfalls unstrittig. In seiner Einleitung zur Taschenbuchausgabe von 1983 nennt er drei Gründe, aus denen das Buch Anspruch auf Ruhm erheben könne:

It is one of the most successful attempts, if not the most successful, to rival in English the achievement of the French realistic novel […] It is one of the most complete and satisfying novels of English provincial life. And it is a standing proof that a writer of the male sex can write with real perception about the imaginative  and emotional lives of women.

In Tim Heads Vorwort der schönen Folio Society-Ausgabe von 2004 klingt das schon abgeklärter. Head ist sich bewusst, dass Bennett zur Zeit nicht besonders angesagt ist.  Doch auch er ist sich sicher:

The book is a life enhancer, and it would be a poor spirit which is not the better for reading it. (S. X)

In Englische Literaturgeschichte (2004) hingegen, herausgegeben von Hans Ulrich Seeber, taucht Bennett dann gar nicht mehr auf. Vom Meilenstein des englischen Realismus hin zum völligen Vergessenwerden. So schnell kann’s gehen …

Zum Abschluss noch eine kleine Lebensweisheit des Arztes, der Constance zu mehr Unternehmungslust überreden will:

I’m deeply attached to my bed in the morning, but I have to leave it. (S. 531)

Es macht mich grummelig, dass es anscheinend zurzeit keine deutsche lieferbare Ausgabe dieses Romans gibt. Jeder Blödsinn wird veröffentlicht, aber ein Klassiker über eine Zeit im Umbruch mit einer Fülle an unvergesslichen Charakteren wird nicht mehr verlegt? Und nur nach längerem Herumsuchen habe ich eine gebrauchte englische Ausgabe der Folio Society gefunden, die dann hoffentlich mein billiges Taschenbuch von 1990 ersetzen kann.

Fred Kaplan: Dickens: A Biography (1988)

Es ist doch erstaunlich, wie wenig zwei drei Wochen später manchmal noch von der Lektüre präsent ist, und das liegt keinesfalls immer am Buch.

An der Biografie zu Charles Dickens von Fed Kaplan (*1937) aus dem Jahr 1988 gibt es nämlich gar nichts zu meckern.

Sie ist, wie sich das gehört, chronologisch aufgebaut, enthält viele Zitate, ist umfassend recherchiert (mit Index über 600 Seiten) und selten langweilig – denn dafür, dass Charles Dickens (1812 – 1870)  ständig in geschäftlichen Verhandlungen unterwegs war und so dermaßen viele wichtige Menschen kannte  und ein äußert geselliger Geist war, kann Kaplan schließlich nichts.

Er zeigt immer wieder die Bezüge auf, die zwischen den Traumata der Kindheit des berühmten Schriftstellers, seinem späteren Leben mit seinem schier unglaublichen Arbeitseifer und seinen Werken bestehen. Vor allem gefiel mir, dass Kaplan sich eine eigene Meinung zugesteht, interpretiert und nicht in Heldenverehrung ertrinkt.

Dickens‘ Erfahrungen, als Junge aus der Schule genommen zu werden, um im Schaufenster einer Schuhfabrik eine als zutiefst demütigend empfundene Arbeit verrichten zu müssen, um damit die klammen Familienfinanzen – sein Vater saß zeitweise im Schuldgefängnis ein – zu entlasten, würden ihn für immer prägen, sowohl in seinem Arbeitsethos, aber auch in seinem Drang, keine Möglichkeit des Geldverdienens ungenutzt verstreichen zu lassen. Ein Leben lang würde er sich über seinen Vater und andere Familienmitglieder ärgern, die nicht mit Geld umgehen konnten und später öfter heimlich auf seinen Namen Schulden machten.

Später geht es um sein ungezügeltes Dominanzstreben Freunden und der Familie gegenüber (die Namen seiner Kinder hat allein er entschieden). Die Verachtung, die er seine Ehefrau immer deutlicher spüren ließ, der er übelnahm, dass sie 10 Kinder gebar und sich nicht gleichzeitig zu einer schlanken, ranken Seelengefährtin entwickeln mochte. Sein hässliches Verhalten im Scheidungskrieg, sein viktorianisch heuchlerisches Doppelleben mit einer Geliebten, da man gerade ihm, dem literarischen Verfechter des trauten Heims, eine Scheidung vermutlich übel genommen hätte.

Und dann seine Unrast, immer laufen zu müssen, kilometerweit, stundenlang, auch nachts, dann gern mit Freunden oder in Begleitung von Polizisten, um in den Slumvierteln der Städte das Leben zu studieren. Die Reiseleidenschaft, als er sich das leisten konnte, mit komplettem Hausstand monatelang in Italien oder Frankreich zu verweilen. Seine Begabung für die neu aufkommende Mode, Menschen zu hypnotisieren. Gern auch hübsche junge Frauen. Und auf seinen ausgedehnten Reisen versuchte er, wann immer möglich, auch die Krankenhäuser und die damals sogenannten Irrenanstalten (lunatic asylums) und Gefängnisse von innen zu sehen, um sich auf diese Weise ein Bild von den gesellschaftlichen Zuständen zu verschaffen.

Ebenfalls zu dieser Seite seines Charakters gehört sein lebenslanges soziales Engagement, mit dem er sich für die Verbesserung der Lebensbedingungen der Ärmsten der Armen einsetzte. Er wollte Bildung zugänglicher machen, protestierte gegen die Arbeitsbedingungen in den Kohleminen, in denen Kinderarbeit gang und gäbe war, unterstützte ein Haus,  in dem Frauen aus der Prostitution geholt werden sollten, und sprach sich nicht nur gegen die Sklaverei in Amerika, sondern auch gegen die öffentlichen Hinrichtungen in London aus, aus denen volksfestartige Spektakel gemacht wurden. Besonders erschütterten ihn die Gefängnisse in Amerika, in denen die Täter zu Einzelhaft verurteilt wurden und keinerlei Kontakt zu den Mithäftlingen haben durften. Kaplan schreibt, Dickens zitierend:

At the Eastern Penitentiary near Philadelphia he saw the solitary system in operation. On the one hand, it separated criminals from one another’s contaminating contact. On the other, it tortured long-term prisoners into mental anguish so severe that he felt he ’never in [his] life was more affected by anything which was not strictly [his] own grief‘ than by the ‚indescribable something‘ which he saw in such prisoners, ‚distantly resembling the attentive and sorrowful expression you see in the blind – which is never to be forgotten. … This slow and daily tampering with the mysteries of the brain‘ seemed to him ‚immeasurably worse than any torture of the body.‘ A prisoner in solitary confinement ‚is a man buried alive’… (S. 143)

Dickens‘ Theaterleienschaft ist eine weitere Facette dieses umtriebigen und ständig wie unter Strom stehenden Geistes. Er führte mit Freunden und Familienmitgliedern Stücke auf professionellem Niveau auf, zu denen man nur mit persönlicher Einladung zugelassen wurde. Schließlich seine berühmten Lesereisen, auf denen er mühelos Säle mit 2000 Zuhörern und sein Konto mit Reichtum füllte.

Und dann geht es natürlich auch um Dickens‘ verlegerische Aktivitäten, obwohl ihm ein akademischer Bildungshintergrund fehlte, seine streng geregelte Arbeitsweise; seine Empörung über die ungehobelten Amerikaner, die seine Werke in Raubdrucken nachdruckten und gar nicht verstehen mochten, wieso dem Herrn Dickens die Copyright-Verletzungen so zuwider waren.

Alles in allem ist Kaplans Buch ein überzeugender Begleiter, wenn man Dickens‘ gleichsam kometenhaften Aufstieg zum berühmtesten und erfolgreichsten britischen Schriftsteller des 19. Jahrhunderts nachvollziehen will. Und die ein oder andere Stelle, in der es um öde Gehaltsverhandlungen geht oder in denen man kurzzeitig den Überblick über seinen ausgedehnten Freundeskreis zu verlieren droht, kann man ja querlesen.

 

Mutboard – dankeschön!

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Letzte Woche kam hier also das von Teena Leitow gestaltete Board aus der Reihe ihrer Mutboards hier an. Ich bin erfreut, entzückt. Muss mich nur noch für den richtigen Platz an der richtigen Wand entscheiden.

Und nun überlege ich, was genau mich an diesem Board fasziniert. Ich mag die Hintergrundfarbe, klar. Die spielerische Zusammenstellung scheinbar nicht zusammengehöriger Dinge. Das Fröhliche. Das alte Holzpferdchen aus Teenas Kindheit, das mich an die schwedischen Dala-Pferde erinnert, auch wenn die mir inzwischen oft zu glatt sind.

Die Schlüssel, ebenfalls alt, aus der Tischlerwerkstatt von Teenas Großvater, zu denen man so schön assoziieren kann. Schlüssel sind immer gut. Und passen ja auch gleich zu meiner Vorliebe für besondere Türen.

Die Freiheit, falls man das möchte, das Board auch umgestalten zu können.

Dazu fiel mir eine Ausstellung in Wien ein, in der ich zum ersten Mal Werken von Joseph Cornell (1903 – 1972) begegnete. Der hat u. a. kleine Kästen gebaut und die mit Flohmarktfundstücken, Bildern, Karten, Steinen, Sand und Gläsern etc. gefüllt. Und heute stehen diese Boxen des scheuen Künstlers in den großen Museen der Welt.

Hier noch ein Beispiel für Cornells Kunst oder hier die Trade Winds. Besonders mag ich auch den kleinen Schwan auf dem Spiegel.

Und irgendwie bekomme ich jetzt Lust, mir selbst eine Holzbox oder einen Rahmen zu besorgen und ganz dilettantisch selbstvergesssen Setzkastennippes, Vasen und Dosen, Whiskyfläschen, Spielzeug, Karten, Bilder, Schnickschnack und Mitbringsel, Steine und Muscheln zusammenzubringen und mich dran zu freuen. Danke, Teena!

 

Kleine Krimi-Tüte mit Wentworth und Cotterill

Colin Cotterill: The Coroner’s Lunch (2004)

Der erste Band The Coroner’s Lunch (2004) aus der Reihe um Dr. Siri Paiboun, den einzigen Rechtsmediziner in Laos, hat mir richtig gut gefallen. 2008 erschien die deutsche Übersetzung von Thomas Mohr unter dem Titel Dr. Siri und seine Toten.

Nicht nur die Hauptfigur, der renitente 72-jährige Arzt Siri Paiboun, ist hinreißend sympathisch gezeichnet. Dieser wird nach der kommunistischen Machtergreifung 1975 als Rechtsmediziner zwangsrekrutiert, obwohl er sich eigentlich nach Studium in Frankreich und Jahrzehnte langen Kämpfen im Dschungel von Vietnam auf seinen Ruhestand gefreut hatte. Stattdessen muss er sich nun in dem kommunistischen Land mit Mangelverwaltung, obereifrigen Vorgesetzten, Behördenwillkür und unliebsamen Erinnerungen herumärgern.

After seventy-two years, he’d seen so many hardships that he’d reached the calmness of an astronaut bobbing about space. Although he wasn’t much better at Buddhism than he was at communism, he seemed able to meditate himself away from anger. Nobody could recall him losing his temper. (S. 13)

Neben dem trockenen Humor, Siris Freunden und einem beachtlich verzwickten Fall um den Tod einer hohen Parteifunktionärin hat mich gerade der Schauplatz überzeugt: Laos, ein Land, von dem ich nun wirklich so nahezu gar nichts wusste.

Auf dem Blog Schöner Schein gibt es einen Artikel zum Autor.

Der Krimi macht Lust, sich über das Buch hinaus mit der Geschichte des Landes und seiner Kultur zu beschäftigen. Dabei lernt man dann nicht nur, dass Laos eines der am heftigsten bombardierten Länder ist, wurde es doch in den Krieg zwischen kommunistischen und antikommunistischen Mächten hineingezogen. Das wiederum hat Auswirkungen bis heute, liegt doch ein großer Teil der Bomben und Minen bis heute im Boden.

Aber daneben gibt es unter anderem auch die Ebene der Steinkrüge. Wie faszinierend.  Hunderte von großen Steinkrügen, zum Teil über 200o Jahre alt und seit 2019 UNESCO-Weltkulturerbe.

Patricia Wentworth: The Case is Closed (1937)

So wie ich von Cotterills Krimi angetan war, so war ich von dem ersten Krimi um die ältere Ermittlerin Miss Silver zunehmend genervt. Dabei fing The Case is closed (1937) von Patricia Wentworth ganz vielversprechend an. Witzig, unterhaltsam. Ein bisschen screwball-comedy-mäßig.

Hilary Carew sat in the wrong train and thought bitterly about Henry. It was Henry’s fault that she was in the wrong train – indisputably, incontrovertibly, and absolutely Henry’s fault, because if she hadn’t seen him stalking  along the platform with that air, so peculiarly Henryish, of having bought it and being firmly  determined to see that it behaved itself, she wouldn’t have lost her nerve and bolted into the nearest carriage. (S. 3)

Hilarys Freundin Marion Grey ist schwer vom Schicksal getroffen. War Marion vor kurzem noch eine bezaubernde glückliche Ehefrau, so muss sie sich allmählich mit dem grauenhaften Gedanken abfinden, dass ihr Mann, der schuldig gesprochen wurde, seinen wohlhabenden Onkel umgebracht zu haben, wohl Jahrzehnte im Gefängnis bleiben wird und dies – wenn überhaupt – nur als gebrochener Mann verlassen wird.

Doch Hilary Carew, die beste Freundin und Mitbwohnerin Marions, trifft zufällig in einem Zug auf eine ältere, verhärmte Frau, die ihr Dinge zuflüstert, die andeuten, dass im Prozess möglicherweise nicht alle Fakten auf den Tisch gekommen sind.

Zum einen hat mich an dem Krimi gestört, dass Miss Silver erst sehr spät ihren Auftritt hat – ist das in den Folgebänden ähnlich? Doch was ich wirklich nicht mehr unterhaltsam finden konnte, sondern mir den letzten Nerv geraubt hat, war Hilary. Ihre hanebüchene Naivität und Selbstverständlichkeit, mit der sie ständig dem möglicherweise wahren Mörder in die Arme läuft, waren auch mit ihrem zarten Alter von 22 Jahren nicht zu entschuldigen. 

Rückblick auf das Lesejahr 2020

Wie immer will ich auch heute einen Blick auf das vergangene Lesejahr werfen, bevor ich mir dann die immerneue Frage stelle, was ich als nächstes aus dem Regal ziehe.

Nachdem wir in den letzten Jahren hellhöriger geworden sind bezüglich der Frage, wie wir Autorinnen im Vergleich zu Autoren wahrnehmen, kann ich vermelden, dass ich – wenn auch nur mit kleinem Vorsprung – mehr Bücher von Frauen als von Männern gelesen habe. Das entscheidende Auswahlkriterium ist das allerdings nach wie vor nicht für mich.

Und die einzigen Bücher, die ich allesamt mit Begeisterung wiedergelesen habe, stammen diesmal ausschließlich von Männern:

Die güldene Himbeere für die hässlichsten Cover teilen sich

  • Sigrid Nunez: The Friend (2018)
  • Colin Cotterill: The Coroner’s Lunch (2004)

Enttäuschend fand ich

  • Susanna Clarke: Piranesi (2020) Zwar hatte ich das eindrückliche Gefühl, zusammen mit der Hauptfigur durch diese labyrinthisch-seltsame Welt zu laufen, allerdings empfand ich diese Welt als beklemmend, ja, als alptraumartig. Ich habe mich beim Lesen unwohl gefühlt. Doch vor allem erschien mir die Auflösung nicht überzeugend, nicht tragfähig genug.
  • Thomas Hettche: Herzfaden (2020) – Die Kritiker schrieben ja geradezu verzweifelt herbei, wie genial dieses Buch sei. Ich hielt es für grandios überschätzt.

Folgende Krimis fand ich prima, d. h. eher unterhaltsam, nicht zu brutal, gern auch humorvoll:

Freundliche Bücher

Es wird Zeit für eine neue Kategorie, die nenne ich jetzt einfach mal freundliche Bücher, Bücher, die Menschenzugewandtheit ausstrahlen, mögen zwar Spuren von Nostalgie enthalten, aber die Grundhaltung ist vor allem eine Mischung von Freundlichkeit, Warmherzigkeit, Anständigkeit, Bescheidenheit (keinesfalls zu verwechseln mit Sentimentalität oder Plattheit), hier also einige freundliche Bücher:

Es gibt Bücher, die gefielen mir, und doch waren sie nur wenige Tage später schon fast nicht mehr abrufbar und verflüchtigten sich,  diese Romane jedoch blieben mir im Gedächtnis:

Frauenleben

Krankheit

  • Werner Schneyder: Krebs (2008)

Kultur

Natur und Reisen

Nationalsozialismus

Und den tiefsten Eindruck hinterlassen haben

  • Natsume Sōseki: The Gate (OA 1910)
  • Caradog Prichard: one moonlit night (OA 1961). Ein Monolith in der Landschaft der Literatur.

Bleibt in diesem Jahr alle wohlauf und habt immer ein gutes Buch anbei.

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Charles Dickens: Great Expectations (1861)

Ich hoffe sehr, dass ihr alle wohl und behütet ins neue Jahr gekommen seid!

Beginnen wir das Blogjahr mal nicht mit dem eigentlich obligatorischen Rückblick, sondern mit etwas anderem. Mir war mal wieder klassisch zumute, also tat ich, was man viel öfter tun sollte, und griff beherzt zum 13. Roman von Charles Dickens (1812 – 1870), der zunächst als Fortsetzungsroman in Dickens eigener Zeitschrift erschien, bevor er dann 1861 als Buch veröffentlicht wurde.

Die Geschichte wird uns von Pip selbst erzählt und beginnt, als er ein ca. siebenjähriger Waisenjunge ist, der bei seiner ständig prügelnden Schwester und deren herzensgutem, aber wenig durchsetzungsfähigen Mann Joe Gargery, einem Schmied aufwächst. Eine Familienkonstellation, deren Wurzeln wie bei so vielen der Dickens‘schen Protagonisten in der katastrophalen Kindheit Dickens liegen.

Mrs. Joe was a very clean housekeeper, but had an exquisite art of making her cleanliness more uncomfortable and unacceptable than dirt itself. Cleanliness is next to Godliness, and some people do the same by their religion. (S. 20, Ausgabe der Everyman’s Library)

Eines Abends, als er auf dem Kirchhof die Gräber seiner Eltern und verstorbenen Geschwister besucht, wird er fast zu Tode erschreckt von einem Sträfling, der von einem der an der Küste liegenden Gefängnisschiffe geflohen ist. Der namenlose Gefangene bringt den verängstigten Jungen dazu, ihn nicht zu verraten und ihm Nahrung und eine Feile aus der Schmiede zu bringen, sodass er sich von den Ketten befreien kann.

Später wird Pip als eine Art Unterhaltungsspielzeug von der durchgeknallten Miss Havisham in ihr Haus eingeladen, die das Verschwinden ihres treulosen Bräutigams am Tag der geplanten Hochzeit nie verwunden hat. Dort lernt er die junge und hinreißend schöne Estella, die Adoptivtochter Miss Havishams, kennen. Er verliebt sich unsterblich in sie, obwohl ihm bewusst ist, dass sie seine Gefühle nicht erwidert und überhaupt seltsam gefühltskalt ist.

I never  had one hour’s happiness in her society, and yet my mind all round the four-and-twenty hours was harping on the happiness of having her with me unto death. (S. 287)

Irgendwann erfährt Pip, dass ihm ein anonymer Gönner  finanziell dazu verhelfen will, ein Gentleman zu werden. Da sein ganzes Trachten danach ausgerichtet ist, Estella für sich zu gewinnen und er sich seiner ärmlichen und ungebildeten Herkunft schämt, nimmt er das Angebot, nach London zu ziehen und dort zum Gentleman zu werden (ohne sich bewusst zu machen, was genau das sein soll), mit Freude an. Er weiß, solange er grobe Arbeitsschuhe trägt und seine Hände von körperlicher Arbeit zeugen, wird Estella ihn niemals ernsthaft als Ehemann in Erwägung ziehen.

Wie er dann in London an echte und falsche Freunde gerät, ein Snob wird, der seinen besten Freund noch fast mit in den Abgrund reißt und trotz allem im Laufe der spannenden Handlung, bei der sich die vielen Fäden allmählich entwirren, doch zu einem verantwortlich handelnden Erwachsenen wird, das ist alles ganz großes Kino. (Über den mehrdeutigen Schluss mit seinem Anklang von Kitsch, den Dickens eigentlich gar nicht geplant hatte, gehen wir jetzt mal großzügig hinweg.)

Also: Trotz aller Übertreibungen und Überspitzungen und mancher Schwarzweißmalerei ist der Roman, der heute als einer der besten Romane Dickens und als ein Meilenstein der englischen Literatur gilt, ein pralles Sittengemälde mit unvergesslichen Charakteren und Szenen, ein Beweis, dass Dickens ein großartiger und oft genug spöttischer Erzähler ist. Wer könnte sich den ersten Seiten und des kindlichen Schreckens erwehren und nicht wissen wollen, wie die Geschichte weitergeht?

Was mich beim Wiederlesen beeindruckte, war die Feinfühligkeit, mit der Dickens hier seine Hauptfigur gezeichnet hat. Wie Pip sich seiner Herkunft schämt, seinen liebevollen Stiefvater verleugnet, obwohl dieser ihm immer nur Gutes getan hat, wie er vor sich selbst immer wieder Ausreden und Beschönigungen für sein Verhalten findet und zum unsicheren Snob wird, der sich zunächst maßlos verschuldet und nur über einen sehr wackligen inneren Kompass verfügt. Sowohl bei den Schauplätzen als auch bei zahlreichen Nebencharakteren hat man oft schon nach wenigen Sätzen ein Bild vor Augen, da Dickens so bildhaft erzählt:

Bentley Drummle, who was so sulky a fellow that he even took up a book as if its writer had done him an injury, did not take up an acquaintance in a more agreeable spirit. S. 192)

Die bitteren Seitenhiebe auf die gesellschaftlichen Bedingungen sind ebenfalls beeindruckend; mir gefiel zum Beispiel sehr, wie Dickens anhand der Figur des John Wemmick, der für den Anwalt Jaggers arbeitet, zeigt, wie sehr die Arbeitswelt einen zwingt, eine Rolle zu spielen, die mit der Person, die man privat ist, überhaupt nichts mehr zu tun hat.

Daneben geht es aber auch um die Leichtigkeit, mit der man das Recht beugen kann, wenn man die entsprechenden finanziellen Mittel hat, die Unmöglichkeit, als Kind aus einer armen Familie auch nur eine halbwegs vernünftige Bildung zu bekommen, die Heuchelei und Speichelleckerei derjenigen, die Pip, als er als vermögend gilt, hofieren, sich zu seinen besten Freunden erklären und ihn im nächsten Moment, ohne mit der Wimper zu zucken, fallen lassen würden. Und vor allem die Aussichtslosigkeit, sich auf redliche Weise seinen Lebensunterhalt zu verdienen, wenn man nie die Chance dazu bekommen hat, sowie die Lässigkeit, mit der England unliebsame Menschen – manchmal reichte schon ein gestohlener Brotlaib – nach Australien deportiert hat, sind mit einer Wucht geschildert, die die Leser damals sicherlich auch emotionalisieren und politisieren sollte.

Eine Facette gibt es allerdings, die an Dickens immer wieder irritiert, seine Unfähigkeit oder Unwilligkeit, glaubhafte Frauengestalten zu entwerfen. Sie sind entweder so überirdisch gut, dass sie als engelhafte und unkörperliche  Wesen den Weg des Mannes erhellen sollen und sind dementsprechend zum Gähnen, oder sie sind ausschließlich rabiate Wüteriche wie Pips Schwester. Eine weitere Variante ist die untüchtige und verwöhnte Ehefrau, die dem wackeren Ehemann nur ein Klotz am Bein ist. Übrigens nur einer der Aspekte, bei denen die Hintergrundinformationen aus Fred Kaplans Biografie von 1988 ganz erhellend sind.

Be that as it may, he [Mrs. Pockets Vater] had directed Mrs. Pocket to be brought up from cradle as one who in the nature of things must marry a title, and who was to be guarded from the aquisition of plebeian domestic knowledge. So successful a watch and ward had been established over the young lady by this judicious parent, that she had grown up highly ornamental, but perfectly helpless and useless. (S. 178)

Yoko Ogawa: The Memory Police (OA 1994)

Nach kurzen Anlaufproblemen war es schwierig, sich dem dystopischen Roman von Yoko Ogawa (*1962) zu entziehen, obwohl man auf den ersten Blick gar nicht genau sagen kann, woran das liegt, weil er so ruhig und unaufgeregt daherkommt. Ein Kritiker verglich seine Leseerfahrung des Werks, das bereits 1994 erschien, es aber erst 2020 in der englischen Übersetzung auf die Shortlist des International Booker Prizes schaffte, mit dem Fallen in eine Schneewehe. Das trifft es ganz nett. Die deutsche Übersetzung Insel der verlorenen Erinnerung (2020) stammt von Sabine Mangold.

Auf einer namentlich nicht genannten Insel herrscht eine Diktatur, auf deren Ideologie und oberste Machthaber nicht weiter eingegangen wird. Die Bevölkerung bekommt nur die Gedächtnispolizei zu Gesicht, die in ihrem Gehabe, ihren warmen Mänteln an die Gestapo erinnert. Zunächst agiert sie nur in der Nacht, eher unauffällig, wenn sie Wohnungen und Häuser durchsuchen und Dissidenten abholen, doch im Laufe der Zeit tritt die Gedächtnispolizei immer öffentlicher, immer brutaler auf. Ihr besonderes Augenmerk gilt jenen, die nicht vergessen können, was vom Regime als vergessenswert deklariert wurde. Auch die Mutter der Ich-Erzählerin wurde von der Gedächtnispolizei unter einem Vorwand abgeholt.

Die Bewohner haben sich daran gewöhnt, dass sie an manchen Morgen aufwachen und spüren, dass wieder etwas dem Vergessen überantwortet wurde. Als die Ich-Erzählerin, eine junge Schriftstellerin, die bereits beide Eltern verloren hat, noch ein Kind war, hat ihre Mutter erklärt:

It doesn’t hurt, and you won’t even be particularly sad. One morning you’ll simply wake up and it will be over, before you’ve even realized. Lying still, eyes closed, ears pricked, trying to sense the flow of the morning air, you’ll feel that something has changed from the night before, and you’ll know, that something has been disappeared from the island. (S. 3)

Nach einem solchen Verschwinden betrauern die Bewohner kurz den Verlust, versuchen einander zu trösten und verbrennen oder vernichten auf Geheiß der Gedächtnispolizei alle eventuell noch verbliebenen Gegenstände, die es ab sofort nicht mehr geben wird.

But no one makes much of a fuss, and it’s over in a few days. Soon enough, things are back to normal, as though nothing has happened, and no one can even recall what it was that disappeared. (S. 4)

Wie in jeder Dikatatur fängt das Elend mit kleineren Einschränkungen an, zunächst verschwinden Dinge wie Parfüm oder Edelsteine, doch dann werden die Verluste größer, das Leben ärmer. Und mehr und mehr Menschen sind auf der Flucht vor der Polizei, verstecken sich im Untergrund. Vor allem diejenigen, bei denen der verordnete Gedächtnisverlust nicht funktioniert.

Als der Verleger ihrer kleinen Romane plötzlich in Gefahr steht, verhaftet zu werden, nimmt die Schriftstellerin ihn zu sich und versteckt ihn in einem Zwischenraum in ihrem Haus, den man gut tarnen kann und den sie zuvor mit ihrem einzigen Vertrauten, dem ehemaligen Fährmann, entsprechend technisch hergerichtet hat.

Im weiteren Verlauf wird geradezu gemächlich, manchmal auch mit der ein oder anderen Länge, das Schicksal dieser kleinen Gemeinschaft, ihre Gefährdungen und ihre kleinen Triumphe, erzählt. Doch vor allem schreiten die Verluste fort; eines Tages fehlen die Vögel, die Nachbarn werden verhaftet, die Rosen sind eines Morgens weg. Die Welt, aber auch die Erinnerungen der Menschen werden stetig ärmer, stiller, grauer und enger. Die Bücher verschwinden. Und das ist längst noch nicht das Ende des staatlich verordneten Verschwindens. Der Aufstand bleibt aus. Die Menschen im Untergrund haben keine Möglichkeit, sich zu vernetzen. Die Wege nach draußen, fort von der Insel, sind versperrt.

People – and I’m no exception – seem capable of forgetting almost anything, much as if our island were unable to float in anything but an expanse of totally empty sea. (S. 11)

Wem kann man noch vertrauen? Was macht das mit den Menschen, auch mit dem Verleger, der seine Frau und ein kleines Kind zurückgelassen hat?

Mir hat gefallen, wie hier vom Wesen einer Diktatur, der um sich greifenden Vereinsamung, der Angst und Hilflosigkeit, den Beschwichtigungen und der fehlenden Wachheit, bereits den Anfängen zu wehren, parabelhaft erzählt wurde. Und eine hat zumindest heimlich Zeugnis abgelegt, die junge Ich-Erzählerin.

Interessant fand ich die Kritik von Lea Schneider aus der Süddeutschen Zeitung. Ich würde ihr recht geben, dass an manchen Stellen arg dick aufgetragen wurde. Und natürlich wäre es illusorisch zu glauben, dass man – selbst im Versteck – ungeschoren davonkommt oder dass es ausreicht, eine Diktatur auszusitzen. Doch ihr verärgerter Vorwurf, die Parabel sei in ihrem vorhersehbaren „Rückzug in die Nostalgie für eine aggressiv verniedlichte Version der ‚guten, alten Zeit’“ – Computer und Handys fehlten ja gänzlich – ungeeignet als Kommentar zur Gegenwart, erschließt sich nun überhaupt nicht.

Sabine von Binge Reading hat den Roman ebenfalls gelesen.

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Jürgen Hosemann: Das Meer am 31. August (2020)

Der sehr fein in Blau gestaltete Band aus dem Berenberg Verlag, das Debüt des Lektors und Herausgebers Jürgen Hosemann, gefiel mir von der Grundidee her zunächst sehr.

Der Ich-Erzähler, im Urlaub unterwegs mit Gattin und Tochter, beschließt, in einem kleinen Badeort an der Adriaküste in der Nähe von Triest 24 Stunden lang allein am Meer zu sitzen.

Als die Reinigungsfahrzeuge abrückten, erschien der Strand trotz der langen Reihen von Sonnenschirmen, Liegen und Badekabinen völlig leer. Als müsste man jeden Augenblick damit rechnen, dass sich dort etwas ereignete. Alles schien vorbereitet, aber wofür? Es gab auch keine Zuschauer, außer mir war niemand da, der sich dafür interessierte. Zeit breitete sich vor mir aus, saubere, unbeschriebene Zeit. Der Tag würde sich hier ereignen. (S. 15)

Seine Erwartungen sind alles andere als bescheiden:

Ich hatte die Hoffnung, dass sich in der Leere und Weite die Gedanken und Phantasien besonders gut ausbreiten konnten und dass man, weil nichts den Blick verstellte, hier alles sehen konnte. Dass mit etwas Glück das Meer einer jener Orte war, an denen der Blick, vom Wasserspiegel reflektiert, auf einen selbst zurückfallen würde. (S. 24)

Doch dass er sich dafür ausgerechnet einen belebten Badestrand mitten im Ort aussucht, an dem frühmorgens zwei Radlader den Strand herrichten, unzählige Liegen ausgerichtet und die Sonnenschirme geöffnet werden müssen, fand ich eher bizarr.

Und so lesen wir, wie sich die Farben des Himmels verändern, welche Passanten an ihm vorbeiflanieren oder wie die Menschen aussehen, die eine Runde schwimmen gehen, wie der Tag zunehmend heißer wird und der Erzähler hin und wieder ins nahe gelegene Café geht oder sich ärgert, dass er grauslich bunte und überzuckerte Limonade gegen den Durst gekauft hat. Und abends kommen die Teenager mit ihren Handys.

Zwar gibt es immer wieder zitierenswert traumschön formulierte Sätze und wir wünschen uns sicherlich alle hin und wieder Zeiten und Tage, an denen wir so entschleunigt und behutsam dem Treiben um uns herum zuschauen und – falls nötig – im wahrsten Sinne zur Besinnung kommen könnten:

Der Wind so sachte, als schiebe er ein Mädchen auf einem Kinderfahrrad (S. 55)

Allerdings ist nicht jede Beobachtung automatisch bedeutungsvoll, was den Erzähler aber nicht daran hindert, sie uns mitzuteilen. Und wer nun auf besondere Erinnerungen, tiefe Erkenntnisse oder überhaupt auf irgendetwas hofft, wird enttäuscht. Auch der Erzähler selbst merkt zwischendurch, dass sich nicht alle Erwartungen an seinen Tag am Meer erfüllen. Fast klingt es wie eine Mahnung:

Ich halte es für möglich, am Meer zu sein und es nicht zu sehen.

Manchmal wird ihm langweilig, er weiß nicht, wohin mit all der Zeit, beobachtet die Wolken, die Möwen, kontrolliert, ob seine Armbanduhr oder sein Handy schneller geht, freut sich, als ihm ein kleines Mädchen begegnet, wiegt minutenlang die Limonadenflasche in den Händen und fragt sich, was passiert, wenn nichts passiert.

Langweilte mich mein großartiger Plan, mich einen Tag und eine Nacht ans Meer zu setzen, in dem ich jetzt etwas Verbissenes und Verbohrtes erkannte, eine besonders prätentiöse Weise, mich meiner sozialen Verpflichtungen zu entziehen? (S. 65)

Insgeheim staunte ich darüber, wie lange man am Meer sitzen und wie wenig einem dabei auffallen konnte. (S. 84)

Vielleicht hätte ich lieber gelesen, wie der Erzähler einen Urlaubstag mit seiner Familie verbringt, möglicherweise hätte ich auch gleich Ænglisch von Sarah Kirsch wiederlesen sollen.

Hier eine ganz andere Lesart von Constanze auf Zeichen & Zeiten.

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